Johannes 20,11-18

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Johannes 20,11-18

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Ostersonntag,
15. April 2001

Predigt
über Johannes 20,11-18, verfaßt von Andreas Lindemann


Exegetische und homiletische
Vorentscheidungen

Liebe Gemeinde!

„Am dritten Tage auferstanden von den Toten“ – so
sprechen wir gemeinsam Sonntag für Sonntag mit den Worten des
Apostolischen Bekenntnisses. Oder wir sagen, wie heute: „Am dritten Tage
auferstanden nach der Schrift“. Diese Worte haben, in Anlehnung an ein
schon beim Apostel Paulus zitiertes Bekenntnis, die Konzilien von Nicäa
und Konstantinopel im 4. Jahrhundert einst festgelegt. Jesus ist auferstanden
von den Toten. Das ist die christliche Osterbotschaft.

Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir von Jesu Auferstehung
sprechen? Worauf bezieht sich unser Bekenntnis? Wir könnten heute auch
einfach fragen: Warum feiern wir überhaupt Ostern?

Beim Weihnachtsfest ist die Frage nach dem Warum relativ leicht zu
beantworten: Ein Kind wurde geboren. In jedem Jahr erinnern wir uns an seinen
Geburtstag. Das ist etwas ganz Normales. Das versteht jeder. Ein Geburtstag ist
im allgemeinen ein Tag der Freude. Auch der Sinn von Karfreitag kann uns
durchaus einleuchten: Jesus ist gestorben. Es ist nichts Ungewöhnliches,
daß man sich an den Todestag eines Menschen erinnert. Aber woran erinnern
wir uns zu Ostern?

Seit Wochen zeigen die Schaufenster vieler Geschäfte mehr
oder weniger schöne Osterdekorationen. Man kann besondere
Ostersüßigkeiten kaufen. Es ist ähnlich wie in den Wochen vor
Weihnachten.

Und doch ist es irgendwie auch anders: Vor Weihnachten leuchten
helle Sterne über den dunklen Straßen, Engelfiguren lachen uns
freundlich an, wir sehen das Kind in der Krippe. Man kann also noch
ungefähr erkennen, worum es zu Weihnachten geht. Doch was hat die
Osterdekoration mit dem christlichen Osterfest zu tun? Inwiefern erinnern die
Schokoladenhasen und die bunten Eier an Jesu Auferstehung von den Toten?

„Auferstanden von den Toten“. Nicht selten, gerade in
der Osterzeit, entzündet sich Streit an diesen Worten. Was ist mit diesem
Satz gemeint? Ist er nicht letztlich eine Zumutung? Wir wissen doch: Tote
werden nicht wieder lebendig. Warum also sagen wir über Jesus etwas, wovon
wir aus unserer Erfahrung wissen, daß es nicht stimmen kann?

Oder stimmt es doch? Ist Jesus doch auferstanden, so wie er zuvor
gestorben war? Ist Jesu Auferstehung eine Tatsache? Zumindest eine
„Glaubenstatsache“, wie gelegentlich formuliert wird?

Liebe Gemeinde, mit dem Stichwort „Tatsache“ müssen
wir gerade zu Ostern durchaus vorsichtig sein. Niemand ist bei Jesu
Auferstehung dabei gewesen. Niemand hat je bezeugt: „Ich habe gesehen, wie
der tote Jesus in seinem Grab neues Leben erhielt. Ich habe gesehen, wie der
große Stein vor dem Grab sich auf wunderbare Weise entfernte. Ich habe
gesehen, wie sich Jesus erhob und sein Grab verließ.“ Niemand hat
das jemals gesagt. Es gibt keine Augenzeugen. Nirgendwo im Neuen Testament gibt
es eine Erzählung, in der geschildert wird, wie sich Jesu Auferstehung
vollzogen haben könnte. Erzählt wird nur, daß Frauen am dritten
Tag nach Jesu Hinrichtung sein Grab besuchten, daß sie das Grab
geöffnet fanden, und daß Jesu Leichnam nicht mehr da war.

Erzählt wird dies in den vier Evangelien auf recht
unterschiedliche Weise. Vorhin haben wir die Erzählung gehört, wie
sie uns im Johannesevangelium überliefert ist: Maria Magdalena kommt
zuerst zum Jesu Grab, danach kommen auch zwei der Jünger – der eine
ist Petrus, und der andere ist der, den man den
„Lieblingsjünger“ nennt und dessen Namen wir nicht wissen. Wir
haben gehört, wie Maria Magdalena reagiert, als sie das Grab geöffnet
findet: „Sie haben den Herrn aus dem Grab genommen“, sagt sie;
„und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Das Grab ist
offensichtlich leer.

