Johannes 3, 1-12

Johannes 3, 1-12

Jesus und die Wissenschaft | Johannes 3, 1-12 | Simon Gloor |

Johannes 3, 1-12 (Zürcher Bibel)

1 Es war aber einer unter den Pharisäern, sein Name war Nikodemus, einer vom Hohen Rat der Juden. 2 Dieser kam zu ihm in der Nacht und sagte: Rabbi, wir wissen, dass du als Lehrer von Gott gekommen bist, denn niemand kann diese Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. 3 Jesus entgegnete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wer nicht von oben geboren wird,[1] kann das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus sagt zu ihm: Wie kann denn ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Er kann doch nicht ein zweites Mal in den Schoss der Mutter gelangen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wer nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann nicht in das Reich Gottes gelangen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von oben geboren werden. 8 Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, weisst aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist. 9 Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann das geschehen? 10 Jesus antwortete ihm: Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht? 11 Amen, amen, ich sage dir: Was wir wissen, davon reden wir, und was wir gesehen haben, bezeugen wir, doch unser Zeugnis nehmt ihr nicht an. 12 Wenn ich vom Irdischen zu euch rede, und ihr glaubt nicht, wie werdet ihr da glauben, wenn ich vom Himmlischen zu euch rede?

Ansprache

Nikodemus, der in der Nacht zu Jesus kam, war ein Physiker. Ja, liebe Gemeinde, Sie haben richtig gehört, ich habe tatsächlich Physiker gesagt. Dabei steht im Text nichts über Physik und es gab in der Antike auch keine Physiker im heutigen Sinn. Es gab auch noch keine Teleskope oder Mikroskope, es gab keine Thermometer und Barometer, die Elektrizität und der Magnetismus waren noch unbekannt und von der Relativitäts- und Quantentheorie hatte noch niemand etwas gehört. Wenn wir aber den Text lesen fällt auf, dass Nikodemus das Wissen wichtig ist. Er sagt: „Rabbi, wir wissen, dass du als Lehrer von Gott gekommen bist, denn niemand kann diese Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.“ Er sagt nicht, wir glauben, sondern wir wissen. Nikodemus will mehr wissen über Jesus. Er will verstehen, was abläuft, wieso Jesus Vollmacht hat und Wunder tut. Das macht ihn zum Wissenschaftler.
Was zeichnet eigentlich einen Wissenschaftler aus? Es ist vielleicht eine Neugier, die etwas ausgeprägter ist als bei anderen Menschen. Wir alle machen von Kindesbeinen an Erfahrungen und entdecken so die Welt. Ich mag mich noch erinnern, wie meine Tochter ihre ersten Gravitationsexperimente durchgeführt hat. Sie war noch keine 2 Jahre alt, sass am Tisch, und ich löffelte ihr das Essen ein. Da fiel der Löffel auf den Boden, und ich hob den Löffel wieder auf. Was machte nun meine Tochter? Sie warf den Löffel nun mit Absicht wieder auf den Boden. Dieses Spiel wiederholte sich ein paar Mal, bis sich in ihr die Erfahrung festgesetzt hatte, dass Gegenstände wie Löffel aber auch Gabeln, Messer, Äpfel, Birnen und Steine auf den Boden fallen. Wir alle haben diese Erfahrung gemacht und denken uns mit der Zeit auch nichts mehr dabei. Es ist ganz normal, dass Gegenstände auf den Boden fallen. Nun, als Wissenschaftler gibt man sich damit nicht zufrieden, sondern will mehr wissen und versucht, solchen Phänomenen nochmals auf den Grund zu gehen. Und dazu muss man etwas eigenartige Fragen stellen wie z.B.

Wenn alle Gegenstände auf den Boden fallen, wieso fallen die Wolken nicht auf den Boden? Oder die Sterne, der Mond und die Sonne?
Die Frage von Nikodemus ist auch eigenartig: „Wie kann denn ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Er kann doch nicht ein zweites Mal in den Schoss der Mutter gelangen und geboren werden?“ Dabei ist es ziemlich offensichtlich, dass Jesus seine Aussage, man müsse von oben geboren werden, um das Reich Gottes zu sehen, nicht wörtlich gemeint hat.

