Kohelet 3,1–15

Kohelet 3,1–15

Wem die Stunde schlägt – Es ist kurz vor zwölf! | Altjahrsabend | Koh 3,1–15 | Thomas Bautz |

Liebe Gemeinde!

Wenn ein Mensch verliebt ist – dem gilt: Dem Glücklichen schlägt keine Stunde:[1]

„Oh! goldne Zeit / Der Reise, wo uns jede neue Sonne / Vereinigte, die späte Nacht nur trennte! / Da rann kein Sand, und keine Glocke schlug. / Es schien die Zeit dem Überseligen / In ihrem ew’gen Laufe stillzustehen. / Oh! der ist aus dem Himmel schon gefallen, / Der an der Stunden Wechsel denken muß! / Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.“

Es gibt noch andere Glücksmomente: Wenn wir eine Prüfung bestehen; erstmalig eine Anstellung finden; womöglich gleich zu Beginn im Beruf aufgehen; eine Familie ein Kind erwartet und die Mutter nach der Geburt den Säugling überglücklich in den Armen hält. O ließen sich solche Momente für längere Zeit festhalten! – Es gibt aber Zeiten, vor denen wir – auf Dauer – zurückschrecken, unsere Vorstellungskraft malt düstere Farben, die Sinne lassen das Vorausliegende als zu schwer erscheinen:

„Warte nicht auf eine spätere, gelegenere Zeit, denn du bist nicht sicher, dass du sie haben wirst. Die Zeit entschwindet dir unbemerkt. Mancher hat sich noch Hoffnung auf ein längeres Leben gemacht, da kam der Tod. Darum versäumt, wer klug ist, keine Zeit und gibt die gegenwärtige Stunde, die ihm gehört, nicht unbenützt weg für eine andere, die doch nicht sein eigen ist.“[2] (Katharina von Siena)[3]

Ca. 600 Jahre später (1973) produziert die Rockband Pink Floyd den vielsagenden Songtext Time, integriert im Album Dark Side of the Moon:

Ticking away the moments that make up a dull day
Fritter and waste the hours in an offhand way
Kicking around on a piece of ground in your hometown
Waiting for someone or something to show you the way

Tired of lying in the sunshine, staying home to watch the rain
You are young and life is long, and there is time to kill today
And then one day you find ten years have got behind you
No one told you when to run, you missed the starting gun

And you run, and you run to catch up with the sun but it’s sinking
Racing around to come up behind you again
The sun is the same in a relative way but you’re older
Shorter of breath and one day closer to death

Every year is getting shorter, never seem to find the time
Plans that either come to naught or half a page of scribbled lines
Hanging on in quiet desperation is the English way
The time is gone, the song is over, thought I’d something more to say

Home, home again
I like to be here when I can
And when I come home cold and tired
It’s good to warm my bones beside the fire

Far away across the field
The tolling of the iron bell
Calls the faithful to their knees
To hear the softly spoken magic spells

Roger Waters aus der Rockgruppe Pink Floyd entwickelt sich zum hauptsächlichen Songwriter und Bandleader; seine Texte aus den Jahren 1973 bis 1983 setzen sich oft kritisch mit sozialen, politischen Themen auseinander. Das Problem der Zeit, des Zeitempfindens und des Umgangs mit der Zeit ist inzwischen aktueller denn je:  „Es ist höchste Zeit!“ – „Lasst uns keine Zeit vergeuden; es ist kurz vor zwölf!“ – Weltklimarat (2023): „Kurz vor zwölf war gestern“:[4]Weltuntergangsszenarien gab es schon seit Menschengedenken, doch dürfte die Not noch niemals in dem Ausmaß vorangeschritten sein, wie es unsere Zeit erlebt und noch viel aggressiver und folgenreicher in Erscheinung treten wird.

