Johannes 19,38-42

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Johannes 19,38-42

unfertig | Karsamstag | 08.04.2023 |Joh 19, 38-42 | Nadja Papis |

Der Karsamstag – so ein Tag dazwischen, zwischen den wirklich wichtigen Tagen, zwischen Karfreitag und Ostersonntag, zwischen Kreuz und Auferstehung.

Am Karsamstag ist es bei uns in der Familie Tradition, die Osterdekoration aufzuhängen. Ja, wir warten wirklich bis zum Karsamstag, bevor wir die Zweige für den Osterbaum schneiden und ins Wasser stellen, farbige Bänder daran binden, Holzeier, kleine Häschen und Schafe aufstellen und Eier für den Osterbrunch färben. Am Karsamstag bereiten wir uns also vor – im Wissen darum, dass es noch nicht ganz Ostern ist, aber auch im Wissen darum, dass Ostern kommt nach dem Karfreitag, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Dieser Tag ist wie eine Zwischenzeit, schon, aber noch nicht ganz. Es ist nicht das Gefühl von «mittendrin», eher das von «unfertig».

Der heutige Predigttext steht in Joh 19, 38-42: Josef von Arimatäa, der ein Jünger Jesu war – ein heimlicher zwar aus Furcht vor den Juden – , bat Pilatus, dass er denn Leib Jesu herabnehmen dürfe; und Pilatus erlaubte es. Also ging er und nahm seinen Leib herab. Es kam auch Nikodemus, der früher einmal nachts zu ihm gekommen war, und brachte eine Mischung aus Myrrhe und Aloe mit, etwa hundert Pfund. Sie nahmen nun den Leib Jesu und wickelten ihn zsuammen mit den wohlriechenden Salben in Leinenbinden ein, wie es bei einem jüdischen Begräbnis Siite ist. Es war aber an dem Ort, wo er gekreuzigt worden war, ein Garten, und in dem Garten ein neues Grab in das noch niemand gelegt worden war. Dort nun legten sie Jesus hin, weil die Juden Rüsttag hatten und das Grab in der Nähe lag.

Das Begräbnis Jesu… Ein sorgfältiges, würdiges Begräbnis – gemäss den damaligen jüdischen Sitten mit Duftstoffen, dem liebevollen Einbinden des Leichnams und einem ganz neuen, unbenutzten Grab in einem Garten. Die Sorgfalt und Würde wird vom Evangelist Johannes betont, er beschreibt sie detailliert. Das neue, noch nie benutzte und somit ungeteilte Grab entspricht der Einzigartigkeit Jesu. Joseph und Nikodemus sind einflussreiche und wohlhabende Bürger mit Zugang zu Pilatus, die sich nun nicht mehr nur heimlich oder nachts zur Bewegung des Messias bekennen, sondern offen als Jünger auftreten und ihrem toten Meister Ehre erweisen.

Alles ist erledigt, gut und würdig erledigt und doch noch nicht fertig. Diese Situation kennen viele Trauernde, auch heute. Eigentlich, so müsste man meinen, ist mit dem Tod alles fertig, spätestens nach der anständigen Beerdigung geht doch das Leben weiter. Nein, das Gefühl vieler trauernder Menschen ist ein ganz anders. So vieles geht einfach weiter und ich bleib stehen, kann nicht, ja, nicht einen Schritt mitgehen. Für mich ist noch gar nichts fertig und zu Ende, viel zu intensiv sind die Gefühle, die mich durchschütteln, viel zu stark ist die Verbundenheit, die nun einfach so abgebrochen sein soll. Und doch weiss ich genau: Es ist nun anders. Dieser Mensch fehlt und wird immer fehlen. Die Lücke macht sprachlos, hilflos, fast handlungsunfähig, obwohl es so viel zu tun gibt. Zumindest ein anständiges, würdiges Begräbnis… Es ist nicht das Gefühl von «mittendrin», eher das von «unfertig».

Auf der Suche nach Inspiration habe ich mich der Kunstgeschichte zugewandt, all den vielen Darstellungen der Grablegung Christi. Überall dieser bleiche, geschundene Leichnam, spärlich bedeckt, Blut, Wunden, Dornenkrone, trauernde und huldigende Menschen rundherum. Beim Scrollen bin ich auf das unvollendete Altarbild von Michelangelo gestossen (Die Grablegung Christi, Michelangelo Buonarroti, National Gallery London). In der Mitte wie bei den meisten Gemälden zur Grablegung der Leichnam Jesu, um ihn herum fünf Gestalten, drei davon tragen ihn. Wer sind sie? Es wird angenommen, dass der Evangelist Johannes auf der linken Seite steht und hinten der im Bibeltext beschriebene Joseph von Arimatäa. Die dritte Figur, welche auf der rechten Seite des Leichnams die Binden hält, ist schwieriger zu identifizieren, nicht einmal sicher ist es, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Vielleicht Nikodemus, der ja ebenfalls in unserem Text vorkommt, vielleicht auch Maria aus Magdala oder eine andere der Frauen, die in der Nähe waren. Zwei weitere Frauen sind da, eine untersucht die Nägel und die Dornenkrone. Und vorne rechts wäre Platz für eine weitere Figur. Warum hat Michelangelo das Bild nicht fertiggestellt. Es war eine Auftragsarbeit und er musste die erhaltene Zahlung dafür zurückerstatten. Hatte er einen attraktiveren Auftrag? Oder war er nicht zufrieden mit der Komposition? Mittendrin hat er aufgehört. Aus dem Bild spricht nicht das Gefühl von «mittendrin», sondern das von «unfertig».

