Johannes 21, 15-19

Home / Bibel / Neues Testament / 04) Johannes / John / Johannes 21, 15-19
Johannes 21, 15-19

Petrus arbeitet sich ab. | Misericordias Domini | 1.5.2022 | Joh 21, 15-19 | Thomas Schlag |

Liebe nachösterliche Gemeinde,

jetzt ist Ihre Einbildungskraft, Ihre Imagination gefragt. Ich lade Sie herzlich dazu ein, sich zur folgenden biblischen, nachösterlichen Szene Ihr eigenes Bild zu machen.

Diese Szene findet sich im Johannesevangelium unmittelbar nach dem wunderbar reichen Fischzug, den wir vorher als Schriftlesung gehört haben (Joh. 21, 1-14).

Nun also unmittelbar weiter. Und wenn Sie möchten, können Sie zu den Worten des Johannes auch gerne die Augen schließen:

15 Als die Jünger und Jesus nun – dort am See – früh am Morgen beim Kohlenfeuer Brot und Fisch gegessen hatten, sagt Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als diese mich lieben? Simon Petrus sagt zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Jesus sagt zu ihm: Weide meine Lämmer!

16 Und er sagt ein zweites Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Simon Petrus sagt zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Jesus sagt zu ihm: Hüte meine Schafe!

17 Er sagt zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und er sagt zu ihm: Herr, du weißt alles, du siehst doch, dass ich dich lieb habe. Jesus sagt zu ihm: Weide meine Schafe!

18 Amen, amen, ich sage dir Simon Petrus: Als du jünger warst, hast du dich selber gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du aber älter wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst.

19 Das aber sagte er, um anzudeuten, durch welchen Tod Petrus Gott verherrlichen werde. Und nachdem Jesus dies gesagt hatte, sagte er zu ihm: Folge mir!

Würden wir uns nun darüber austauschen, was jede und jeder einzelne von uns gerade imaginiert hat, dann dürfte sich sehr wahrscheinlich eine bunte Vielfalt unterschiedlichster Szenerien ausbreiten.

Und dafür ist natürlich diese biblische Begegnungsgeschichte selbst Grund und Ursache: Denn in nur wenigen Zeilen tut sich ein weiter Raum und ein fast unfassbarer Reichtum auf: Bilder vom Ort am See, meine Vorstellung der Gestalten Jesus und Petrus, Erinnerungen an eigene erlebte Morgenstimmungen, der Geschmack von Brot und Fisch, Gedanken an eigene Liebesbotschaften, Landschaftsszenen von Schafen und Lämmern, Erfahrungen von ausgestreckten Händen, Jung-Sein und Älter-Werden, Gedanken über den Tod.

Was für einen Liebes- und Lebensreichtum eröffnet diese biblische Szene zwischen Jesus und Simon Petrus. Und dieser Reichtum liegt eben nicht nur in dem, was geschrieben steht. Sondern – Sie haben es längst gemerkt – der nachösterlicher Reichtum entfaltet sich dadurch, dass wir uns eben selbst unser je eigenes persönliches Bild von der Szenerie machen.

Indem wir hören und imaginieren, beginnt es, sich in uns zu bewegen, zu arbeiten. Eigene Assoziationen, Erinnerungen, Bilder, Stimmungen kommen in uns auf. Es lagert sich viel von uns selbst an die gehörte Geschichte an. Diese Szene gewinnt ihre Bedeutung durch das, was wir von uns aus damit verbinden. Und wir lesen und hören nicht nur als der, der wir sind, sondern auch als der, der wir im Moment sein wollen und sein können.

Vielleicht ist das der geeignete Reflex auf den heutigen Tag der Arbeit: wir als Hörende sind dazu aufgerufen, mit und an den eigenen Glaubensbildern imaginativ zu arbeiten. Und das ist übrigens durchaus sowohl eine Sonntags- wie eine Alltagsmöglichkeit.

Eigentlich könnte ich es mit allen weiteren Erläuterungen zu dieser Szene des Johannesevangeliums nun belassen. Denn Sie haben für sich diese Szene vermutlich schon eindrücklich vor Augen, haben sich das überlieferte Narrativ vielleicht schon mit den eigenen Lebenserfahrungen verbunden.

