Johannes 8,44

Johannes 8,44

(dänische Perikopenordnung)

Hinter den leidenschaftlichen Anklagen Jesu gegen seine Widersacher, die den Teufel, den Vater der Lüge, zum Vater haben, stehen zwei große Fragen: Wer ist unser Vater – mit anderen Worten: Wo gehören wir hin, wem gehören wir – gehören wir überhaupt jemandem? Und: Was ist Wahrheit, die Wahrheit über unser Leben?
Diese beiden großen Fragen gehören zusammen.

Die Leidenschaft, mit der Jesus sich ausdrückte, entsprang der Spannung, die Jesus mit frischen Augen sah, die Spannung zwischen der Behauptung der Juden, sie hätten einen Gott, und der Tatsache, daß sie ihn – Gott – gar nicht nötig hatten.

Statt dessen benutzten sie Gott als einen strengen Vater, dessen Gebote niemand zu übertreten wagte, und die sie deshalb einhielten – jedenfalls im äußerlichen Sinne, die sie aber auch nicht wirklich ernst nahmen, wenn es um Leben und Tod ging oder um die Frage des Herzens.

Gott war nicht der liebende Vater, vom dem wir im Gleichnis vom verlorenen Sohn ein radikales Bild erhalten haben, sondern der ferne, strenge Vater, dessen Gebote man einhält, um Streit zu vermeiden, wobei man ansonsten – wenn es darauf ankam – an sich selbst dachte und nach eigenen Regeln und denen der Familie lebte.

Was Jesus deutlich sieht, ist dies, daß ein solches Gottesverhältnis die ganze Wirklichkeit auf den Kopf stellt, so daß sie zur Lüge wird.

Ein solches Bild von Gott macht Gott zu einem eifersüchtigen Stammeshäuptling, der zufrieden ist, wenn er nur seinen Teil der Beute erhält und die äußeren Rahmen bestimmt – während die einzelnen Menschen oder das Volk insgesamt machen können, was sie wollen, ohne daß Gott sich einmischt. Den eigentlichen Teil des Lebens behält der Mensch für sich.

Aber das ist nicht wahr – eine Lüge über Gott und den Menschen. Denn wenn sich der Mensch nicht zu Gott verhält als der Gott, der das Leben gegeben hat und etwas Bestimmtes damit will, etwas, was der Mensch nur frei wieder zurückgeben kann, dann sagt das etwas darüber, wie sich der Mensch selbst versteht.

Wir sehen uns selbst nicht wie die Zeitgenossen Jesu – aber im Ergebnis ist es dasselbe: Gott wird an den Rand gedrängt, heraus aus unserem Blickfeld, wo wir nicht mit Gott rechnen. Für uns ist wichtig, daß wir unsere eigenen Herren sind – mit oder ohne Gott haben wir unsere Freiheit, die Freiheit und das Recht, unsere eigene Welt zu schaffen. Und wir sind nur uns selbst verantwortlich.

Indem wir das Gute im Menschen hervorheben und für die Befriedigung unserer Bedürfnisse sorgen, können wir einen Augenblick zwischen den Bürgerkriegen, die heute rasen, uns damit begnügen, an einen vagen Gott am Rande zu glauben – irgendetwas zwischen Himmel und Erde, was aber unseren Alltag nicht besonders beeinflußt.

Und mit der Freiheit und dem Recht, unsere eigene Welt zu schaffen, ist etwas über uns gekommen, was grenzüberschreitend und unersättlich ist. Zu den Dingen, die uns umgeben, aber auch zu unseren Mitmenschen und der Natur, zu der wir gehören, hat uns das ein Verhältnis gegeben, das vom Willen zu Besitz und Verbrauch geprägt ist. Und im persönlichen Bereich richten wir uns ein mit den Dämonen des Neides, des Beleidigtseins und der Unzufriedenheit, denn die geben uns Geborgenheit.

Wenn Jesus so verzweifelt spricht, wie er dies tut, so nicht nur deshalb, weil er mit frischen Augen sieht, sondern aus dem viel tieferen Grund, daß er weiß, daß seine Zusammengehörigkeit mit dem Ort, von dem er kommt, mit seinem Gott und Vater, ihm das Leben kosten wird. Weil die Menschen nicht verstehen, wer Gott ist, wenn er nicht sich selbst einsetzt, um es ihnen zu zeigen. Ihnen das zu zeigen, was vorher noch nie da war: Daß Gott auf seine Macht verzichtet – um mit uns in Beziehung zu kommen.

