Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt

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Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt

Predigtreihe „Passion im Lied“ – Laetare, 25.3.2001
Thema „Für euch dahingegeben“
EG 98 „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt“
von Stefan Knobloch


Für euch dahingegeben

„Für euch dahingegeben“ – die Formel ist irgendwie abgedroschen. Sie ist leer geworden im Laufe ihrer Weitergabe durch die christlichen Jahrhunderte: Jesus Christus, für uns, für euch dahingegeben. Als liturgisch gefügte Sprache mag eine solche Formel noch hingehen. Liturgische Sprache sei eben so; denn nur so bewahre sie sich, in immer gleicher Form. Aber einzudringen in ihren Inhalt, in den Inhalt ihrer Aussage eben davon hält uns diese Sprachform eher ab: Für euch dahingegeben.

Ich komme irgendwie ins Schleudern, sollte ich jemandem, der mich fragt, in wenigen Sätzen erklären, wie das mit dem „für euch dahingegeben“ gemeint sei. In einer Weise womöglich, daß der andere nicht von mir denkt: „Hat der komische Gedanken im Kopf! Das ist nicht meine Sache.“ Wenn ich also das „für euch dahingegeben“ in einer Weise erklären sollte, der der andere nicht nur aus Mitleid mit mir seine äußere Zustimmung gäbe, ohne daß ich auch nur im geringsten sein Inneres getroffen hätte, auch nur im geringsten so etwas wie ein nachdenkliches anfanghaftes Begreifen bei ihm ausgelöst hätte.

Das „für euch dahingegeben“ bringt mich ins Schleudern, nicht weil ihm kein erschließbarer Sinn zugrunde läge, sondern weil der Weg zu solcher Erschließung durch einschießende Erklärungsmuster blockiert zu werden scheint, die sich spontan einstellen, aber mein Gegenüber in keiner Weise überzeugen, so daß das Ganze doch wieder nur an dem Punkt endet, mit dem „für euch dahingegeben“ habe es nichts auf sich, was heute plausibel zu machen sei und die Menschen überzeugen könnte.

Die Störung, die hier im Spiel ist – bei meinem Gesprächspartner und zugegebenermaßen auch bei mir – hat eine lange Vorgeschichte und ist geradezu biblischen Ursprungs. Sehr früh fließt in die biblischen „Einsetzungsworte“ des Abendmahls und von da aus in das Verständnis des Todes Jesu das „für euch“, „für euch dahingegeben“, „für euch vergossen“ ein. So heißt es im ältesten uns dazu überlieferten Text, in 1 Kor 11: „Jesus… sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch“ (1 Kor 11,24). Beim Kelchwort allerdings fehlt das „für uns vergossen“. „Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut“ (1 Kor 11,25). Bei Lukas lauten die entsprechenden Sätze: „Und er (Jesus) nahm das Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis. Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blute, das für euch vergossen wird“ (Lk 22,19-20).

Und sogleich lösen diese „für euch-Formeln“, ganz egal, aus welchen Glaubensmotiven sie in die biblischen Schriften Eingang gefunden haben, bei uns heute die Frage aus: Ja, vor wem war diese Hingabe Jesu für uns zu erbringen? Wer erwartete diese unmenschliche Hingabe in einem qualvollen Tod eines viel zu jungen Lebens? Die gängige Antwort macht in Gott, dem Vater, den Schuldigen aus. Er habe das erwartet. Er habe erwartet, vielleicht sogar gewollt, daß sein Sohn für uns hingegeben werde, sterbe.

Ich habe alles Verständnis für Menschen, auch für Gläubige, die mit dieser Antwort nicht leben können. Ich kann es nämlich auch nicht. Und wir dürften dabei Jesus ganz auf unserer Seite haben. Denn es fällt auf, daß Jesu erste, zweite und dritte Leidensankündigungen, die uns bei den Synoptikern begegnen (Mt 16,21; 17,22-23; 20,17-19; Mk 8,31; 9,31; 10,32-34; Lk 9,22; 9,44; 18,31-33) stereotyp ohne eine Deutung seines Leidens und Todes, ohne das „für uns“ auskommen. Eine solche Deutung kam ihm offensichtlich nicht in den Sinn. Stellvertretend für alle anderen Leidensankündigungen, die in dem totalen Ausfall des „für uns“ alle übereinstimmen, sei hier lediglich die dritte Leidensankündigung nach Mt angeführt: „Als Jesus nach Jerusalem hinaufzog, nahm er unterwegs die zwölf Jünger beiseite und sagte zu ihnen: Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf; dort wird der Menschensohn den Hohenpriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert; sie werden ihn zum Tod verurteilen und den Heiden übergeben, damit er verspottet, gegeißelt und gekreuzigt wird; aber am dritten Tag wird er auferstehen“ (Mt 20,17-19).