Zu verschiedenen Zeiten (!) haben Menschen als Individuen und im Kollektiv ein unterschiedliches Zeitgefühl entwickelt. Wir sehen, dass schon Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung (Kohelet[5])[6] Beschäftigung mit dem Phänomen Zeit und der Einstellung zu ihr brisant war. Kohelet präsentiert Reflexionen zur Bedeutung von Zeit und Stunde in poetischer Form als Lehrgedicht[7] mit vierzehn Gegensatzpaaren. Das erste Paar: Geburt und Tod markiert die Grenzen der menschlichen Existenz, was bedeutet: Wir haben unser Leben nicht in der Hand.[8] Wir können die eigene Geburt nicht beschließen; wir sterben eines natürlichen Todes oder an einer unheilbaren Krankheit oder werden gewaltsam aus dem Leben gerissen (Unfall, Tötung, Mord).

Diese Sichtweise vereinfacht zunächst die unterschiedlichen Erfahrungen mit der Zeit. Menschen, die gewaltsam aus dem Leben gerissen werden, haben, erleben gar keine Zeit zu sterben. Der Tod bricht abrupt über sie herein; oft vergeht nur eine Sekunde: Keine Zeit des Abschieds! Nur noch sterben! Umgekehrt haben viele Sterbende, die körperlich und seelisch leiden, das Empfinden, dass ihre Zeit quälend lange dauert. Ein demokratischer Staat maßt sich an, darüber juristisch und praktisch zu befinden, ob und wie und durch wen ihr Leben, sprich: ihr Leiden, ihr Sterben verkürzt werden darf. Zu viel Zeit wird für medizinische und rechtliche Spitzfindigkeiten verschwendet. Es sollte Sterbenden selbst und Menschen ihres Vertrauens überlassen bleiben.

Dann gibt es den leichtsinnigen Umgang mit der Zeit. Die einen hetzen durchs Leben, opfern ihr Leben für ihre Karriere und mehr Wohlstand, manche überfordern sich: Exitus mit Anfang dreißig,  Lebensende mancher Manager; welch eine Verschwendung an Begabung und Kompetenz! Auf der anderen Seite gibt es Menschen, nicht nur Jugendliche, die genau diesen „Lebensstil“ verfolgen, wie Pink Floyd es zum Ausdruck bringt oder entlarvt, sicher nicht anklagend, aber doch selbstkritisch für eine bestimmte Lebenshaltung gemeint.

Der turbokapitalistische Stil der Wohlstandsgesellschaft hat auf Grund seiner Einseitigkeit keineswegs nur Glück, Wohlergehen, Lebenssinn oder besser: häufig MEHR SCHEIN ALS SEIN hervorgebracht; er produziert  – durchaus im Sinne der MACHBARKEIT – zu viel des Guten. Bereits Jugendliche werden so verwöhnt (engl. spoiled: verwöhnt; verdorben), dass sie durch einseitige materielle Orientierung abdriften in Langeweile, die Zeit totschlagen und anfällig werden, ihr trostloses Dasein mit Drogen zu ersticken, sofern ihnen nicht verstärkt auch geistige und ethische Werte  vermittelt werden. Manche lassen sich dann auch anwerben von ideologischen, z.T. gewalttätigen Gruppen.

Es ist unerlässlich, dass wir uns in der Familie ZEIT FÜREINANDER nehmen, gerade weil heute doch die Gefahr besteht, dass sich jeder in sich selbst zurückzieht. Natürlich tun Eltern gut daran, ihren Kindern die Phase der Abnabelung zu ermöglichen, auch wenn es Erwachsenen schwer fällt, den (pubertierenden) Jugendlichen die ZEIT der SELBSTFINDUNG konsequent zu gönnen. Umgekehrt sollte eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens vorauszusetzen sein. KEINE ZEIT zu haben, meint mitunter, dass mir etwas oder gar jemand lästig ist; dann will ich keine Zeit haben. Ich poche auf mein Recht auf Freizeit und Freiheit, Befreiung von beruflichen oder privaten Pflichten.

