Kein Platz bei Herrn Berge

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Kein Platz bei Herrn Berge

Predigt über Lukas 2, 41-52 | 2.So. n. d. Christfest | 3. 1. 2021 | von Jochen Riepe |

I

Weihnachtszeit. Ja, eintreten muß man ins leuchtende Haus und sich üben in Worten, die unsere Alltagssprache erheben und erwärmen: ‚Wißt ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist?‘ Darum gerade heute, liebe Gemeinde, lieber Leser, da das Jahr begonnen hat: Eine frohe, sprechende, singende, klingende Christzeit.

II

Es sollte ein Vorlese- Geschenk werden, eine echte Überraschung für die häusliche Andacht am Hl. Abend. Die große Schwester hatte mit Ben, dem Zweitklässler, geprobt: Lukas Kap. 2. Er wollte zunächst nicht, aber nach gutem Zureden ließ er sich überzeugen.

Nicht wahr, ein vertrauter, aber für einen jungen Vorleser auch schwieriger Text. Nicht nur der ‚Kaiser Augustus‘ und der ‚Landpfleger Cyrenius‘, die die lukanische Weihnachtshistorie eröffnen. Ben stolperte regelmäßig im sechsten Vers an einer Klippe, wie sie altertümliche Wörter gern stellen: ‚Denn sie hatten sonst keinen Platz in der –  Her-bér-ge‘, las er, und die Schwester verbesserte: ‚´Her-berge, Ben. Es heißt richtig: Her-berge. Du mußt anders betonen. Also, Konzentration!‘ Sie übten weiter, `mal wurde es richtig, `mal schlich sich der Fehler wieder ein: ‚Her-bér-ge‘… Wir wissen: Versprecher können hartnäckig sein.

III

Der Jesus unseres heutigen Predigttextes ist älter als Ben, zwölf Jahre. Aber ist schon ein Siebenjähriger für Überraschungen gut, wie dann erst ein Zwölfjähriger auf der Schwelle, im ‚Entwicklungsschub‘ zum Erwachsensein! Lukas erzählt im Anschluß an die Geburt und Darstellung des Kindes, gleichsam in einem biographischen Sprung, davon, was Jahre später in Jerusalem, der Stadt des Tempels, geschah. Es war Brauch, zum Passahfest mit der Sippe, mit Nachbarn und Freunden dorthin zu ziehen, aber es war ebenso üblich, wieder nach Hause zurückzukehren. Jesus, der Adoleszent, bricht das Reglement. Die Eltern gehen, er ‚bleibt‘ – im Tempel, am Ort der Lieder, der Gesänge, der Leser, Vorleser und Lehrer: ‚und seine Eltern wußten’s nicht‘.

Wir können uns die Aufregung vorstellen: ‚Kind, warum hast du uns das angetan?‘ fragt die besorgte Maria, als sie ihn endlich nach langem Suchen finden, und mit ihr haben viele Eltern so gefragt, deren Kinder ein neues Haus suchten. Ja, es gibt einen jugendlichen Eigensinn, einen ‚Auszug‘ von Zuhause, der Vater und Mutter entsetzt und ratlos macht.

IV

Ben und seine große Schwester hatten es gemerkt: Es ist nicht ganz einfach, lesend-vorlesend ins Haus der Gottessprache, der von vielen Generationen traktierten Texte, einzuziehen, und manche betreten es ja niemals, bleiben ‚in-fantes‘, ‚Nicht-sprechende‘ im Hinblick auf Gott: Diese alten Zeilen, was sollen die uns noch lehren? In der Mutter- und der Vatersprache, so sagt man, sind wir willkommen geheißen worden. Man sprach über, von und schließlich mit uns, und wir antworteten von Anfang an. Mit Eltern und Geschwistern begann es und die Einrichtungen der Gesellschaft setzen es fort: die Ausbildung der Fähigkeit, zu sprechen und die Welt zu erschließen.