Aber was bedeutet das? Für Maria Magdalena ist das leere Grab
jedenfalls alles andere als ein Hoffnungszeichen. Sie kommt nicht auf den
Gedanken, das leere Grab sei ein Indiz, womöglich gar ein Beweis
dafür, daß Jesus nicht mehr tot ist. Nein: Angesichts des leeren
Grabes weiß sie, daß jemand den toten Körper Jesu beseitigt
hat.

„Sie haben ihn genommen“, sagt Maria Magdalena. Und da
können wir für das „sie“ beliebige Namen einsetzen:
„Sie“ – das mögen die römischen Machthaber sein.
„Sie“ – das könnten die Angehörigen der Jerusalemer
Priesterschaft sein. „Sie“ – das sind vielleicht ganz allgemein
die Gegner Jesu. Das sind die, die Jesu Hinrichtung durchgesetzt hatten und die
nun nicht einmal dem Toten seine Ruhe gönnen. Die fürchten, sogar der
tote Jesus im Grab könne ihnen noch einmal gefährlich werden.

Es wäre ja nicht das erstemal, und es wäre auch ganz
gewiß nicht das letzte Mal, daß von einem Grab Gefahr ausgeht.
Nicht selten kommt es vor, daß Menschen, die dem Toten nahgestanden
hatten, nun dessen Grab zu einer Kultstätte machen.

„Sie haben ihn weggenommen“, sagt Maria Magdalena, als
sie das geöffnete Grab sieht. Und die beiden Jünger, die
hinzugekommen sind? Sie sind ratlos. Sie schauen in das leere Grab, sie gehen
sogar in das Grab hinein. Und dann gehen sie wieder weg, zurück zu den
anderen. „Denn sie verstanden die Schrift nicht, daß er von den
Toten auferstehen müsse“, schreibt der Evangelist Johannes.

So weit haben wir die Geschichte vom leeren Grab vorhin
gehört. Aber wie geht sie weiter? Hören wir auf die Fortsetzung, auf
Joh 20,11-18. Hören wir auf jenen Text, der in diesem Jahr 2001 für
den heutigen Ostersonntag als Predigttext vorgeschlagen ist (im Luther-NT S.
138):

Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie
nun weinte, schaute sie in das Grab und sieht zwei Engel in weißen
Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den
Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. Und die sprachen
zu ihr: „Frau, was weinst du?“ Sie spricht zu ihnen: „Sie haben
meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt
haben.“

Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen
und weiß nicht, daß es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: „Frau,
was weinst du? Wen suchst du?“ Sie meint, es sei der Gärtner, und
spricht zu ihm: „Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn
hingelegt hast; dann will ich ihn holen.“ Spricht Jesus zu ihr:
„Maria!“ Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf hebräisch:
„Rabbuni!“, das heißt: Meister.

Spricht Jesus zu ihr: „Rühre mich nicht an, denn ich bin
noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage
ihnen: ‚Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott
und zu eurem Gott.’“

Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern:
„Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.“

Die beiden Jünger, die so mutig in das Grab hineingegangen
waren, sind längst zu den anderen zurückgekehrt. Maria Magdalena aber
ist beim Grab geblieben. Allein. Warum tut sie das? Was erwartet sie noch?
Erwartet sie überhaupt etwas? Erwarten wir noch etwas, wenn wir am
Grab eines uns lieben Menschen stehen?

Maria weint. Sie will einfach allein sein. Sie ist nicht in der
Stimmung, mit den anderen zu reden. Sie will sich an keiner Diskussion
darüber beteiligen, ob man den Leichenraub vielleicht den Behörden
melden soll, oder ob man das besser nicht tut.

Aus irgendeinem Grund schaut Maria in das Grab hinein. Das hatte
sie vorher nicht getan – anders als die beiden Jünger. Maria sieht in
dem Grab zwei Engel. Hatten Petrus und der andere Jünger diese Engel
übersehen? Sind die Engel unbemerkt in das Grab gelangt? Wer sind sie?
Sind es überhaupt Engel? Sind es nicht vielleicht einfach zwei
Männer, angetan mit weißen Gewändern?