Keine Zeit zu haben für einen Menschen in Not, bedeutet Lieblosigkeit, es sei denn, ich fühle mich ohnmächtig oder inkompetent. Dann hole ich eben Hilfe. Im Pflegeberuf ist das ZEITEMPFINDEN geradezu PARADOX: Das Personal leidet ständig real darunter, keine oder zu wenig Zeit zu haben für die alten und betagten Menschen, während diese unter einem Zuviel an Zeit leiden. Wer schon Jahre zuvor allein lebte, hat es schwer, im Pflegeheim Anschluss zu finden. Angebote des Sozialdienstes sind schön und gut, ersetzen aber nicht das persönliche Gespräch. Geistlicher, seelsorglicher Dienst böte hier ungeahnte Chancen; er muss aber unaufdringlich und auf Augenhöhe erfolgen; die Zeit, die darauf verwendet wird, darf nicht standardisiert werden. Sie sollte individuell angepasst werden.

Das unterschiedliche Zeitempfinden erleben wir auch im Alltag. Wird uns – etwa beim Warten – viel Geduld abverlangt, wird uns die Zeit zu lang. Sind wir in einem interessanten Gespräch oder erleben etwas Beglückendes, Frohstimmendes oder Erbauliches, kommt uns die Zeit viel zu kurz vor. Zeit wird subjektiv unterschiedlich empfunden und bietet verschiedene Aspekte. Es ist aber höchste Zeit für kreative, effektive Forschung, Umsetzung rettender Maßnahmen für die Menschheit: CARPE DIEM – nicht: Nach uns die Sintflut, heißt die Devise![9] Offenbar muss die Zeit selbst entscheiden, ob sich der Mensch besinnt (Only Time): „Who can say where the road goes? Where the day flows? Only time […].”[10] Die Zeit allein weiß, wohin uns der Weg führt.

Kohelets weisheitliche Poesie verkündet ganz eigene Perspektiven zum Thema Zeit. Er bietet kein Zeitmanagement im heutigen Sinn, aber er kann uns erinnern an notwendige Differenzierungen und gibt der Lebenszeit einen (vor)bestimmten Rahmen wie schon zu Beginn (Koh 3,1) deutlich wird:[11]

„Für alles gibt es eine Stunde, und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel.“[12]

« Il y a un moment pour tout et un temps pour chaque chose sous le ciel. »[13]

“Everything has an occasion, and every matter beneath heaven a time.”[14]

“Everything has its moment and every event its time under the heavens.”[15]

„Für alles gibt es eine Frist, und es gibt eine bestimmte Stunde für jedes Geschäft unter der Sonne.“[16]

„Für alles gibt es eine Stunde und eine Zeit für jede Angelegenheit unter dem Himmel.“[17]

Alles im Leben eines Menschen hat seine Zeit und Stunde; für jedes Vorhaben, jede Angelegenheit gibt es einen Zeitpunkt. Ein günstiger Augenblick beschert uns frohe Stunden; ein trauriger Anlass bereitet uns eine Zeit des Kummers. Kohelet führt je zwei antithetische Paare bestimmter Ereignisse an, so dass sie scheinbar nicht gleichzeitig auftreten (können) und „der Mensch keine Möglichkeit hat, diese Ordnung zu durchbrechen.“[18] Doch lassen sich diese als Dichotomien angeordneten Ereignisse und Tätigkeiten nicht nur als strikte Gegensätze auffassen. Außerdem bezeugt besagte Ordnung nicht zwingend, dass Kohelet die Lebenszeit des Menschen einem Determinismus[19]unterwirft.[20] Eher sieht er sich darin getröstet, dass das Leben „von Gott her bestimmt“ ist, während der Mensch unfähig ist, sein Leben vollständig zu überblicken (Koh 3,11.14–15).[21] Nur eins ist sicher: Dem Menschen wird vieles aufgebürdet; das Leben ist Arbeit und Müh (3,10).[22]

Es sind aufrichtige Gedanken, die Kohelet zur Sprache bringt; er verschließt nicht die Augen vor der Wirklichkeit des Lebens. Es sind aber nicht nur die extremen Gegensätze, die für viele Menschen eine Plage darstellen; vielmehr sind es eben diese Dichotomien, die Kohelet in seiner Weisheit beleuchtet. Die Dinge, die er anspricht, gehören teils zum Alltag. Sie sind nur nicht so gedrängt, geschehen nicht in solch enger Abfolge, wie Kohelet in rhetorischer Prägnanz vor Augen führt. Wenn wir nur ein paar Geschehnisse herausgreifen, verstehen wir, was er meint.