Nicht nur die Grablegung, auch andere Szene haben sich in der Wirkungsgeschichte entwickelt: die Kreuzabnahme und natürlich die Pieta, die Beweinung. Es sind oft qualvolle Bilder oder Skulpturen, der ganze Schmerz, die ganze Trauer, die ganze Verzweiflung spricht aus ihnen. Ja, dieses unfertige Dazwischen bewegt uns Menschen, weil wir es alle kennen. So oft möchte ich es übergehen, auch gerade an Ostern. Als kirchlich orientierter Mensch gehe ich zwar meistens in den Karfreitagsgottesdienst, aber noch lieber habe ich die Osternacht, wo alles inklusive ist: Das Kreuz wird bedacht, aber am Schluss sind wir schon bei der Auferstehung angelangt. Ich brauche nicht zu verharren in diesem qualvollen, leidvollen «unfertig».

Aber es gehört zu unserem Leben, mehr oder weniger qualvoll. Ich erinnere mich an den Zustand bei der Abgabe einer grossen Arbeit: fertig geschrieben, aber noch mit den ausstehenden Rückmeldungen des Professors, welche zu weiteren Verbesserungen führen würden. Unfertig. Ich erinnere mich an die Tage nach der Geburt meiner Töchter: die Schwangerschaft zu Ende, aber der Alltag mit Kind noch lange nicht eingerichtet. Unfertig. Ich denke an den von Krebs genesenden Mann: die Behandlungsphase überstanden, aber banges Abwarten, ob eventuell ein Rückfall alles zunichtemacht oder Hoffnung auf Gesundheit wirklich wird. Unfertig. Ich denke an die Frau auf Arbeitssuche: die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen, aber viel zu wenige Jobmöglichkeiten. Unfertig. Und natürlich eben die Situation der Trauernden, die nach der Beerdigung in diesem «unfertig» stecken bleiben.

So oft müssen wir mit dem Unfertigen umgehen lernen. Gerade darum dürfen wir es an Ostern nicht übergehen, gerade darum hat die Wirkungsgeschichte ein Auge darauf geworfen, auf diese Szenen dazwischen, und das Wichtige in ihnen dargestellt. Ja, auch der Evangelist selber hat mit seiner Betonung des Begräbnisses diese Wichtigkeit betont. Und mir damit auch Hinweise gegeben für den Umgang.

Joseph und Nikodemus halten sich beim Begräbnis an die ihnen bekannten Traditionen. Sie geben ihnen Halt und Handlungsmacht. Ja, sie können etwas tun, obwohl sie sich in diesem Moment wahrscheinlich komplett handlungsunfähig fühlen. Immer wieder erlebe ich das Wohltuende gewohnter Abläufe, vorgegebener Umgangsweisen. So macht für mich Tradition Sinn. So hilft Gewohnheit. In der Notfallseelsorge habe ich schon oft eine verzweifelte Person gebeten, mir einen Tee oder Kaffee zu kochen. Nicht weil mir mein eigenes Wohl so wichtig wäre, sondern um sie durch die gewohnte Handlung zur Einsicht zu begleiten, dass sie es schaffen kann. Meistens hat es sehr lange gedauert, bis der Tee oder Kaffee fertig war, aber es war geschafft.

Joseph und Nikodemus stehen dazu, was sie bewegt. Beide waren vorher nur heimlich Sympathisanten von Jesus, nun bekennen sie sich zu ihm, sie beziehen Stellung, Joseph sogar vor höchster Instanz bei Pilatus mit der Bitte um die Herausgabe des Leichnams. Gerade in den unfertigen Zeiten ist das eine Wahnsinnsleistung. Wenn ich selber nicht weiss, wo mir der Kopf steht, kann ich es auch anderen nicht sagen. Und doch erlebe ich immer wieder, wie Menschen in Not durchaus selber entscheiden können, was ihnen wichtig ist oder hilft und was nicht. Wer ihnen gut tut und wer nicht. Ihnen und auch mir in dieser Situation eigene Gedanken, Gefühle und Entscheidungen zuzutrauen, ist wertvoll.

Joseph und Nikodemus nehmen sich Zeit und sind sehr sorgfältig. Sorgfalt und Geduld mit sich und anderen gehört in die unfertigen Momente. Ich kann sie nicht durch Eile überspielen oder verdrängen. Ich kann sie nur durchleben und dabei sorgfältig darauf achten, was in mir geschieht. Ich denke an die Pieta, die bewegende Darstellung der trauernden Mutter, die ihren toten Sohn sorgfältig, liebevoll und stark auf ihrem Schoss hält. Ja, sie ist stark und das muss sie auch sein. Es gibt nichts Schlimmeres, was Menschen erleben können, als ihr Kind beweinen zu müssen. Sie ist stark und sorgfältig zugleich. Sorgfältig scheint auch die Hoffnung auf, die in uns angelegt ist. Sorgfältig leuchtet sie uns von Ostern her entgegen, vielleicht noch unbemerkt, vielleicht unscheinbar, aber sie ist da. Der göttliche Hoffnungsfunke ist bereits am Wirken, wenn wir das Unfertige aushalten und durchleben können. Das Begräbnis findet in dem Garten statt, der später im Johannesevangelium der Ort der Erkenntnis wird. Maria aus Magdala legt das erste Zeugnis vor dem leeren Grab ab. Wir sind also schon an dem Ort, wo das Unfertige erlöst wird und neues Licht aufscheint. Bleiben wir am heutigen Karsamstag noch beim Unfertigen, im Garten des Begräbnisses und halten es aus, wie so viele Menschen es auf dieser Welt aushalten müssen.

Amen

Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.

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