Jedenfalls verstehen diese beiden nichts von dem, was hier vor
sich geht: „Warum weinst du?“, fragen sie Maria. Eine wahrhaft
törichte Frage. Da steht eine Frau vor einem Grab und weint. Wie kann
jemand bei diesem Anblick fragen: „Warum?“ Maria Magdalena ist
einfach nur traurig. Und durch das leere Grab, das sie vor sich sieht, ist ihre
Trauer nur um so größer geworden: Jesus ist seit zwei Tagen tot; und
nun ist obendrein sein Leichnam verschwunden. Und jetzt hört sie zu allem
Überfluß auch noch die zynische, die jedenfalls unnötige Frage:
„Warum weinst du?“

Maria hätte diese Frage überhören können. Aber
sie antwortet den beiden Fremden. Sie sagt noch einmal das, was sie schon den
Jüngern gesagt hatte: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich
weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“

Eine tapfere Antwort. Maria fürchtet nicht, die beiden
Männer in den weißen Gewändern könnten womöglich
etwas mit dem Verschwinden des Leichnams Jesu zu tun haben. Sie fürchtet
nicht, sie könne sich mit ihren Worten womöglich verdächtig
machen. Sie sagt, wie es ihr ums Herz ist. Sie weint, weil Jesus tot ist und
weil nun jemand Jesu Leichnam gestohlen hat. Die beiden Fremden müssen
doch einsehen, daß dies für sie wahrhaftig ein Grund zur Trauer ist.

In diesem Augenblick wendet Maria sich um. Hat sie unvermutet
etwas gehört? Ist ein Schatten in das Grab gefallen? Hat sich die
Öffnung des Grabes plötzlich verdunkelt? Maria wendet sich um und
sieht einen Mann vor sich stehen. Der Evangelist schreibt: „Sie sieht
Jesus; aber sie weiß nicht, daß es Jesus ist.“

Vielleicht haben Sie vor etwa zwei Wochen in den Zeitungen das
Bild eines bärtigen, schwarzhaarigen Mannes gesehen. Das Bild Jesu –
so wie es sich die britische Rundfunkgesellschaft BBC mit Hilfe von
archäologischen Funden per Computer als Phantombild für einen
Fernsehfilm hatte anfertigen lassen. Ein etwas düster dreinblickender,
aber im Grunde ganz unauffälliger Mann. Tausende von Männern im Alter
von etwa dreißig Jahren mögen damals in Palästina so ausgesehen
haben. Jesus – ein Mann wie viele andere. Maria Magdalena sieht Jesus vor
sich. Und sie denkt: Das wird wohl der Gärtner sein. Der Mann, der
für die Pflege jener Gartenanlagen verantwortlich ist, wo sich das Grab
befindet.

Und nun stellt auch dieser Gärtner dieselbe törichte
Frage: „Frau, warum weinst du?“ Begreift denn keiner von diesen
Männern, um was es hier geht? Da ist Jesus eines qualvollen, schrecklichen
Todes am Kreuz gestorben. Da hat sich immerhin einer gefunden, ein Fremder, der
für ein ordentliches Begräbnis sorgte. Und nun ist sie, Maria
Magdalena, zwei Tage später zur Grabstätte gekommen und findet diese
bereits geschändet. Das Grab ist leer. Offenbar gibt es Leute, die es
nicht ertragen konnten, daß der Gekreuzigte ein anständiges Grab
bekommen hatte.

Angesichts dessen weint Maria, und nun steht der Gärtner da
und fragt, warum sie weint. Sieht er denn nicht, daß diese Frau jenem
Mann, der in dem Grab hätte liegen müssen, sehr nahegestanden hatte?
Kann er sich das nicht wenigstens denken?

Wahrhaftig, dieser Tote, dessen letzte Spuren nun von
Grabräubern beseitigt worden waren, der Mann Jesus aus der Stadt Nazareth,
war für Maria aus Magdala nicht irgendjemand gewesen. Die beiden hatten
einander nahegestanden. Viel wissen wir allerdings nicht über die
Beziehung zwischen dieser Frau und diesem Mann. Von Maria aus Magdala ist in
den Evangelien vor allem im Zusammenhang des Berichts von der Hinrichtung Jesu
die Rede. Johannes erzählt, sie habe gemeinsam mit der Mutter Jesu und dem
Lieblingsjünger unter dem Kreuz gestanden; das ist die Szene, die manche
von uns vielleicht vom Bild des Isenheimer Altars her kennen. Der Evangelist
Lukas schreibt etwas mehr: Maria Magdalena, so weiß er zu berichten, habe
zu jenen Frauen gehört, die Jesus schon auf seinen Wanderungen durch
Galiläa begleiteten. Sie hatte zu denen gehört, die Jesus finanziell
unterstützten – etwas, wovon sonst nirgendwo in den Evangelien
gesprochen wird.