Pflanzen und Ausreißen kennt jeder Gärtner; wobei das Ausreißen nicht nur das „Unkraut“ betreffen muss. Abbruch und Aufbau sind aus der Baubranche bekannt. Zeit für Zärtlichkeit ist leider meist begrenzt, wenn Soldaten für ihr Land ihr Leben einsetzen, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit fern von der Familie. Manchmal muss man lange suchen, wenn man etwas verloren hat, aber man bewahrt gern gewisse Dinge auf, bis man sich wieder von ihnen trennt. Alte Kleidungsstücke oder Stoffreste lassen sich noch gut verwerten, indem man sie zerreißt und Teile so zusammennäht, dass sie Neues ergeben. Es gibt Zeiten und Situationen, in denen man gut beraten ist zu schweigen. Bei anderen Gelegenheiten ist es angebracht, ziemt es sich, zu reden und den Mund um der Wahrheit oder der Gerechtigkeit willen aufzumachen.

Wo Liebe erlebt wird, besteht auch immer die Möglichkeit, dass sie in Hass umschlägt, denn es sind zwei immens starke Gefühlswelten. Liebende haben meist viel miteinander aufgebaut, haben nicht nur Emotionen beiderseits, sondern auch für eine gemeinsame Zukunft finanziell investiert. Im Falle einer Trennung, meist begleitet von negativen Empfindungen, wird vieles zerstört, geht viel kaputt; Familien mit Kindern werden auseinandergerissen. Um das Sorgerecht wird gestritten, häufig von einem Partner unterlaufen, zeitliche Regelungen behindert. Wer liebt, kann auch hassen. In  sozialen Beziehungen, die zerbrechen und wo oftmals keine Partei Frieden findet, spiegelt sich auf kleinstem Terrain, was sich potenziert auf der Ebene der Länder und Völker abspielt als schier endlose Affinität zur sinnlosen Gewalt durch Eroberungskriege, Bürgerkriege, Terroranschläge einerseits und den zwangsläufig unermüdlichen, oft vergeblich erscheinenden Friedensbemühungen andererseits.

Dem weisen Philosophen, dem noch eine tiefgehende Gottesfurcht zu Eigen ist, erscheinen manche Gegensätze dann doch als unauflösliche Widersprüche. Er fragt sich: Ist es die Zeitgebundenheit des Menschen, dass ihn sein Handeln keinen dauerhaften Fortschritt erkennen und die Geschichte ziellos erleben lässt? Gibt es eine göttliche unabänderliche Weltordnung, die aber unbegreiflich erscheint? Wäre das nicht doch ein Determinismus, der Menschen hilflos macht, sie in Angst und Ungewissheit versetzt?[23] Oder gibt es womöglich eine, wenn auch undurchschaubare, göttliche Verantwortung?[24]

Im Grunde ist es Luxus, darüber nachzudenken, wenn unser Leben eine recht große Zeitspanne misst, im Unterschied zu Menschen in Kriegs- oder Seuchengebieten, deren Existenzdauer auf ein extremes Minimum schrumpft, von Augenblicken des Entsetzens, Schreckens und furchtbaren Ängsten geprägt. Und doch spüren Menschen in den satten, friedvollen, relativ konfliktfreien Ländern, dass ihr Leben endlich und zeitlich ist. Sie verteidigen ihr Leben, setzen sich zur Wehr gegen den Verlust, wenn die Zeit ihnen wertvolle Erfahrungen, schöne Erlebnisse oder gar geliebte Menschen entrissen hat. Nicht nur ältere Menschen, auch jüngere wissen um das zeitliche Vergehen, den Schmerz um den Verlust. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass die Uhr ständig tickt; viele Menschen in der schnelllebigen Gesellschaft stehen permanent unter Zeitdruck und versuchen diesen zu kompensieren.