Nach außen, für die anderen, wehrt sich Jesus, aber es ist auch eine Verzweiflung in bezug auf Gott. Er fühlt, daß Gott in seine eigene Falle geraten ist und ihn, Jesus, zum Opfer gemacht hat.

Die Einsicht, um die er kämpft, in den Teilen der Bibel, die wir hier in der Passionszeit hören, ist die, sich selbst freiwillig zu einem Ausdruck für den Plan Gottes zu machen – während der selbst zugleich seinen Plan ändert, so daß es ihm im äußersten Fall selbst das Leben kosten wird – aber dafür das Leben der Welt retten wird.

Jesus wird darum aus einem willenlosen zu einem wahren Opfer: Das Leben Gottes, das sich der Welt hingibt, die ihn nicht versteht. Eine Gabe, die das offenbart, was wir nicht ertragen können und nicht hören wollen, daß nämlich Gott nicht eine Macht ist, an die wir Tribut bezahlen können, sondern ein Partner der Liebe. Dort wo Jesus zu damaligen Zeitpunkt sich befindet, besteht das Leiden darin, nicht verstanden zu werden.

Wir, die wir auf der anderen Seite des ersten Ostern leben, können nun sehen, daß Gott nicht schwach ist, weil unser Denken von ihm schwach ist, sondern weil er sich schwach gemacht hat .

Was Jesus hier allmählich deutlich wird, ist dies, daß die eigentliche Stärke darin liegt, sich schwach zu machen, die Mächte abzulehnen, denen wir sonst huldigen: die Notwendigkeit, den Abstand, das Überleben.

All das Machtvolle in seinem eigenen Wesen, das unserer Selbstbehauptung und Selbstbestätigung entspricht, opfert Gott.

Er entledigt sich von allem Zwang und aller Macht in einer einzigen großen Hingabe, die für ihn sehr traumatisch werden kann.
Denn wenn wir nicht die Liebe annehmen, geht er unter!

Aber mit Jesus als dem Ausdruck seiner Liebe kann er nicht anders als um Liebe betteln – weil er selbst reine Liebe ist. Wenn wir umkehren und ihm nun antworten, bedeutet das nicht, daß unsere Leben problemfeie Paradiese des Glücks werden – er nimmt nicht unser Kreuz von uns, das wir tragen – das kann er nicht, seine Kraft ist in Liebe verwandelt. Aber unsere Chance besteht darin, daß er uns niemals in Ruhe läßt mit unserem hausgemachten Gottesbild oder dem fernen Gott.

Was er tut, ist dies, daß er sich an unser Leben und Schicksal kettet, so daß wir an dem Anteil haben können, was uns begegnet. Und andere Bilder von Gott in uns wachsen lassen.

Der griechische Dichter Nikos Kazantakis kommt mit seinem Bild von Gott der Wahrheit näher, von der Jesus spricht:

Mein Gott ist nicht allmächtig.
Er kämpft, ist jeden Augenblick in Gefahr, zittert, stolpert, stößt zusammen mit jedem lebendigen Wesen, schreit.
Mein Gott ist nicht allgut.
Er ist voll von Härte, wilder Gerechtigkeit,
und er kann unbarmherzig sein.

Er ist eine Kraft, die alles enthält.
Sie gebiert alles, liebt alles, vernichtet alles.
Mein Gott ist nicht allwissend.
Sein Gehirn ist eine Harke von Licht und Finsternis,
und er versucht, sie in die Labyrinthe des Fleisches zu verwickeln.

Die Labyrinthe des Fleisches – das ist unser Leben. Unser Körper, unsere Geschichte. Darin lebt Gott.

Und deshalb können wir die anderen nicht gebrauchen, das hieße Gott wegstoßen und das Traumatische an der Liebe Gottes hervorheben. Wenn sich Gott nicht für sich hält, sondern mitten in unseren Leben lebt, dann sind wir nur Menschen, wenn wir in tiefer Abhängigkeit von einander leben, miteinander verwoben im Schicksal und im Dasein. Wollen wir wissen, wo wir hingehören, müssen wir auf die anderen schauen. Aus der Kraft, die darin besteht, seine Schwachheit zu sehen, wissen wir, wo Gott ist.

Gott hat eine unendliche Schwäche für uns.
Deshalb können wir da zuhause sein. Amen.

Pfarrerin Birte Andersen
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