Der zwölfjährige Jesus – an …

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Der zwölfjährige Jesus – an …

Der zwölfjährige Jesus – an einer Kanzel im Naumburger Dom | Manfred Mielke | Predigt über Lukas 2, 41-52 | 2. Sonntag nach Weihnachten 3.1.2021 |

© Vereinigte Domstifter, C. Buchheim

Liebe Gemeinde,

im Naumburger Dom gibt es eine plastische Darstellung zur Geschichte des 12jährigen Jesus im Tempel zu Jerusalem. Er sitzt vergnügt, erlöst und befreit auf einem erhöhten steinernen Sessel. Zu diesem führt eine sehr lange Treppe hoch, schmal wie eine Dachbodenstiege. Rechts von dieser Treppe hocken und stehen erwachsene Männer. Ganz vorne einer mit aufgeschlagenem Buch, auf eine Textstelle zeigend, ein Schriftgelehrter. – Mir gefällt das Bild wegen der langen Treppe und wegen der gelösten, fast heiteren Stimmung auf den meisten Gesichtern. Mir wurde ein anderer Blick anerzogen, demnach seien die Priester und Schriftgelehrten grimmige Prinzipienreiter gewesen. Doch hier genießen sie sichtlich den Präsenzunterricht des jugendlichen Jesus.

Zu dieser Szene erzählt Lukas die Vor- und Nachgeschichte. Hören wir seine Reportage: „Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem. Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der junge Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. Sie meinten, er sei irgendwo in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort. Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten.

Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.“ (Lukas 2,41-52; Einheitsübersetzung)

Liebe Gemeinde,

um ihr Kind zu finden, eilen die Eltern zurück, im Gegenverkehr zu den vielen Pilgern, die nach Hause strömen. Dabei begegnen sich viele Blicke, was mich an eine ähnliche Situation erinnert. – Wir waren im Winter zu Verwandtenbesuchen in Berlin und wollten an einem späten Nachmittag den Reichstag besuchen, um rund um die Dach-Kuppel zu schlendern und die Lichter der Großstadt zu bestaunen. Wir standen an, es war bitterkalt und zugig. Die Schlange bewegte sich kaum, ich ging mit Unschuldsmiene nach vorne und fragte die Vorderen nach ihrer bisherigen Wartezeit. „Über eine Stunde“ war die grimmige Antwort, die übertönt wurde von einem Uniformierten: „Die Plattform fängt an zu vereisen, jetzt kommt keiner mehr rauf!“ Enttäuscht schlich ich entlang der Schlange zurück, wobei ich feindselige Gesichter sah, aber auch mitleidsvolle.

Unter gänzlich anderen Bedingungen eilen Maria und Joseph zurück durch die Pilgergruppen, ihren Jesus suchend. Sie „ernten“ glückselige Blicke, die das Passahfest widerspiegeln, aber auch Blicke voller Vorwürfe und Mitleid. Im Alter von 12 Jahren sind einige Halbwüchsige schon berufene Propheten; David ist ein Hirtenjunge, als er zum König gesalbt wird. Mit 12 Jahren muß Jesus mit auf die jährliche Pilgerreise seiner Eltern zum Passahfest. Auf dem Hinweg erinnert sich Maria, dass sie damals diesen Weg als Schwangere auf einem Esel ritt. Was sie dann mit Joseph in Bethlehem antraf, war die reinste Servicewüste. Doch diesmal war die Anreise komfortabel, das Quartier angemessen, das Fest wunderbar. Nun steht die Heimreise an. Dass beim Aufbruch Jesus fehlt, ist nicht weiter tragisch. Alle aus Nazareth kennen sich und 12jährige bilden gerne Cliquen. Sie schlafen ohne ihr Kind ein, doch als er auch zum Frühstück nicht auftaucht, entscheiden sie sich zur Rückkehr – im Zickzack durch die Nach-Hause-Reisenden, aber sie finden ihn nicht.

Das wirft ein weites Schlaglicht auf unsere Situation: Wenige Tage nach dem Weihnachtsfest und mitten in einer Pandamie fragen wir uns: Wo ist Jesus, wo ist Gott abgeblieben? Was, wenn wir ihn nicht mehr finden? Lohnt es sich, dass wir zurückirren? So, wie Jesu Eltern, die zurückhasten nach Jerusalem, gegen den mainstream. 3 Tage dauert ihre sorgenvolle Suche. 3 Tage? Der Prophet Jona war 3 Tage lang im großen Fisch, bevor er ausgespuckt wurde. Wann sind endlich die 3 Tage vorbei – für Jesus, für seine Eltern? Und für uns? Hoffentlich ist der Spuk bald vorbei, egal wie. Hauptsache, wir kommen heil aus ihm raus. Mit Gott? Ohne Gott? Bleibt er weg?