Im Sport werden dank elektronischer Messungen Leistungen auf hundertstel Sekunden gemessen; die Zeitintervalle unter den ersten drei Athleten sind – gefühlt – oft äußerst gering. Hier hört doch der Sport als Wettkampf und die Freude daran auf, oder nicht?! Was nämlich nicht gemessen wird, sind unzählige, harte Trainingsstunden, immense Geduld, Entbehrungen, keine Zeit für die Familie, Verzicht auf vieles, das mindestens so viel Freude bereiten würde.

Der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas sieht Zeit nicht nur als Ticken der Uhren, als Ausdruck der Endlichkeit, sondern hält die „Loslösung des Menschen aus der Verhaftung an die Zeit und an die Geschichte, die Überwindung der Tragik des Subjekts“ für möglich. Der „Zeitlichkeit des Seins“ setzt er als Erwartung „den Sieg über den Tod von einer neuen, einer anderen Zeit“ entgegen. Er wendet sich vom traditionellen „Gegensatz von Zeit und Ewigkeit“ ab, zugunsten des Gegensatzes „einer Zeit des Sterbens“ „und einer Zeit der Erneuerung, der Wiedergeburt, der Transzendenz“.[25]

Ich komme nicht umhin, an Salvador Dalís (1904–1989) wiederholt verwendetes Sujet der Zeit zu erinnern, an sein Gemälde Die Beständigkeit der Erinnerung (1931), Die zerrinnende Zeit oder Die weichen Uhren.[26] Die lappigen, fließenden Uhren sind wohl ein Symbol für die Relativität von Raum und Zeit, eine surrealistische Meditation. Eine orangene Taschenuhr ist mit Ameisen bedeckt; auch sie gelten als regelmäßig verwendetes Motiv, bei Dalí Symbol für Tod und Verfall, sowie die Angst vor dem Zeitverlauf symbolisierend. Aufgelöst sind Vorstellungen von absoluter kosmischer Ordnung; unbegreiflich, undurchschaubar für uns, selbst wenn es sie gäbe, wie Kohelet sagt. Doch eben weil wir die Zeit als relativ erfahren, weil wir nicht exakt absehen konnten, was geschah, nicht genau wissen können, was kommen wird – weil wir die Vergangenheit, geschweige denn die Zukunft nur bedingt verstehen oder komplett zutreffend begreifen können, ist es desto wichtiger, die Gegenwart zu leben: CARPE DIEM! Nach der Zeitenwende predigt der Weisheitslehrer Rabbi Jesus: Sorgt euch nicht um das Morgen, das seine eigenen Sorgen haben wird. Es reicht, dass jeder Tag seine eigene Plage hat“ (cf. Mt 6,34).[27]

„Ich sah die Arbeit (und Mühe), die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen (und abmühen)“ (Koh 3,10).[28] „Es gibt nichts Gutes in ihrer Verfügungsgewalt, außer sich zu freuen und sich’s gut sein zu lassen, solange man lebt“ (3,12).[29] Also doch angesichts des Geschehens in Zeit und Geschichte sich entspannt zurücklehnen – nach dem Motto: (ein) Gott wird’s schon fügen? Nein, der Skeptiker, Weise und Zweifler, Kohelet, entlässt uns nicht aus der Verantwortung, ermutigt aber auch, denn es stimmt, dass Zeit und Geschichte[30] Düsteres und Lichtvolles hervorbringen. Und so etwas wie Weltschmerz oder künstliches Mitleiden, Weltuntergangsstimmung helfen niemandem. Sie würden uns nur lähmen. Nein, es gilt frohgemut und realistisch das neue Jahr zu begehen. Wir sind wohl alle darauf gespannt, was nun das Jahr 2024 bringen wird. Sicher hängt es vom Menschen selbst ab, vom Einzelnen, von Familien, Gruppen und Institutionen in der Gesellschaft, von Parteien, von Staaten. Mögen Bündnisse wie EU und NATO noch konsequenter handeln gegen Diktaturen, Gewaltherrschaft und gefährliche Ideologien. Wir wissen, dass demokratische Werte in den Augen von Autokraten nichts wert sind und Menschenrechte verachtet werden! Daher gilt es auch hier: CARPE DIEM!