War da womöglich mehr gewesen zwischen Jesus und Maria
Magdalena? Die spätere Legende macht aus der Frau aus Magdala „die
große Sünderin“: Sie sei es gewesen, die nach dem Bericht des
Lukasevangeliums Jesu Füße mit ihren Tränen gewaschen und dann
mit ihren Haaren getrocknet habe. Aber nirgends steht, diese Frau sei Maria
Magdalena gewesen. Nirgendwo in der Bibel steht, Maria sei eine große
Sünderin gewesen. Sie habe gar – wie die Phantasie dann weiter
gesponnen hat – als Prostituierte gearbeitet. Manche Romane und Filme
wollen uns dies als Sensation verkaufen: Maria Magdalena als Dirne, der einzige
Mensch, der angesichts des Todes Jesu offene Trauer zeigt, eine Hure. Aber
nichts davon sagt uns die biblische Überlieferung. Maria Magdalena hatte
zum engeren Kreis um Jesus gehört. Mehr war da nicht gewesen –
freilich: Da war auch nicht weniger! Maria hat allen Grund, angesichts des
leeren Grabes zu weinen.

Der Gärtner, dem Maria gegenübersteht, scheint von
alldem nichts zu wissen. „Frau, warum weinst du?“, fragt er.
„Wen suchst du?“ Jetzt ist Maria bei ihrer Antwort vorsichtiger.
„Herr“ – so ehrerbietig redet sie den Gärtner an, man kann
ja nie wissen. „Herr, wenn du ihn weggetragen hast“ – aus
welchen Gründen auch immer dies geschehen sein mag – „dann sage
mir doch, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.“ Nur eine
kurze Information möchte sie, sie bittet nicht um Hilfe. Sie wird es schon
allein schaffen, Jesu Leichnam wieder in sein Grab zu bringen. So wäre sie
in ihrer Trauer schon ein wenig getröstet.

Doch mit einem Mal wird alles anders. Nur ein Wort fällt. Nur
ein Name wird ausgesprochen: „Maria!“ Der vorgebliche Gärtner
spricht die Frau aus Magdala mit ihrem Namen an. Er weiß, wer sie ist.
Und ebenso weiß Maria in diesem Augenblick, wer da vor ihr steht.
„Rabbuni! Meister“, sagt sie. Wörtlich übersetzt:
„Mein Großer, mein Lehrer!“

Mit diesem Ehrentitel ‚Rabbi!’ war Jesus des
öfteren angesprochen worden, gerade im Johannesevangelium: Von seinen
Jüngern, aber auch von Fremden. Sogar von Nikodemus, der doch zum Hohen
Rat in Jerusalem gehörte.

„Rabbuni, Meister!“, sagt Maria. Freut sie sich
darüber, daß Jesus wieder da ist? Meint sie, Jesus sei vielleicht
gar nicht wirklich tot gewesen? Erwartet sie, daß er nun seine
Tätigkeit als Lehrer und als Wundertäter wieder aufnehmen wird,
nachdem ihm auf so wunderbare Weise das Leben wieder geschenkt worden war?
Hofft Maria, daß nun alles wieder so sein wird, wie es in der Zeit vor
Jesu Kreuzigung gewesen war?

Oft ist das ja unsere Antwort, wenn wir nach dem Sinn von Ostern
gefragt werden. Jesus ist wieder lebendig geworden, sagen wir. Das Leben hat
über den Tod gesiegt. Die Sache Jesu geht weiter.

Aber Jesus ist nicht einfach „wieder lebendig geworden“.
Er ist nicht „wieder da“, als wäre nichts gewesen. Es ist nicht
ein weiteres Wunder geschehen, vergleichbar der Auferweckung des Lazarus, der
schon mehrere Tage im Grab gelegen hatte. Oder vergleichbar der Auferweckung
jenes Jünglings, den man in Nain bereits zu Grabe trug. Nein, der Jesus,
der jetzt als der Lebendige vor Maria steht und sie mit ihrem Namen anspricht,
ist ein anderer geworden.