Und insofern will ich das gar nicht gar nicht in Frage stellen und erst recht nicht zerstören. Sondern ich biete Ihnen nun meine Imagination, meine Glaubens-Arbeit an diesen nachösterlichen Zeilen an. Als eine weitere mögliche Lesart.

Und vielleicht können sich unsere Bilder und verschiedenen Lesarten dann sogar zu einer gemeinschaftlichen Szene zusammenfügen – wir werden sehen.

Ich habe mich bei meiner Alltags- und Sonntagsarbeit am Text gefragt:

In welcher Stimmung eigentlich sitzen Jesus und Petrus am Kohlenfeuer? Sind wir am Ende einer langen Arbeitsnacht oder scheint schon die Morgensonne auf? Sind beide todmüde oder hellwach? Sitzen sie nebeneinander oder sich gegenüber und wie weit sind sie eigentlich voneinander entfernt? Sitzen beide bequem oder auf hartem felsigen Untergrund?

Wärmt das Kohlenfeuer noch oder starrt man nur noch in die letzte verglimmende Glut? Sprechen Sie laut oder leise miteinander, vertraut oder misstrauisch?

Besteht nach dem gemeinsamen Essen von Fisch und Brot nun ausgelassene oder angespannte Stimmung? Herrscht konzentrierte Sabbat-Atmosphäre oder schon wieder geschäftiger Trubel des neuen Arbeitstages?

Und wie – in Gottes Namen – ist diese Schlüsselfrage Jesu an Petrus zu verstehen – dreimal ganz ähnlich gestellt: „Liebst du mich mehr, als diese mich lieben?“, „Liebst Du mich?“, „Hast Du mich lieb?“ und dreimal mit einem „Ja“ des Petrus beantwortet.

Wäre ich ein Theaterregisseur, der dies nun in Szene setzen sollte, müssten jetzt jedenfalls eine ganze Reihe von inszenatorischen Grundentscheidungen gefällt werden:

Ich will mich aber gar nicht gleich für eine Version entscheiden, um den Reichtum der Geschichte allzu schnell einzudampfen.

Sondern ich biete Ihnen zwei recht unterschiedliche Inszenierungsmöglichkeiten an: Und ich nehme dafür diese dreimalige Schlüsselfrage und das dreimalige „Ja“ des Petrus nochmals genauer in den Blick.

Um es hier gleich zu sagen: Je nachdem, wie ich diesen Liebesdialog lese und höre, wird jedenfalls für mich die ganze Szene in ein höchst unterschiedliches Licht getaucht:

Meine erste Lesart und Inszenierung nenne ich „Verhör am kalten Morgen“ und dies zeigt sich wie folgt: Eigentlich ist dieses „Liebst Du mich?“ allein schon eine Frage, die alle Alarmglocken läuten lassen sollte. Wer so fragt, hat drängende Zweifel. Nichts ist klar, alles ist unsicher. Wer so fragt, erwartet vielleicht gar kein „Ja“ mehr. Jedenfalls steht nun der Gefragte, oder muss man eher sagen, der Befragte, unter Verdacht, fast schon mit dem Rücken zur Wand. Denn ihm wird möglicherweise unterstellt, dass alle bisherigen Liebensbekundungen nur Lug und Trug waren: Hinter dieser drängenden Frage steht nicht weniger als ein „Kannst Du mir wirklich treu sein?“. Eine solche Frage in Liebesdingen hat schon manchem Gefragten die Schweißperlen auf die Stirn und das Adrenalin durch die Adern gejagt. Ja, es ist eine drängende Szene, die eigentlich nur zwei Möglichkeiten lässt: sofortige Ausrede bzw. Ausflucht oder unbedingtes Bekenntnis. Bei dieser ersten Lesart stellen ich mir jedenfalls die Szene eines Verhörs vor, in dem Petrus nicht ein, und nicht zwei, sondern gleich drei eindeutige Committments abverlangt werden. Hartes, kaltes Licht fällt auf ihn. Mehr Unterredung und Unterweisung als echter Dialog jedenfalls.