Liebe Gemeinde,

Joseph und Maria geben allmählich auf, ein Opfergebet im Tempel wäre eventuell noch eine Option. Dort entdecken sie ihn, kurz erfreut und tief erschrocken. In der plastischen Darstellung auf einer Kanzel(korb)seite des Naumburger Doms erkennen wir seine Eltern. Neben der Leiter, im Gegenüber zu den heiteren Schriftgelehrten. Joseph legt sich die rechte Hand als Abschirmung auf seinen sorgenvollen Kopf, mit seiner Linken hält er sich noch an seinem Wanderstab fest. Marias Kopf ist in der Höhe der Füße Jesu positioniert, ihre Augen sind geschlossen, ihre Hände zum Gebet aneinandergelegt. Soweit die klassische Rollenzuweisung für beide. In echt aber schimpft Maria: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich suchten dich unter Schmerzen.“

Wie aus einer anderen Zeit fällt das Schlaglicht dieser Szene auf uns. Wir merken, dass wir unsere Kinder nicht nur für uns haben. Und schon mal garnicht sollen uns unsere pubertierenden Kinder vorführen. Maria kann nicht blitzschnell umschalten auf eine Freude über die Verselbständigung ihres Kindes, ihr Schmerz bleibt hoch. Die katholische Tradition durchnummeriert sogar 7 Schmerzen Marias, die Tempelszene ist dabei ihr Schmerz Nummer drei. Doch Jesus betreibt kein Schmerzmanagement, sondern eröffnet ihr eine tröstliche Sichtweise, indem er fragt: „Wieso suchtet ihr mich? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“

Jesus ist nicht ungezogen, er zeigt vielmehr auf, dass er ein anderes Programm leben wird als seine Eltern. Seine Eltern sind Gottes-fürchtig und Gebote-befolgend. Sie leben ihren Glauben in völliger Übereinstimmung mit den guten mosaischen Regeln. Jesus aber deckt seine Berufung auf, im Haus, im Bereich, ja im Reich Gottes zu wirken. Jetzt wird auch klar, warum nur die Mutter fragt, denn es kommt ja auf die Unterscheidung der Väter an. Kann Vater Joseph, eingekrümmt im orthodoxen Denken, sein Vorbild sein? Oder ist es doch sein himmlischer Vater, der Jahwe Israels, mit dessen Wurzeln im Himmel und auf Erden? Jesus outet sich als von Gott gesandter Bote, noch vor seiner Taufe. Er wird in aller Konsequenz dem lebendigen, ungestümen Gott folgen, ja eins sein mit ihm.

Liebe Gemeinde,

wir spüren, dass uns das zu einer Entscheidung herausfordert. Jetzt ist Jesus nicht mehr „holder Knabe im lockigen Haar“, jetzt provoziert er einen anderen Glauben. Dazu erzählt Lukas mehrere Reaktionen. Die eine ist die der Schriftgelehrten. Der Urkundenabgleich ist für sie solange amüsant, wie es ein Gedankenspiel bleibt. Anders Maria, sie versteht ihn nicht, „bewegt aber alles in ihrem Herzen“. Das tat sie auch im Stall 12 Jahre zuvor, darin läßt Lukas sie nicht weiterkommen. Aber warum kann sie nicht an die Prophezeiungen anknüpfen, die sie selbst im Magnifikat ausgesprochen hatte? Sie kann das Neue, das ihr Sohn bringt, ihm nicht verschmerzen. Von ihr fällt ein Schlaglicht auf uns. Obwohl Nachfolge Jesu eine echte Option ist, möchten wir vorher und nachher lieber ohne Veränderung weitermachen. – Noch anders reagiert Jesus selbst. Er geht mit „hinab nach Nazareth“ und fügt sich in seine Herkunftsfamilie wieder ein. Er ist kein Wunderkind. Er deckt seine Gottessohnschaft auf, steigt herab vom Thron („Stuhl Moses“) und geht mit den gemeinsamen menschlichen Weg. Jesus fügt sich vorerst ein, aber als Erwachsener wird er den bisherigen Kult aus allen Fugen geraten lassen. Von innen her, das ist Lukas wichtig.