„Rühre mich nicht an“, sagt Jesus zu Maria.
Vielleicht hatte sie ihn umfangen, ihn umarmen wollen. Vielleicht hatte sie ihn
mit ihren Händen gleichsam festhalten wollen: „Bist du’s
wirklich? Täuschen mich meine Augen nicht?“ Wie auch immer: Maria
Magdalena ist jedenfalls glücklich.

Doch nun der Schock: „Rühre mich nicht an“, sagt
Jesus zu ihr. Noli me tangere. Bleib mir vom Leib!

Was hat Maria von diesem Wiedersehen? Jesus ist ein Fremder
geworden. Unnahbar. Unberührbar. Einer, der Abstand hält. Maria
hätte allen Grund, abermals zu weinen.

Warum redet Jesus so? Warum handelt er so? „Rühre mich
nicht an.“ Jesus gibt dafür eine seltsame Begründung: „Ich
bin noch nicht aufgefahren zum Vater.“ Seltsam. Wäre Jesus im Himmel,
wäre er schon bei Gott – er wäre doch erst recht
„unnahbar“. Er wäre so weit weg, wie man überhaupt nur weg
sein kann.

Maria Magdalena, die an jenem ersten Ostertag vor dem Gartengrab
in Jerusalem Jesus begegnet, ist in keiner besseren Lage ist als wir alle, als
alle Christen bis zum heutigen Tage. Der von den Toten auferstandene Jesus
läßt sich nicht berühren. Es gibt keinen Jesus „zum
Anfassen“. Es gibt keinen Jesus, der fotografiert oder gefilmt werden
könnte. Jesus hat sich uns entzogen. Wer ihn fassen, wer ihn ergreifen
will, der bekommt zur Antwort: „Rühre mich nicht an.“

„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Diese
Worte wird Jesus ein wenig später zum sogenannten ungläubigen Thomas
sagen. Wir sollen auf die Botschaft von der Auferstehung hören, wir sollen
den Worten Glauben schenken. Es gilt eben nicht: Ich glaube nur das, was ich
sehe.

„Rühre mich nicht an.“ Ostern bedeutet also nicht,
daß Jesus dort weiter macht, wo er ein paar Tage zuvor aufgehört
hatte. Ostern bedeutet nicht, daß Jesu Sterben im Grunde nur eine
zufällige, eine lästige Unterbrechung seines Lebens gewesen
wäre. Nein, zu Ostern, in der Auferstehung Jesu, hat etwas grundlegend
Neues begonnen. Nicht nur für Jesus selber, sondern auch für die, die
zu Jesus gehören.

„Was nützt uns die Auferstehung Christi?“, so fragt
der Heidelberger Katechismus in Frage 45. Und er antwortet: „Erstens:
Christus hat durch seine Auferstehung den Tod überwunden, um uns an der
Gerechtigkeit Anteil zu geben, die er uns durch seinen Tod erworben hat.
Zweitens: Durch seine Kraft werden auch wir schon jetzt erweckt zu einem neuen
Leben. Drittens: Die Auferstehung Christi ist uns ein verläßliches
Pfand unserer seligen Auferstehung.“ Ostern, so sagt unser Katechismus,
betrifft uns unmittelbar. Ostern eröffnet uns Zukunft und damit zugleich
auch eine neue Gegenwart.

Das grundlegend Neue beginnt für Maria Magdalena mit einem
Auftrag, den sie von Jesus erhält. Sie soll verkündigen. Sie soll
eine Botschaft ausrichten. Die Botschaft von der Auferstehung Jesu. Maria
Magdalena ist die erste Osterzeugin. Sie soll den Jüngern sagen, daß
Jesus hinaufgeht zum Vater, daß er hingeht zu Gott. Im Grunde soll sie
also den Jüngern sagen, daß Jesus nicht mehr da ist.

Aber hören wir genau hin: „Ich fahre auf zu meinem Vater
und zu eurem Vater“, sagt Jesus. „Ich fahre auf zu meinem Gott und zu
eurem Gott.“ Jesu Worte sprechen von etwas ganz anderem als nur von einer
Art Ortsveränderung. Jesus macht uns durch seine Worte zu seinen
Geschwistern.