Und so reagiert Petrus aus seiner unbequemen Lage heraus: Ja, er bekennt bzw. konstatiert mit jedem Mal stärker, dass er Jesus liebt. Und man wird den Eindruck nicht los, dass das Kohlenfeuer längst erloschen ist, der Morgen kalt ist und Petrus in überaus unbequemer Position ist. Sein Gegenüber Jesus scheint am Ende gleichwohl mehr oder weniger zufriedengestellt und nun können die Dinge ihren weiteren Lauf nehmen: Petrus erhält auf die wohlfeile Beantwortung den Auftrag, die Schäfer und Lämmer zu weiden. Denn sein Bekennermut qualifiziert ihn – mehr als alle anderen – für alle höheren Tätigkeiten: auf die erfolgreiche Beantwortung der Schlüsselfrage hin werden ihm die kirchenleitenden Schlüssel ausgehändigt, mit der irgendwann der Himmel aufgeschlossen, jetzt aber erst einmal irdische Aufgaben abgearbeitet werden.

Meine zweite Lesart und Inszenierung nenne ich „Warmherziges Nebeneinander“: Denn man kann sich dieses „Liebst Du mich?“ auch als höchste sehnsuchtsvolle, romantische Expression vorstellen. Hier wird die Frag ganz zweifelsfrei gestellt, weil allergrößtes Vertrauen zwischen Fragendem und Befragtem längst gegeben ist. Die Frage wird gestellt, weil man gar nichts anderes erwarten kann und wird als ein uneingeschränktes „Ja“. Diesen Dialog stelle ich mir sozusagen als gemeinsamen Tanz der Worte vor. Als ein Hin- und Her aus liebevollen Augenblicken und Berührungen, am natürlich nun wärmenden Kohlenfeuer bei aufgehender, schon leuchtender Morgensonne und in ungebrochen brüderlichem Geist.

In diesem Inszenierungsfall ist das dreimalige Ja des Petrus dann sozusagen immer weiter verzückte Steigerung des eigenen Liebesschwurs, der sich kaum noch zu beherrschen weiß. Und auch von hier aus nehmen die Dinge ihren Lauf: Man hört schon die Glocken der Lämmer und Schafe, bereit zum Aufbruch in den gemeinsamen neuen lichten Tag, mit dem vor Glück taumelnden Petrus an der Spitze der ganzen gleichberechtigten Heerschar aus Getauften, Distanzierten, Suchenden, den Verlorenen und Wiedergefundenen.

Sie merken schon längst: Beide Inszenierungen sind sozusagen überzeichnet – aber für beides finden wir lange Auslegungstraditionen: Die schroffe hart gezeichnete Version hat immer wieder als Ausgangspunkt für eine felsenharte und hierarchische Interpretation des Verhältnisses von Jesus als Hirten, dem irdischen zur ultimativen Leitung berufenen Hirten Petrus und der zum klaren Bekenntnis aufgerufenen Nachfolgegemeinde gedient. Die Szene könnte man sozusagen als biblische Begründung für eine harte und eindeutige Institutionenlogik verstehen – mit Petrus als der autoritativen Speerspitze der Glaubenseindeutigkeit.

Die weich gezeichnete Version hat durch die Zeiten hindurch romantische Bilder der warmherzigen Brüdergemeinschaft inmitten ihrer in Wolle und Watte gepackten Jüngerschar erzeugt. Man denke etwa an die Bildprogramme der Nazarener des 19. Jahrhunderts oder an manche tatsächlich in Wolle gehüllte Kinderbibel. Diese Szene wäre dann also die biblische Begründung einer auf Dauerversöhnung ausgerichteten Wohlfühlgemeinschaft. Und Petrus erscheint als das authentisch-exemplarische Religionsindividuum. Und die ganze Herdenschar zeichnet sich durch ein kaum zu überbietendes Ideal freier Geselligkeit im schwebenden Nachfolgerhythmus aus.

Theologiegeschichtlich hat man nicht selten die jeweils andere Lesart ganz und gar in Frage gestellt und deren Legitimität verneint. So als ob die je andere Lesart und Inszenierung dem eigentlichen Sinn dieser Jesus-Petrus-Begegnung gerade nicht gerecht werde. Das Bekenntnis, so die einen, erfordere tiefste Klarheit und gegebenenfalls auch Strenge gegen sich selbst – und der Gemeinde gegenüber sowieso. Und die anderen sagen: Christliche Religion lebe vom uneingeschränkten „Jesus liebt Dich“ und der harmonischen Gesinnung der ganzen Gemeinde.

