Josua 1,1-9

Josua 1,1-9

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Neujahr
2000

1.1.2000
Josua 1,1-9

Wilhelm Hüffmeier


Liebe Mitchristen, liebe Gäste,

was soll ich euch sagen nach einer langen
durchwachten Nacht am Morgen eines neuen Jahres und Jahrhunderts? Genügt
vielleicht schon die Symbolik dieses Augenblicks: noch im Dunkel und doch schon
im Morgen? Gleicht der Glaube nicht einem Vogel, welcher singt, wenn die Nacht
noch dunkel ist, weil er das Licht schon in sich hat? Zuversicht heißt
deshalb ein anderer Name des Glaubens.

Stark ist diese Symbolik. Sie paßt nicht nur zum Glauben.
Jeder Mensch ist ein Wesen an der Grenze. An der Grenze zwischen Himmel und
Erde, Tag und Nacht, Vergangenheit und Zukunft. Genau von dieser Grenze redet
der Text der Predigt für die Neujahrstag 2ooo aus dem Buch Josua im 1.
Kapitel Vers 1-9.

Dazu will ich drei Dinge sagen:

  1. Von der Kontinuität der Werte im Wechsel der Generationen
    und Zeiten
  2. Von der Notwendigkeit, sich in Grenzen zu schicken und sie zu
    überschreiten
  3. Von der Fürsorge Gottes diesseits und jenseits der Grenzen

Zunächst:

1. Von der Kontinuität der Werte im Wechsel
der Generationen und Zeiten

„Nachdem Mose gestorben war“ (V. 1)
– dieser lapidare Satz kennzeichnet das Ende einer Ära. Ein Bruch wie
vor 1968 und danach, wie vor 1989 und danach. Der Patriarch, der, wie Thomas
Mann einmal formulierte, „in sich gewandte, von Gott gehemmte und
(zugleich) heftig befeuerte“ „geistliche“ Führer der Juden
ist nicht mehr. An die Stelle des „in äußeren Dingen fremd(en),
ums Heilige besorgt(en)“ Mose ist der junge, schlanke Josua getreten, ein
„feldherrlicher, strategischer Jüngling, ganz aufs Äußere
gerichtet.“ Manager statt Prophet. Was für eine Unterschied der
Charaktere, Lebensziele und Generationen. Doch spielen wir sie nicht
gegeneinander aus. Beide sind Berufene. Der fromme Patriarch und der kühle
Manager der Macht sind Instrumente desselben Gottes. Ihr Unterschied ist kein
Gegensatz. Sie dienen in gleicher Funktion: das Volk in eine bessere Zukunft zu
bringen.

Und wir hören für uns heraus: Es geht
weiter, auch wenn die von „Gott gehemmten und zugleich befeuerten“
Persönlichkeiten weniger werden und die, die aufs Äußere, auf
Erfolg und Spaß ausgerichtet sind, die Stützen der
Erlebnisgesellschaft, zunehmen. Du, Christenmensch sei getrost und unverzagt,
Gott regiert auch durch sie.

Allerdings eine Bedingung bleibt. Das Gelingen
des ambitiösen Zukunftsprojekts des Josua ist geknüpft daran, dass
„das Buch des Gesetzes nicht von seinem Munde kommt und er es betrachtet
bei Tag und Nacht“ (V. 8). Die neue Generation nach Mose bekommt die
Gebote Gottes, die Ethik, die Werte, die Moral mit ins Gepäck für die
Reise in die Zukunft. Das Gesetz des Mose wird nun das des Josua. Es
überdauert im Wechsel. Es soll Maßstab sein für das Handeln,
aber auch – wie Traubenzucker auf einer langen Skiwanderung –
Energiezufuhr für die Seele.

Das wäre das erste, was der Glaube im neuen
Jahrhundert hört und lernt und weitersagt: das Hohelied moralischer
Grundsätze. Nehmt euch Zeit, sie zu formulieren und aufzuschreiben. Sie
müssen nicht wortgleich sein mit den zehn Geboten, aber an ihren Themen
sollten sie orientiert sein: an Gott und seinem Namen, am Sonntag und seiner
Heiligung, an der Familie, an unseren Beziehungen und dem Gemeinwohl, am
wirklichen Leben und seiner Wahrheit.

Und nun das Zweite:

2. Von der Notwendigkeit, sich in Grenzen zu
schicken und sie zu überschreiten

„Mach dich auf und zieh‘ über den
Jordan, du und dies ganze Volk“ (V. 2), sagt Gott zu Josua. Er und das
Volk, der einzelne und das Ganze, das Individuum, die Familie und die
Gesellschaft – das ist das längst schon Gegebene, die Voraussetzung
und Begrenzung für alles Weitere. Sie sind krisengeschüttelt und
zugleich bewährt, voller Abgründe und doch gesegnet – in Israel,
bei uns. Diese alten Grenzen des Menschseins stehen nicht zur Disposition. Wir
sollten also das Neue in neuen Jahrhundert nicht überbetonen. Vieles soll
und muß beim Alten bleiben. Auch bei den alten Weisen des Umgangs
miteinander von der Ehrerbietung gegenüber den altgewordenen Menschen,
über die immer neu zu entdeckende alte Höflichkeit und die
Hilfsbereitschaft für in Not Geratene bis hin zur Gastfreundschaft
gegenüber Fremden.

