Heranwachsen

Heranwachsen

2. Sonntag nach dem Christfest, 03. Januar 2021 | Predigt zu Lk 2, 41-52 | von Verena Salvisberg Lantsch |

Der Knabe Jesus spielt in Nazareth mit den Nachbarsjungen, unter anderem mit Judas. Er formt aus Lehm Vögel. Sie gelingen ihm gut, sehen ganz lebendig aus. Die Vögel von Judas geraten nicht. Sie sind schief, fallen immer wieder um. Deswegen ergreift ihn eine wütende Eifersucht und nachdem er seine Vögel mit dem Fuss plattgetreten hat, will er dasselbe auch mit den schönen Vögeln von Jesus tun. «Fliegt!», ruft Jesus seinen Tonvögeln zu. Sie werden lebendig und retten sich aufs Dach. Maria tröstet den wütenden Judas.[1]

Völlig verzweifelt, liebe Gemeinde, habe ich als Jugendliche diese Geschichte gesucht: Markus-, Matthäus-, Lukas-, Johannesevangelium: Nichts. Sonst wo im Neuen Testament? Auch nicht. Das kann doch nicht sein! Ich konnte mich lebhaft an jedes Detail erinnern. Eine Geschichte über Jesus, die muss doch zu finden sein. Und schliesslich die ernüchternde Einsicht: Sie steht gar nicht in der Bibel. Die Geschichte stammt aus einem Büchlein aus dem Bücherregal meiner Grossmutter: Christuslegenden von Selma Lagerlöf.

Die Begebenheit mit den spielenden Kindern, den lebendigen Tonvögeln, der Mutter, die das fremde, verzweifelte Kind auf den Schoss nimmt und tröstet – das alles hatte mich berührt.

Und jetzt also diese Ernüchterung. Ist es also gar keine «richtige» Geschichte über Jesus, wenn sie nicht in der Bibel steht?  Bloss Fantasie einer schwedischen Dichterin. Nils Holgersson lässt grüssen. Die Enttäuschung von damals spüre ich heute noch.

Aber warum bei der Enttäuschung bleiben? Eigentlich ist das doch gar nicht schlimm. Man kann die Legenden verstehen als Meditation der Frage, was eigentlich mit dem Krippenkind geschehen ist als es heranwuchs. Was hat eigentlich Jesus als Kind gemacht? Als Jugendlicher? Als junger Erwachsener? Wie war sein Verhältnis zu seinen Eltern und zum Vater im Himmel? Hat sich das, was bei seiner Geburt über ihn gesagt wurde, ausgewirkt auf sein Heranwachsen?

Eine berechtigte Frage, finde ich, die allerdings in der Bibel fast völlig unbeantwortet bleibt.

Markus- und Johannesevangelium haben bekanntlich keine Geburtserzählung. Bei Matthäus folgt auf die Weihnachtsgeschichte in Kapitel 2 unvermittelt die Erzählung über das Auftreten Johannes des Täufers in Kapitel 3. Lukas allerdings schliesst als einziger seinen Weihnachtserzählkranz ab mit der Geschichte vom 12-jährigen Jesus im Tempel.

Im Studium sind mir die Kindheitslegenden à la Selma Lagerlöf wieder begegnet. Ganz ähnlich wird in den sogenannten apokryphen Evangelien, das sind Berichte in Evangeliumsform, die aus theologischen Gründen nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden, erzählt. Ich nehme an, diese dienten Selma Lagerlöf als Inspirationsquelle. Im Kindheitsevangelium des Thomas z.B. wird diese Geschichte mit den Vögeln ganz ähnlich erzählt. Es gibt in dieser Schrift unter anderem allerdings auch die eher problematischere Geschichte, in der Jesus seine jüdischen Spielkameraden in Schweine verwandelt. Diese Texte waren im Mittelalter weit verbreitet und trugen dazu bei, dass es zu Anfeindungen gegenüber der jüdischen Minderheitsbevölkerung kam.

Das Kindheitsevangelium des Thomas ist ein Beleg dafür, wie gross das Bedürfnis in der sich formenden Christenheit war, mehr über Jesus zu erfahren. Man wollte wissen, wie er aufgewachsen war und was er in der Zeit vor seinem öffentlichen Wirken gesagt und getan hatte. Um diese Lücke in den Evangelien zu schliessen, entstanden Legenden und Legendensammlungen. Das, was man von seinem späteren Wirken wusste, wurde auf die Kindheit und Jugend zurückprojiziert. Ein Wunderkind muss er gewesen sein, eines das Tonvögel lebendig machen konnte und die Erwachsenen in Erstaunen versetzte.

Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten (Lk 2,47).

Und damit sind wir mitten in der einzigen Erzählung aus der Kindheit von Jesus, die, wie vorhin schon erwähnt, die Kindheitserzählungen im Lukasevangelium abschliesst. Eine Art Scharnier zwischen der Geburtsgeschichte und seinem Auftreten als Erwachsener.

Allerdings wohl weniger gedacht als Information zur Biografie Jesu. Dazu wäre ein einziger Bericht zu wenig. Details, wie die berührende Geschichte mit den Tonvögeln und den Spielkameraden sind keine zu erwarten. Aber hören Sie selbst:

Lesung aus Lukas 2, 41-52

41 Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem. 42 Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. 43 Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der Knabe Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. 44 Sie meinten, er sei in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. 45 Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten nach ihm. 46 Da geschah es, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. 47 Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten. 48 Als seine Eltern ihn sahen, waren sie voll Staunen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. 49 Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? 50 Doch sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen gesagt hatte. 51 Dann kehrte er mit ihnen nach Nazareth zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte all die Worte in ihrem Herzen. 52 Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.