Gott als Vater, Jesus als Sohn – das ist uns vertraut, davon
hören wir immer wieder, gerade im Johannesevangelium. Aber seit Ostern,
seit Jesu Auferstehung gilt: Gott ist unser Vater, wir leben als
Töchter und Söhne Gottes. Wir werden angesprochen als
Schwestern und Brüder des von den Toten auferstandenen Jesus. Der Abstand
zwischen Gott und uns, der Abstand zwischen Jesus und uns wird durch Ostern
nicht etwa vergrößert, sondern er wird im Gegenteil eingeebnet.

Das ist die Botschaft, die Maria ausrichten soll. Ostern macht uns
zu Geschwistern Jesu. Ostern macht uns zu Kindern Gottes. Scheinbar sieht es so
aus, als entferne sich Jesus von uns: Jesus ist erhöht, wir dagegen
bleiben, was wir schon immer waren.

Nein, sagt uns das Osterzeugnis des Johannesevangeliums: Gerade
jetzt, gerade durch die Auferstehung Jesu, gehören wir wirklich,
gehören wir ganz und gar zu Gott.

Maria Magdalena, so schildert es der Evangelist, begreift sofort,
welchen Auftrag sie erhalten hat. Sie braucht keine weiteren
Erläuterungen. Und der Evangelist braucht nicht zu sagen, was weiter mit
Jesus geschieht. Wollten wir die erzählte Szene verfilmen, so gäbe es
hier einen harten Schnitt: Jesus verläßt nicht die Szene, und sein
Bild löst sich auch nicht langsam oder plötzlich auf. Nein –
nach diesen Worten Jesu sähen wir ganz unvermittelt nur noch die Maria,
die zu den Jüngern geht und ihnen sagt: „Ich habe den Herrn
gesehen.“

„Ich habe den Herrn gesehen.“ Dieselben Worte verwendet
Paulus, um den Christen in Korinth einen Beleg dafür zu geben, daß
er – Paulus – sich zu Recht Apostel nennen darf. Vielleicht will uns
der Evangelist Johannes dasselbe sagen: Maria Magdalena ist ein Apostel, sie
ist eine Apostolin. Nicht Petrus ist der erste, der den Auferstandenen gesehen
hat. Nein, Maria Magdalena ist es, eine Frau. Eine Frau, die im übrigen
zwar unbekannt bleibt; von deren weiterem Wirken wir nichts wissen. Und die
doch für das Johannesevangelium von größter Bedeutung ist.

Der Christusglaube, so lehrt uns Johannes, ist von Anfang an keine
Männersache. Die christliche Kirche ist kein Verein, in dem die
Männer das Sagen hätten und die Frauen allenfalls hören
dürften. Nein, Maria Magdalena verkündigt: „Ich habe den Herrn
gesehen.“ Nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums beginnt die christliche
Botschaft, beginnt die Geschichte der Kirche mit der Predigt einer Frau.

„Ich habe den Herrn gesehen“, sagt Maria Magdalena.
Vermutlich kann niemand unter uns dies von sich selber sagen. Aber Ostern
heute, im Jahre 2001, bedeutet auch gar nicht, daß wir uns auf
übernatürliche Erfahrungen und auf wunderbare Erlebnisse berufen
müßten. Die Osterbotschaft, heute nicht anders als vor beinahe
zweitausend Jahren, verspricht uns, daß wir nun Jesu Schwestern und
Brüder, daß wir nun Gottes Söhne und Töchter geworden
sind. Das ist heute wahrhaftig ein Grund zu sagen: Fröhliche Ostern.

Amen.

Exegetische und homiletische Vorentscheidungen

Unabhängig von allen differenzierteren literarkritischen
Hypothesen kann für die Predigt die literarische Einheitlichkeit des
Johannesevangeliums vorausgesetzt werden; allerdings halte ich es für
überwiegend wahrscheinlich, daß Joh 21 ein späterer Nachtrag
ist, so daß für das „ursprüngliche“ Evangelium Joh
20,30f. im Anschluß an 20,19-29 als der vom Evangelisten gewollte
Schluß gelten kann.

Unabhängig von liturgischen Vorgaben scheint es mir sinnvoll
zu sein, die johanneische Ostererzählung als Einheit zu nehmen, d.h. als
Lesung sollte jedenfalls Joh 20,1-10 vorangehen. Die Predigt knüpft
jedenfalls an die johanneische Erzählung von der Auffindung des leeren
Grabes an.

Prof. Dr. Andreas Lindemann, Bethel
E-Mail:
Lindemann.Bethel@t-online.de


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