Und die Gottes-Sprache? ‘Irgendwann habe ich begonnen, mir die Verwendung des Wortes Gott zu gönnen‘, sagt der Schriftsteller Andreas Maier*. ‚Wenn man sich dieses Wort verbietet, hat man extreme Schwierigkeiten, bestimmte Dinge zu sagen‘. Unser Vorleser Ben folgt ihm sozusagen in dieser Großzügigkeit sich selbst gegenüber: Er kehrt ein ins Haus der Gottessprache. Daß die Schwester mit ihm, dem kleinen Jungen, für den Weihnachtsabend übt, daß beide in diesem Haus sich sozusagen laut und deutlich bewegen, das mag für manchen ‚altbacken‘ oder anachronistisch sein. Aber wir kennen auch das: Wenn die Familienbibel aufgeschlagen wird, die fremd-vertraute Klangwelt der Luther-Übersetzung, dieses ‚Zweit-Originals‘(H. Meschonnic) der heiligen Texte, den Raum erfüllt, dann hat der Schritt ‚nach außen‘ in ein Jenseits der Alltagssprache auch für ‚coole‘ Zeitgenossen etwas Erhebendes und  Verzauberndes: ‚Her-bér-ge‘.

V

Und Jesus? Er, der nach Hause sollte, er bleibt am erhebenden Ort schlechthin – im Tempel Gottes, und dieser Ort wird uns vom Evangelisten nicht als ein Ort der Indoktrination, der Verführung von Minderjährigen, der gewaltsamen Ideologisierung  eines unreifen Jungen geschildert, sondern als ein Ort des ‚freimütigen‘ (Apg 4,13) Gottes-Gesprächs. Lukas schildert das anschaulich: Hören und Zuhören Fragen Antworten – erneut Zuhören, ein prinzipiell unendlicher Prozeß, bei dem man wirklich die Zeit und die Pflicht gegen seine Eltern vergessen kann: ‚Das wollt ich noch sagen… Könnt ihr‘s mir noch einmal erklären? Das habe ich noch nie so gedacht…‘

Nein, kein stures Auswendiglernen. Kein Herunterleiern von Formeln. Ein ernstes Bedenken und Suchen nach dem Gott, der sich sprechend seinem Volk kundtut. Ich weiß, Lukas tendiert zu einem altklugen Jesusbild: ‚ alle… verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten‘, und am Ende der Erzählung gipfelt dies in dem Satz: ‚Und Jesus nahm zu an Alter, Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen‘. Und doch erfaßt er wunderbar, wie ein junger Mensch ins vielstimmige Haus der Gottessprache und ihrer Schriften eintritt und auf diesem Wege mit Wissen und Weisheit bekannt wird, ja, argumentierend ‚zur Vernunft kommt‘**.

Er will hören, aber er will auch antworten und selbst gehört werden. Was war es für mich eine ‚Prediger-Glücks-Erfahrung‘, als mein Text, meine ‚fromme‘ Sprache, zum ersten Mal Gegenstand eines – damals sehr kritischen –  Nachgesprächs wurde!

VI

Der Heilige Abend nahte. Der Abend, an dem auch die in Sachen Religion unmusikalischste Familie in unserem Land das Haus der Gottessprache und Gotteslieder betritt – in diesem Jahr der Corona-Isolation vielleicht besonders wehmütig und tränenreich, zurückhaltend und leise. Vielfach verspottet und doch unverwüstlich: ‚Ja, o du fröhliche‘ und ‚Vom Himmel hoch‘, besonders aber ‚Stille Nacht…‘.

Mutter- und Vatersprache hießen uns willkommen und nahmen uns mit ihren Worten, Bildern, Begriffen und Sätzen in eine gemeinsame, wenn man so will: weltliche Welt hinein. Die Gottessprache aber – sie erleuchtet und erwärmt uns, so wie sie an diesem Weihnachtsabend Ben erwärmte, der sich feierlich bedächtig erhob. Ohne zu zögern, mit einem kurzen Blick auf die schelmisch nickende Schwester, nahm er die Familienbibel und begann zum Erstaunen der Alten zu lesen. ‚Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde…‘ Er gab sich große Mühe, klar und deutlich, auch für die Oma verständlich, das Evangelium zu verkünden. Nur die heikle Stelle – die Schwester wartete gespannt auf den sechsten Vers -, diese seine eigentümliche Betonung  oder sagen wir: seine individuelle Note, ja, die – blieb: ‚denn sie hatten sonst keinen Platz in der Herbérge‘.

Aber, o Wunder, keiner fiel ihm ins Wort. Keiner verbesserte, und Gott weiß: Sonst waren die am  Tisch versammelten Familienmitglieder nicht kleinlich im Korrigieren und Dazwischenreden. Man gönnte sich das Wort Gottes in höchstpersönlicher Fassung. Denn das ist ja das Ziel allen Sprechens in der Gottessprache: Ich ergreife Gottes Wort, lasse mich von ihm ergreifen, spreche es nach und gerade so darf es mein Wort werden – ‚voll Wärme und Licht im Angesicht‘(EG 171,2).