„Schöpft die vorhandenen Möglichkeiten der Zeit aus, denn die Tage sind böse!“ (Eph 5,16).[31]

Amen.

Pfarrer Thomas Bautz

(„im Unruhestand“)

Bonn

th-bautz@t-online.de

bautzprivat@gmx.de

[1] Friedrich Schiller: „Wallenstein-Trilogie“. 1. Teil – Die Piccolomini, 3. Aufzug, 3. Auftritt (Gräfin Terzky und Max Piccolomini): Der frisch verliebte Max im Gespräch mit der Tante; oh, wer könnte diese Zeit festhalten!

[2] Verglichen mit den Schwierigkeiten, die Forscher bis heute beim angemessenen Übersetzen der einleitenden Worte in Koh 3 haben, trifft eine berühmte Mystikerin und Intellektuelle der Renaissancezeit mühelos den Sinn.

[3] 1347–1380; viell. aus: Katharina  von Siena und ihre Theologie. Eine Blütenlese, hg.v. Werner Schmid (2020), oder: Katharina  von Siena, Der Dialog. Ein Gespräch mit Gott über seine Vorsehung GA (2017), hg.v. W. Schmid.

[4] https://www.deutschlandfunk.de/weltklimarat-klimawandel-erderwaermung-ipcc-100.html

[5] Kohelet bedeutet wohl Versammlungsleiter, Versammlungsredner; TRE 19 (1990), Art. Koheletbuch (Diethelm Michel), 345–356: Name und Verfasserschaft, 345–346. Die Bezeichnung „Prediger“ ist untauglich.

[6] Die zeitliche Einordnung und Datierung des Buches Kohelet bereitet der Forschung Probleme; Aarre Lauha: Kohelet, BK AT 19 (1978, 32011): Verfasser, Zeit, Ort, 1–4;  Diethelm Michel: Qohelet, EdF 258 (1988): (9.) Abfassungszeit und Abfassungsort, 112–115; TRE 19 (1990), Art. Koheletbuch (Michel), 352: Zeit und Ort der Abfassung des Buches Kohelet; Antoon Schoors: Ecclesiastes (2013): Author, Date and Language, 2–7; Mette Bundvad: Time in the Book of Ecclesiastes (2015): The Question of Date, 5–9; Stuart Weeks: A Critical and Exegetical Commentary on Ecclesiastes (2020): The Date and Context of Ecclesiastes, 55–78.

[7] Cf. Markus Witte: Prediger / Predigerbuch (2006), wibilex, pdf, S. 5: Die Form des Predigerbuchs.

[8] Cf. Schoors: Ecclesiastes (2013): Essentials and Perspectives, 228–229: 229.

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Carpe_diem; Horaz: SW. Lateinisch-deutsch (2006): Carmina/ Oden 1,11; S. 30f.

[10] Enya (1961): Only Time (2000), zur musikalischen Untermalung der TV-Übertragung anlässlich der Anschläge vom 09. Sept. 2001 verwendet; https://de.wikipedia.org/wiki/Enya.

[11] Übersetzungen und Überschriften zu Koh 3,1–15 differieren; wir treffen eine Auswahl.

[12] „Zeit und Stunde“, Zürcher Bibel (2007), z.St.; die Jerusalemer Bibel (1979) übersetzt fast gleich, liest aber das gesamte Kapitel unter dem Aspekt des Todes und wählt daher die Überschrift „Der Tod“ (cf. Koh 3,19–21).

[13] „Les temps et la durée“, TOB (1986), z.St.

[14] „The Work of God and Humans“, Weeks (2020), 482 (ff).

[15] „A Time to Live and a Time to Die” (3,1–8), Bundvad (2015), 90ff. Der Autor begründet seine Übersetzungen aus dem Hebräischen (A. 16 u. 17).

[16] „Qohelets Version der weisheitlichen Lehre von der „rechten Zeit“ (3,1–9), Michel (1988), 135ff.

[17] „Gefangen in der Zeit“, Lauha (1978, 32011), 61ff. Wir entscheiden uns für diese Version.

[18] Lauha (1978, 32011), 64.