Nichts von „für uns“ also. Was bleibt dann von dem „für euch dahingegeben“? Handelt es sich in dieser Formel um eine nachjesuanische, gegen Jesu eigene Absichten gerichtete Deutung seines Lebens und Todes? Nein, so radikal muß man es und darf man es nicht sehen. Es öffnen sich nämlich Interpretationsmöglichkeiten des „für uns“, mit denen wir leben können, die uns plausibel erscheinen.

Anknüpfen können wir dabei noch einmal beim sogenannten Abendmahl. Wir müssen dabei nicht auf den Streitpunkt kommen, ob Jesu Abendmahl ein Paschamahl war (wie es die Synoptiker sehen; vgl. Mt 26,17; Mk 14,12; Lk 22,15), oder ob es sich um ein Abschiedsmahl Jesu von seinen Jüngern handelte, wie es sich nach dem Johannes-Evangelium nahelegt: Vor dem Paschafest (Joh 13,1) fand ein Mahl statt (Joh 13,2). Feststehen dürfte, daß die unmittelbare Nähe des Termins des Paschamahles auch das Jesusmahl prägte. Jesus, der sich an allen zehn Fingern abzählen konnte, daß sein Leben menschlich verwirkt war – und in den Leidensankündigungen hatte er seine Jünger auf diese Tatsache vorzubereiten versucht – Jesus konnte sich angesichts der konkreten Gefährdung seines Lebens gut einklinken in den Sinn des Paschafestes, nämlich in die Feier des verläßlichen Gottes durch Dick und Dünn, der mit seinem Volke geht, was immer geschieht. Diese Erfahrung konnte, ja mußte in Jesus in der Situation höchster persönlicher Gefahr einen starkten Widerhall finden. Es gab für ihn – das konnte ihm in der Feier zur Gewißheit werden – einen Weg, eine Zukunft in Gott, seinem Vater, auch wenn es mit ihm zum Äußersten, zum gewaltsamen Ende seines Leben kommen sollte. So feierte er sein Abschiedsmahl eben auch als Bundesmahl, im Sinn der Gewißheit, daß Gottes Bund steht, komme, was da wolle, komme, was da wolle, auch wenn es sein persönliches Leben betreffe. In diesem Sinn konnte sich für die Jünger, die dabei insgesamt wohl wenig verstanden, wenigstens anfanghaft zeigen, daß Gottes „für uns“ in seinem Bund Bestand hat.

Nur war damit noch nicht der Tod Jesu als „Hingabe für uns“ begründet. Wie steht und stand es nun damit? Die Antwort muß noch einmal den Bundesgedanken aufgreifen, sonst wird sie nicht verständlich. Indem Jesus die Kraft hatte, in das Unabwendbare einzuwilligen, eher sein Leben dranzugeben, als sich selbst untreu zu werden, indem er etwa hätte sagen können (um Kopf und Kragen zu retten): „Ich habe mich mit meiner Gottesbotschaft getäuscht. An ihr ist nichts. Ich nehme sie zurück. Es bleibt alles beim alten, wie es euch die Hohenpriester und Schriftgelehrten beigebracht haben“ – indem Jesus sich treu blieb und damit seinem Vater treu blieb, gab er sich für uns hin. Nur noch einmal, wie? In welchem Sinn „für uns“? In dem Sinn, daß er lebend und sterbend ein unüberbietbarer Vertrauensbeweis in die Wahrheit des Bundes Gottes zu seinem Volk war. Aber auch in dem Sinn, als uns im Licht seiner Auferweckung durch Gott, seinen Vater, die Gewißheit und Verläßlichkeit des Bestandes des Bundes Gottes mit uns aufgehen konnte. So gesehen, starb Jesus „für uns“, weil sich „für uns“ aus seinem Tod und seiner Auferstehung Gottes Bund, Gottes Nähe zu uns Menschen neu bewahrheitete und als endgültig herausstellte.

Schwierig genug bleibt das für uns allemal, weil wir mit dem alttestamentlich zentralen Gedanken des „Bundes“ Gottes wohl zunächst nicht viel anfangen können. Er trifft unser Herz nicht. Bei „Bund“ denken heute die einen eher an die Bundeswehr und ihre Zukunft, die anderen an die ökologische Zukunft der Welt, jene also, die sich im BUND zusammengetan haben. Nicht um das Wort aber muß es uns gehen, sondern um das mit ihm Gemeinte: darum, daß Gott uns in Liebe und Zuneigung väterlich-mütterlich zugetan ist, in einer Weise der Zuneigung und Liebe, für die die menschliche Liebe unter zwei Verliebten nur ein schwacher Abklatsch ist.

Dem, worum es in seiner Komplexität im Tode Jesu geht, nähern sich gerne neuere Lieder, wie zum Beispiel das Lied Nr. 98 aus dem Evangelischen Gesangbuch, das Bilder und Metaphern gebraucht, um das annähernd auszuloten, was der Glaube vom Tod und der Auferstehung Jesu weiß, bewahren zu müssen.

Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt,

Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt…

Das, was wie Tod aussieht, das in die Erde gesäte Korn, ist in Wahrheit der Keim zu neuem Leben. Darin schwingt das „für“ mit, das Sich-für-etwas-anderes-Hingeben. Es ist ein Bild, holpriger gesagt, eine Eselsbrücke, um die Bedeutung der Hingabe Jesu zu ermessen.

Liebe lebt auf, die längst erstorben schien. Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün…

Vom Korn kann man natürlich nicht sagen, daß da Liebe im Spiel sei. Auch nicht, daß seine Liebe in der Erde erstorben sei. Aber als Bild für eine andere Sache vermag es uns anzusprechen. Zunächst als Bild der Liebe Jesu zu uns, der nicht zurückwich in die Rettung seiner Haut, sondern sich in der Geradlinigkeit seines Stehens zum Vater hingab, „für uns“, damit wir sehen und glauben konnten, daß an der Wirklichkeit dieses Vaters nicht zu zweifeln ist, daß auf ihn Verlaß ist, auch wenn es ganz anders kommt, als man es sich menschlich wünschen und erwarten würde. Dann aber ist die Rede von der Liebe, die auflebt, ein Bild unserer eigenen Erfahrungen, es ist die Rede davon, daß Liebe, die durch manche Passion, durch manche Enttäuschung gegangen ist oder einfach erstorben schien, wie durch ein Wunder wieder aufblühen kann, wie Weizen auf seinem Halm.

Das Lied erfaßt noch mehr. Über Gottes Liebe brach die Welt den Stab…

Auch hier klingen wieder mehrere Ebenen an. Zunächst die Erinnerung daran, daß damals über Jesus, den Vermittler der Liebe Gottes, der Stab gebrochen wurde, paradoxerweise – so paradox verläuft Gottes Geschichte mit den Menschen – „im Namen Gottes“. Denn den Umbau des Gottesbildes, den Jesus in seiner Botschaft von Gott vornahm, wollte und konnte das religiöse Establishment der Hohenpriester und Schriftgelehrten damals nicht mitmachen. Dann klingt in dieser Liedzeile noch die zweite Ebene an, daß die Welt mit Gottes Liebe nicht viel anfangen könne. Gerade heute kann man den Eindruck haben, es gehe um ganz andere Dinge, als um die feste Verankerung des Lebens in so etwas wie der Liebe Gottes. Aber noch eine dritte Ebene klingt an. Hat nicht nur die „Welt“ über Gottes Liebe den Stab gebrochen, sondern auch die Kirche? Indem sie es nicht durchhielt, von Gottes unbedingter, und das heißt, bedingungsloser Liebe zu sprechen? Indem sie Gottes Liebe ins Gegenteil pervertierte und sagte, Gott würde uns nur so lange lieben, solange wir ihn liebten? In einer Abwandlung einer Frage Jesu (vgl. Lk 6,32) könnte man fragen: Wenn die Kirche so von Gottes Liebe dächte, was täte sie da Besonderes? Könnten so nicht auch die „Heiden“ von Gottes Liebe denken? Um daraus gewissermaßen mit Recht die Schlußfolgerung zu ziehen, daß wenn es so um die Liebe Gottes stehe, wie die Kirche häufig verkünde, dann an ihr nicht viel sei, dann an Gott nicht viel sei.

Unser Lied versagt es sich nicht, am Ende auch noch eine moralische Spitze loszuwerden. Im Gestein verloren Gottes Samenkorn, unser Herz gefangen in Gestrüpp und Dorn…

Damit sind wir längst nicht mehr bei Jesu „Hingabe für uns“. Oder doch? Insofern seine Gottesnähe, seine Gottesbeziehung uns als Möglichkeit auch unseres Lebens nicht überzeugt? Bei uns nicht ankommt? Weil wir zu sehr um uns kreisen? Weil wir meinen, das Gelingen unseres Lebens hinge allein von uns ab? Geschenkt werde uns da nichts, schon gar nicht von der Liebe Gottes?

„Für euch dahingegeben“ – wir mögen mit Recht den Tod Jesu heute anders sehen, weniger als vom Vater „geforderte“ Hingabe, denn als Ausdruck der sich selbst treubleibenden Identität Jesu mit sich selbst. Darin ist er uns ein unerreichtes Vorbild. Und er hat Gott sei Dank zusammen mit seinem Vater auch für unser Nicht-Identischsein, für unsere Lebensfragmente, für das Auf und Ab unseres Lebens noch einmal eine Lösung: die Lösung seiner uns vorbehaltlos umarmenden Liebe.


Prof. Dr. Stefan Knobloch
Johannes
Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich Katholische
Theologie
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