VII

Unsere Episode aus Jerusalem endet ähnlich versöhnlich. Darüber hat man immer wieder gestaunt: Dieser ‚Zwölfjährige Jesus im Tempel‘, dieser junge Mann, der ‚in dem war, was seines Vaters ist‘, er wurde kein frommer Sektierer, kein weltabgewandter Bücherwurm oder gewaltbereiter Zelot. Er kehrt mit seinen Eltern zurück nach Nazareth, und er, erhoben, gehoben‚ beherbergt im Worte Gottes, lernt das robuste Handwerk seines Vaters, baut Häuser und Hütten aus Holz, Stein, Mörtel und Lehm. Er ‚war ihnen untertan‘, so heißt es bei Lukas. Freier übersetzt: Er lebte in der Gemeinschaft seiner Familie und baute mit an einer gemeinsamen Welt.

Und die Gotteswelt? Das Haus der Gottessprache? Jeder, der einmal ‚im Tempel‘ war, der sich einmal zum Lesen hat ‚(ver-)führen‘ lassen, wer die Schrift sogar vorgelesen, vorgetragen und diskutiert hat, weiß: Wer sich in sie ‚hineinspinnt‘(W. v. Humboldt), kommt frei aus ihr heraus. Das ‚Schwungrad‘ der Gottessprache, das Jesus in Jerusalem soz. bewegte und antrieb, es wird seine Alltagssprache mitgenommen und – wie man heute sagen würde: kreativ- geöffnet haben.

Unsere Welt, unser Sprechen und Denken, gleichen manchmal einem Gefängnis. Eingesperrt in festen Sprachspielen. In Gott aber werden die vertrauten Szenen, die Hütten, Zelte und Häuser, Felder und Äcker, die Bauern, Kaufleute und Handwerker, die Witwen und die Kranken, die Kinder und Armen zu Sprachrohren und Gleichnissen seines Reiches. Eben diese Verbindung des Alltäglichen mit dem Göttlichen macht die individuelle Prägung, die Eigenart der Rede und Verkündigung Jesu aus. Wie ein anderer Prediger es ausdrückte: ‚ganz und gar göttlich, durch und durch menschlich‘(E. Jüngel).

VIII

Ja, unser beherzter Vorleser Ben. Aus einem Leser wird ein Fragender werden. Aus einem, der hört, ein Sprechender, dem man hoffentlich zuhören wird. Einer, der den Namen Gottes anrufen und anderen zurufen wird, und auf diese Weise ‚bestimmte Dinge‘ sagt, die sonst ungesagt bleiben. Und wenn er ‚das Wort‘ vergißt, wird ihn das Buch im Regal erinnern. Da steht’s geschrieben: ‚Wißt ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist?‘

Mutter und Vater setzten schon zum Lied vor der Bescherung an. Aber Oma meldete sich: ‚Ich weiß nicht …,  Kinder, das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk‘. Und sie ergänzte -soz. in Anlehnung an ‚das schöne: Nun!‘  des greisen Simeon (2,29)***- : ‚Ich werde diesen Ton mitnehmen … Ach, der Ben, wie schön‘. Die große Schwester konnte es sich nicht verkneifen. ‚Ja, dieser Sound, diese individuelle Note. Die Überschrift von Lukas 2 lautet ab heute: ‚Kein Platz bei er  HhHerrn Berge‘‘.

(Gebet nach der Predigt:) Lieber Vater im Himmel, in dieser Zeit treten wir ein – in die leuchtende Herberge deines Wortes. Schenke uns in allen Einschränkungen und Sorgen dieser Zeit Freude daran – im Lesen und Vorlesen, im Erzählen und Schreiben, im Argumentieren und Entdecken, im Singen und Spielen. Wehre du allem, was uns aus diesem Haus vertreiben will.

Liedvorschläge: EG 349 Ich freu mich in dem Herren; EG 171,2: Bewahre uns Gott

Bild: Max Liebermann, Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1879), Kunsthalle Hamburg

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*https://www.zeit.de/2005/12/L-Maier-Inter  **J. Ringleben, Gott im Wort Luthers Theologie von der Sprache her, 2010, S. 539, Anm. 11 ***‚…das schöne: Nun!‘ : J.S.B. Bach, ‚Ich habe genung‘. Kantate am Tage Mariae Reinigung ( 2.2. 1727) BWV 86 Nr. 4 (Rezitativ)

 

Pfr. i.R. J. Riepe   email: Jochen.Riepe@gmx.net

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