[19] Die Quantentheorie hat den Determinismus der klassischen Physik verabschiedet; Helmut Fink/ Meinard Kuhlmann (Hg.): Unbestimmt und relativ? Das Weltbild der modernen Physik (2023): Einleitung: Wechsel-wirkungen zwischen Physik und Philosophie (Helmut Fink), 1–14. Nach der speziellen Relativitätstheorie verstreicht die Zeit für Beobachter in relativer Bewegung unterschiedlich; die allgemeine Relativitätstheorie sagt uns, dass die Zeit für Beobachter in verschiedenen Höhen in einem Gravitationsfeld verschieden vergeht; cf. Stephen Hawking/ Leonard Mlodinow: Die kürzeste Geschichte der Zeit (2005): Gekrümmter Raum, 48–60: 58–60; Stephen Hawking: Die neue illustrierte kurze Geschichte der Zeit (2023): Raum und Zeit, 39–65; Carl Friedrich von Weizsäcker: Zeit und Wissen (1992): Die Zeit in der Physik, 278–295.

[20] Cf. Bundvad (2015): Determinism in 3,2–8?, S. 95–99.

[21] Cf. Michel (1988), 137; Minsu Oh: Sprachliche Gestaltung und Semantik. Untersuchungen zu den biblischen Büchern Proverbien und Kohelet, Kieler Theologische Reihe 13 (2014): Koh 3,9–15, S. 225–245; Gerhard von Rad: Weisheit in Israel (21982), 297.

[22] Cf. Weeks (2020), 482: “I have seen the work God has given to humans at.” Roland Meynet: Qohélet, Rhetorica Biblica et Semitica 31 (2021): L’homme est-il fait pour l’éternité?: « Je vois l’occupation que donne Dieu aux fils d’Adam pour s’occuper en elle » (101).

[23] Cf. Koh 3,14.15ab; Lauha (32011), 70; gründlich diskutiert bei Schoors: Ecclesiastes (2013), 270–279; Weeks (2020), 523–530; grammatische, genaue Analyse: Minsu Oh (2014): Koh 3,9–15, S. 225–245: 226–228; 236–245.

[24] Cf. Bundvad (2015): The Divine Responsibility, 106–109; sein Kommentar weist in die Richtung einer Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

[25] Wolfgang N. Krewani: Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen (1992), 102–103. Stephan Strasser: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Lévinas‘ Philosophie (1978): Jenseits der Zeit (II.) Zeitigung und Zeitlichkeit (§ 42) Zeitigung als stets erneutes Beginnen, 169–172. Lévinas müsste im Kontext seiner Ethik und Philosophie des Anderen gelesen werden, was hier nicht zu leisten ist; s. aber Lévinas: Die Zeit und der Andere (Le temps et l’autre, 1946/47, vier Vorlesungen), dt. hg.v. Ludwig Wenzler (2003).

[26] https://www.singulart.com/de/blog/2019/09/19/die-bestaendigkeit-der-erinnerung-und-salvador-dalis-beitrag-zum-surrealismus/.Öl/Lw. (26,3 x 36,5 cm), New York, Museum of Modern Art. Bildrecht: VG Bild-Kunst.

[27] Cf. Hans Weder: Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute (21987): Vom Sorgen, 205–223. Dabei geht es nicht ums „Sorgen für“ (sich selbst, für die Familie), nicht um Selbstversorgung, sondern um das ängstliche sich Sorgen machen und darum, sich nur um sich selbst, um die eigenen Belange zu kümmern.

[28] Lutherbibel 2017; Michel (1988), 137.

[29] Michel (1988), 137; cf. Lauha (32011): „Ich erkannte, daß es kein anderes Glück unter ihnen gibt, als fröhlich zu sein und sich im Leben wohl sein zu lassen“ (S. 62). Ich sehe V. 12 als „orthodoxe“ Einfügung, nicht V. 13.

[30] Zum Verhältnis von Zeit und Geschichte, s. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? (2013).

[31] Rudolf Schnackenburg: Der Brief an die Epheser, EKK X (1982), 237 u. 240 (A. 587).

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