Was machen wir nun mit diesen unterschiedlichen Lesarten – ist eine richtig, die andere falsch? Die eine daneben, und die andere unbedingt zutreffend? Kaltes Morgenlicht oder erste wärmende Sonnenstrahlen? Verhör oder Dialog? Entschiedene, ernsthaft bedrängende Bekenntnisgeschichte oder romantische, weichgespülte Gefühlsprosa? Oder müssen wir jetzt einen Konsens, den kleinsten gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Bilder finden – mit der Gefahr eines grau-lauen Allerleis?

Vielleicht hat man ja mit beiden Auslegungen die eigentliche Pointe noch gar nicht getroffen.

Ich plädiere dafür, den Reichtum der biblischen und unserer eigenen Imagination nebeneinander stehen zu lassen – und doch in Beziehung zueinander zu setzen.

Dafür komme ich noch einmal zur Licht- und Farbgebung dieser Geschichte zurück und frage:

Welche Farbe hat eigentlich das nachösterliche Licht?

Sie würden nun vielleicht sagen: Es kommt darauf an … weil sich, wie gesagt, immer auch unsere eigenen Prägungen und Stimmungen an diese Geschichte anlagern.

Diese Geschichte von Jesus und Petrus stellt sich nicht ohne mich vor. Sondern sie wird erst vorstellbar, wenn ich mich mitten in sie hineinstelle, mich in ihrem Raum bewege, an der Frage der Liebe und meiner Antwort zu arbeiten beginne, wenn ich also alles selbst zum Leuchten bringe.

Bestimmen wir also, welche Farbe das nachösterliche Licht hat? Was steht neben den roten und schwarzen und regenbogenfarbenen Fahnen des heutigen Tages? Was ziehen wir auf?

Sind es wirklich wir, die für die nachösterliche Inszenierung hauptverantwortlich sind – müssen wir für uns alleine einstehen und für unser Recht sorgen?

Möglicherweise ist es doch gerade umgekehrt: Die Geschichte gewinnt erst Raum, die Szene wird erst vorstellbar, wenn sie sich in mich hineinstellt. Wenn sie sich in meinem Lebensraum zu bewegen beginnt. Wenn Jesu Frage nach der Liebe an mir zu arbeiten beginnt und sich als Lebensfarbe für mich selbst zum Leuchten bringt.

Welche Farbe das nachösterliche Licht hat, ist nicht nur eine Frage unserer je eigenen Entscheidungsperspektive. Sondern sie entscheidet sich daran, was und wer uns dabei entgegenkommt.

Am Anfang dieses Gottesdienstes wurde dieser reiche Lichtbogen aufgespannt und begegnet uns hier nun wieder: „Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben.“ (Joh 10,11a.27–28a). Und wir haben vorher schon in sozusagen ganz angemessener Reihenfolge gesungen: „Jesus lebt, mit ihm auch ich“. Ergänzen kann man nun: „Jesus liebt, mit ihm auch ich“.

All dies macht ganz deutlich: Nicht wir inszenieren unser ganzes Leben. Sondern wir sind immer schon in Szene gesetzt. Denn der Auferstandene ist längst mitten in unserer Lebensgeschichte angekommen und gegenwärtig und steht für uns ein.

Die Frage Jesu „Liebst Du mich wirklich?“ ist deshalb auch an uns zwar überaus ernst gemeint. Aber sie ist kein Verhör, nicht mehr bedrängend, sondern ein liebevolles Sehnen nach unserem „Ja“.

Wenn der gute Hirte sein „Folge mir nach“ spricht, ist das kein hartes unbarmherziges Zerren und Ziehen an mir. Sondern ich stelle es mir viel mehr als ein zutiefst liebevolles „an der Hand nehmen“ vor. Jesus geht uns voraus und geht mit uns hinein ins Offene und Ewige.

Das biblische Liebesnarrativ und unsere eigene Lebenserzählung sind längst miteinander verbunden: dialogisch, tanzend, einander wechselseitig bereichernd.

Das nachösterliche Licht strahlt vielfältig aus, warm wie die Morgensonne – auf unser ganzes Leben.

Amen.

___

Lieder:

ERG 167, 1-3 Du hast uns, Herr gerufen

ERG 482, 1-4 Jesus lebt, mit ihm auch ich

ERG 15 1-5 Der Herr ist mein getreuer Hirte

ERG 478, 1-3 Jesus meine Zuversicht

___

Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Die Predigt wurde am 1. Mai 2022 in der Kirche St. Peter, Zürich gehalten.

de_DEDeutsch