Die Geschichte nimmt mit. Eine Familie unterwegs zum Fest in die Tempelstadt. Ein Ritual, ein Brauch, offenbar wichtig für die Eltern. Nach dem Fest, auf dem Heimweg, merken sie erst abends, dass ihr Kind fehlt. Sie dachten, er sei mit anderen unterwegs nach Hause. Sie fragen herum: Hat ihn jemand gesehen, schliesslich kehren sie nach Jerusalem zurück, um ihn zu suchen.

Die Geschichte nimmt mit. Wer hat das nicht schon erlebt? Das Kind verschwunden in der grossen Stadt. Ist ihm etwas passiert? Fehlt im etwas? Wo könnte es sein? Die Vorwürfe, die man sich macht. Wann haben wir es zuletzt gesehen?

Die verzweifelte Suche. Aufgeben kommt nicht in Frage.

Erst nach drei Tagen finden Maria und Josef Jesus im Tempel.

Er ist ins Gespräch vertieft mit den Schriftgelehrten. Hört zu, gibt Antwort.

Die Erleichterung. Der Ärger. Auch diese Gefühle können wir nachempfinden. Auch Wut. Der Vorwurf: Warum hast du uns das angetan? Wir haben dich gesucht!

In der katholischen Kirche gibt es die Tradition der sieben Schmerzen Mariens. Diese Erfahrung hier ist eine dieser sieben. Das Kind zu verlieren und der damit verbundene Kummer.

Die Antwort von Jesus ist nicht wirklich tröstlich. Nicht: Es ist alles in Ordnung. Ihr habt mich ja wiedergefunden. Sondern: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?

Ist das eine freundliche Erklärung oder eine freche pubertäre Gegenfrage? Eigentlich kein Wunder, dass die Eltern nicht verstehen, was er meint. Und andererseits doch auch seltsam, wenn man bedenkt, was alles über das Kind gesagt wurde nach seiner Geburt, von den Engeln, den Hirten. Wenn man bedenkt, wie Maria gesungen hat über das Kind in ihrem Bauch: Magnificat… Ist das alles vergessen? Dabei hiess es doch: Maria aber behielt alle diese Worte und bewahrte sie in ihrem Herzen (Lk 2,40)!

Mir gefällt, dass Lukas seine Geschichte schlicht hält. Dass er nicht bunt ausmalt, welch ein Wunderkind Jesus war. Was er für erstaunliche Taten schon als Jugendlicher vollbracht hat.

Mir gefällt, dass Lukas diese Geschichte erzählt.

Die Geschichte einer Familie, die die Traditionen und Rituale ihrer Religionsgemeinschaft schätzt und pflegt. Eltern, die ihren Sohn mitnehmen und mit diesen Traditionen vertraut machen.

Lukas, der die Frage nach der Familie stellt, nach dem Vater und dem Vater im Himmel. Dass er vom Tempel erzählt als etwas, wohin man gehören kann als junger Mensch.

Die Lehrer im Tempel reden mit ihm, staunen über sein Verständnis und seine Antworten.

Seine Göttlichkeit schimmert durch diese ganz und gar menschliche Geschichte hindurch.

Aber es braucht kein plattes Wunder.

Nach dieser Begebenheit geht er mit seinen Eltern zurück nach Nazareth. Und Lukas schliesst ab und leitet über zum weiteren Verlauf des Evangeliums, sprich, zum Auftritt von Johannes dem Täufer mit folgenden Worten.

Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen (V. 52).

Heranwachsen. Die Weisheit nimmt zu. Gefallen finden bei Gott und den Menschen.

Wilibald Bösen umschreibt das in seinem Buch über die Kindheitsgeschichten der Evangelien[2] wie folgt: 30 Jahre wachsen in der Horizontalen und in der Vertikalen

Auch ohne, dass viele biografische Details über die Kinder- und Jugendzeit ausgebreitet werden, kann man aus dem, was Jesus als Erwachsener erzählt, wie er sich positioniert, wie er handelt, herauslesen, dass in dieser Zeit des Heranwachsens einiges geschehen ist.

Eine «Entfaltung in der Horizontale», ein «Hineinwachsen in die Welt»[3], dafür sprechen seine Sensibilität für die Natur, für die Pflanzen und Tiere. Die Gleichnisse leben von seiner Vertrautheit mit der Lebenswelt der Menschen, Kritik an Politik und Tempel verraten den politisch wachen Beobachter.

Und gleichzeitig mag in dieser Zeit auch die Vertikale, die Ausrichtung auf Gott hin, gewachsen und gediehen sein. Im Judentum ist das der Weg über die Familie, die Feste im Jahr, die Synagogenschule, die Wallfahrten nach Jerusalem.

Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen (V. 52).

Gerade auch darin, nicht nur mit seiner späteren Botschaft vom Gottesreich, nicht nur in seinen Taten und Wundern kann er uns zum Vorbild werden.

Indem wir uns einladen lassen, heranzuwachsen. Die Welt sorgfältig wahrzunehmen und eine tiefe, tragende Beziehung zum Himmel zu entfalten.

Amen

 

Pfrn. Verena Salvisberg Lantsch

Roggwil

E-Mail: verenasalvisberg@bluewin.ch

Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Pfarrerin seit 1. Dezember 2018 in Roggwil BE, vorher in Laufenburg und Frick.

[1] Selma Lagerlöf, Christuslegenden. München 1921. (In Nazareth, S. 81ff)

[2] Bösen, Willibald: In Bethlehem geboren. Freiburg im Breisgau 1999, S. 199.

[3] Ebd.

de_DEDeutsch