Unkonventionelle Fragestellungen und Denkweisen können zu wichtigen wissenschaftlichen Entdeckungen führen und so zu den Errungenschaften der Menschheit beitragen. Trotzdem gibt es in der menschlichen Erfahrungswelt vieles, das sich wissenschaftlich nur schwer erfassen lässt, und wir finden nicht auf alle Fragen eine Antwort.
Z.B. auf die Frage über den Glauben. Wir können zwar Erhebungen erstellen und herausfinden, wie viele Menschen an Gott oder eine höhere Macht glauben und welcher Religionsgruppe sie angehören. Aber das Wesen des Glaubens und wieso jemand glaubt, das ist nicht exakt messbar. Jesus drückt es so aus: „Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, weisst aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Wir können dieses Geboren sein von oben oder aus dem Geist als eine Art Glaubenserfahrung bezeichnen. Glaubenserfahrungen geschehen einfach. So wie Menschen einfach geboren werden. Niemand hat mich gefragt, wann und in welche Familie ich geboren werden wollte – nein, es ist einfach geschehen, ungefragt.
Es gibt ganz spektakuläre Glaubenserfahrungen wie die vom Saulus, als er zum Paulus wurde. Manchmal berichten auch Mensch, die ein schweres Verbrechen auf dem Gewissen haben, von spektakulären Glaubenserfahrungen. Die meisten Glaubenserfahrungen sind aber ganz unscheinbar, so dass wir sie nicht als solche bezeichnen würden. Z.B. befinden wir uns in einer misslichen Lage, vielleicht weil wir Mist gebaut haben und merken, dass wir es alleine nicht mehr heraus schaffen – und plötzlich hilft uns jemand heraus. Oder wir sind niedergeschlagen, haben keine Hoffnung mehr – und plötzlich sehen wir wieder klarer, der Nebel lichtet sich, die Sonne scheint wieder, obwohl unsere Sorgen immer noch da sind. Bei solchen Erfahrungen wird uns bewusst, dass der Glaube ein Geschenk ist, so wie auch das Leben ein Geschenk ist. Man kann den Glauben nicht erzwingen. Ich kann nicht sagen: „Du musst einfach glauben!“ Das ist etwa gleich sinnvoll, wie wenn ich einem Kranken sage: „Du musst einfach gesund werden!“ Ja, man kann zwar den Glauben nicht erzwingen, aber man versuchen, die Sehnsucht nach Gott zu wecken, ähnlich wie beim Spruch von Antoine de Saint-Exupéry: „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen. Sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Nikodemus ist ein religiöser Mensch. Er kennt die Heiligen Schriften, legt Wert darauf, die Gesetze einzuhalten und er weiss sehr viel. Diese Begegnung verläuft aber eindeutig anders als wenn Jesus auf einen Blinden, Lahmen oder Kranken trifft. Da ist Jesus jeweils ihre letzte Hoffnung und ihr Glaube hat sie schliesslich geheilt. Jesus wirft Nikodemus jedoch vor: „Wenn ich vom Irdischen zu euch rede, und ihr glaubt nicht, wie werdet ihr da

glauben, wenn ich vom Himmlischen zu euch rede?“. Noch scheint Nikodemus in seinen religiösen Strukturen und Vorstellungen, ja in seinem Wissen gefangen zu sein.
Wenn die Religion abgrenzt, ausgrenzt und unterdrückt, dann stimmt etwas nicht. Nein, die Religion sollte aufrichten, in die Weite führen, die Augen öffnen, und in eine gesunde, lebens-bejahende Spiritualität führen.

Vorläufig hat Nikodemus aber noch kein Glaubenserlebnis, so dass es ihm wie Schuppen von den Augen fallen würde. Er befindet sich am Anfang eines Weges, der Zeit braucht und bleibt mit der Frage zurück: wie kann das geschehen? – wie kann das geschehen? Geht es uns nicht oft ähnlich? Gibt es nicht auch vieles im Leben, das wir nicht verstehen? Fehlt uns nicht auch oft der Glaube, wenn wir auf unsere persönlichen Sorgen schauen oder das Weltgeschehen mit Kriegen und drohender Klimakatastrophe vor Augen haben?

Wie geht es nun mit Nikodemus weiter? Es gibt noch zwei weitere Stellen im Johannes- evangelium, in denen Nikodemus vorkommt:
Im 7. Kapitel haben die Hohen Priester und Pharisäer entschieden, Jesus festzunehmen. In den Versen 50 und 51 lesen wir: „Nikodemus – der früher einmal zu Jesus gekommen war -, einer der Ihren, sagte zu ihnen: Verurteilt denn unser Gesetz einen Menschen, ohne dass man ihn vorher angehört hätte und wüsste, was er getan hat?“

Nikodemus wollte eine Festnahme Jesu verhindern. Er dachte, wenn seine Kollegen vom Hohen Rat Jesus mal begegnen würden, dann würden sie ebenfalls tief beeindruckt werden. Dann würden sie ihre Meinung ändern. – Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass Jesus festgenommen und gekreuzigt wurde.

Nach dem Tod Jesu finden wir die dritte und letzte Stelle: Ich lese aus Kapitel 19 die Verse 38 und 39: „Josef von Arimatäa, der ein Jünger Jesu war – ein heimlicher zwar aus Furcht vor den Juden -, bat Pilatus, dass er den Leib Jesu herabnehmen dürfe; und Pilatus erlaubte es. Also ging er und nahm seinen Leib herab. Es kam auch Nikodemus, der früher einmal nachts zu ihm gekommen war, und brachte eine Mischung aus Myrrhe und Aloe mit.“

Ist das nicht ein berührendes Bild? Nikodemus, einer vom Hohen Rat, ein Pharisäer, ein Wissenschaftler kümmert sich um den Leichnam Jesu! Somit hat es zwar Zeit gebraucht, aber diese Begegnungen in der Nacht mit Jesus hat ihn tief beeindruckt, ja sie hat sein Leben verändert. Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, weisst aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist. Amen.


[1] Der griechische Ausdruck, der mit der Wendung ‚von oben geboren werden‘ übersetzt ist, kann auch bedeuten: ‚von neuem geboren werden‘. In diesem zweiten Sinn versteht ihn Nikodemus (siehe V.4).


Simon Gloor

Physiker

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