In der plastischen Darstellung im Naumburger Dom deutet der Künstler noch eine direkte Möglichkeit für uns an. Eine, ohne mit den Eltern erstarren zu müssen und ohne mit den Schriftgelehrten rumzublättern. Diese Möglichkeit deutet er mit der langen Treppe an. Die hat keinen unteren Anfang, sie beginnt außerhalb des Bildes vor unseren Fußspitzen. Sie kommt uns als Weg entgegen, so stellt sie eine Einladung an uns dar.

Für den halbstarken Jesus war sein Tempelbesuch ein Veränderungs-Abenteuer, dem ein verborgener Reifeprozeß voranging und ein demonstrativer folgte. Er ist eben nicht als Fertigprodukt vom Himmel gefallen, er mußte sich erarbeiten, was von vornherein seine Berufung war. Im Bild führt dafür zu seinem Hochsitz eine kleinstufige Treppe, die er offensichtlich „absolviert“ hatte und die er nun für uns freimacht. Der Künstler verdeutlicht uns mit ihr ein Angebot: Den Einstieg in einen eigenen Reifeprozeß.

Liebe Gemeinde,

so kurz nach Weihnachten stehen wir vor der Frage: Wohin wird uns unser Glaube führen? Ist Gott bereits der Welt und unserer Realität abhanden gekommen? Wir könnten achtsam den spirituellen mainstream absuchen, aber selbst dann werden wir auf Jesus stoßen, der uns heilsam in Frage stellt. Der uns bei unserer Rückreise in die neue Normalität zwar brav begleitet, aber dies im Bewußtsein seiner Gottessohnschaft. Ihm nachzufolgen ist das Evangelium, das alles verändert: die Familie, den Kult, die Gemeinde, auch die eigne Selbständigkeit im Zweifeln und im Heran-Reifen. So drängt, was mit Weihnachten begann, ungestüm in unser Leben. Amen

Vorschläge für Lieder:

EG 667 Wenn das Brot, dass wir teilen

EG 590 Es ist ein Wort ergangen

Tvd 321 Eingeladen zum Fest des Glaubens

Tvd 309 Aufstehn, losgehn, Schritte wagen

Thuma mina 239b Hoffnung für Kinder (Kanada)

Thuma mina 105 Gott, Zuflucht der Vergangenheit (England)

Gebet zum Jahreswechsel: (Saint Exupery zugeschrieben, siehe Internet: „infindung.com“)

Herr, ich bitte nicht um Wunder und Visionen, sondern um Kraft für den Alltag.
Mach mich erfinderisch, damit ich mich im täglichen Vielerlei nicht verliere.
Lass mich die Zeit richtig einteilen und mich herausfinden, was erst- und was zweitrangig ist.

Ich bitte um Zucht und Maß, dass ich nicht durch das Leben rutsche
und auf Lichtblicke und Höhepunkte achte,
sowie mir Zeit für Besinnung, Erholung und kulturellen Genuss nehme.

Träume helfen nicht weiter, weder über die Vergangenheit, noch über die Zukunft.
Hilf mir, das Nächste so gut wie möglich zu tun.

Schenke mir die nüchterne Erkenntnis, dass im Leben nicht alles glatt gehen kann,
dass Schwierigkeiten und Niederlagen, Misserfolge und Rückschläge
eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind, durch die wir wachsen und reifen.
Schick mir im rechten Augenblick jemand,
der den Mut hat, mir die Wahrheit in Liebe zu sagen.

Viele Probleme lösen sich dadurch, dass man nichts tut. Gib, dass ich warten kann.
Schenke mir wahre Freunde und lass mich diese Freundschaft wie eine zarte Pflanze pflegen.
Mach aus mir einen Menschen, der einem Schiff mit Tiefgang gleicht,
um auch die zu erreichen, die „unten“ sind.

Bewahre mich vor der Angst, ich könnte das Leben versäumen.
Gib mir nicht, was ich wünsche, sondern das, was ich brauche.
Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte. Amen

Bildnachweis: Naumburger Dom_Kanzel_JesusTempel

© Vereinigte Domstifter, C. Buchheim

Die Bildrechte sind nur für die Veröffentlichung bei „ Göttinger Predigten im Internet“ erteilt worden. Jegliche Weiterverwendung ist untersagt.

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn und Ruanda. Instrumentalist und Arrangeur.

Mielke, Manfred, Pfarrer i.R.

Manfred.Mielke@ekir.de

Am Bosserhof 13 a

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