Und doch, so wichtig und notwendig eingespielte
Verhaltensweisen sind, eine Zukunft nach Schema F ist der Tod im Topf.
Beziehungen brauchen Wandlungen, Geheimnisse und Überraschungen; die
Gesellschaft braucht Erneuerung in Wirtschaft und Wissenschaft. Ohne Erneuerung
keine Zukunft. Und keine Erneuerung ohne Wagnisse und Risiken. Dabei muß
die Moral, dabei müssen ethische Grundsätze nicht über Bord
gehen.

Aber einzelne moralische Gebote können auch
veralten, wie wir das im Bereich der Sexualität oder der Erziehung oder
der Gesellschaftsformen in unserem Jahrhundert erkannt haben. So wurde es
ehrlicher und freier und lebensfroher in unserer Gesellschaft und in unserem
Leben.

Im nächsten Jahrhundert steht freilich noch
einmal anderes und Neues zu Diskussion: nicht nur Genforschung und
–technik, sondern auch des europa- und weltweiten sozialen Ausgleichs, der
Wasser- und Brennstoffversorgung, der Konfliktprävention und
Friedenssicherung.

Dazu lautet das Zweite, was der Glaube im neuen
Jahr zu hören und zu praktizieren hat: wichtig ist der Anfang, die
große Jordanüberquerung. Laßt euch nicht von schwierigen
Anfängen beirren. Die Hälfte hat, wer angefangen hat. Und dann
Überschaubares sich vornehmen, dranbleiben und abschließen. So wie
Josua. Schritt für Schritt, Fußsohle für Fußsohle ist er
vorangegangen. Der Fortschritt ist eine Schnecke. Aber was er braucht ist auch
die Anerkennung von ein für allemal gesetzten Grenzen: die Freiheit des
anderen, die Würde und die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen. Sie
verbieten z.B. seine Klonung. Gott klont nicht.

Und nun das Dritte:

3.Von der Fürsorge Gottes diesseits und
jenseits der Grenzen

Das Neue jenseits des Jordans bereitet auch Angst.
Das Land ist unbekannt, die Menschen sind feindlich gesonnen. Die Risiken sind
schwer abzuwägen. Israel kommt als Eroberer. Ohne Verluste wird das Neue
nicht zu bekommen sein. Die Kräfte sind keineswegs frisch und
unverbraucht. Mit einer ähnlichen Selbsteinschätzung etwa
dürften auch wir in das neue Jahr gehen. Das Ende des alten ist ja nicht
automatisch ein Jungbrunnen. Es entläßt uns nicht aus den Sorgen und
Belastungen, aus dem Unabgegoltenen und noch nicht Eingelösten. Wir nehmen
das meiste mit. Das kann bedrücken.

Dagegen und gegen die Angst vor dem Neuen setzt
Gott das Gebot: „Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und
unverzagt seist“ (V. 9). Lassen sich Trost und Freude eigentlich gebieten?
Sozusagen als feinere Form eines „Nimm dich zusammen“? Für
Israel ist das Gebot mit einer Verheißung verbunden gewesen, nämlich
mit der Verheißung, in ein Land zu kommen, wo Milch und Honig
fließen oder, wie es anderer Stelle heißt, „Häuser“
sind „voller Güter“, „Brunnen“, „Weinberge“
und „Ölbäume“. Das heißt doch: die Zukunft, das, was
wir brauchen, ist schon bereitgestellt, wir müssen nur einziehen in das
Neue und nehmen, was Gott für uns vorgesehen hat. Der Glaube rechnet mit
seiner Fürsorge und hat dafür auch im Sichtbaren reichlich Anhalt und
Grund. Und selbst dort, wo wir noch nichts sehen, wo wir im Gegenteil ins
Stocken und Zweifeln und Hadern geraten, begleitet uns die Verheißung
„Ich will mit dir sein“. Zu ihr hat der Ja und Amen gesagt, der den
gleichen Namen erhalten hat wie Josua, Jesus von Nazareth. Josua und Jesus =
Jeschua – das bedeutet: Gott hilft . Wo aber der Helfer ist, da ist auch mitten
in der Dunkelheit schon Morgenlicht. Dann und am Tage noch viel mehr kann der
Glauben sein Lied der Zuversicht anstimmen:

„So komme, was da kommen mag,
So lang
du da bist, ist es Tag.

Und geht es in die Welt hinaus,
Wo du mir
bist, bin ich zu Haus.

Ich seh‘ dein liebes Angesicht,
Ich
sehe die Schatten der Zukunft nicht.“

Amen!

Dr. Wilhelm Hüffmeier, Berlin
Predigt am 1.1.2000 im
Berliner Dom

E-Mail:
office@leuenberg.net


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