Lukas 18,31-43

Lukas 18,31-43

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Estomihi, 25.
Februar 2001

Predigt
über
Lukas
18,31-43
,
verfaßt von Detlef Reichert


Liebe Gemeinde,

was wir nicht verstehen, ist uns fremd. Jeder Mensch ist für
uns solange ein Fremder, solange wir nichts von ihm wissen. Wenn er eine
Sprache spricht, die wir nicht kennen, ist er uns fremd, wenn sein
Äußeres nicht in unsere Kategorienbilder passt, ist er uns fremd,
wenn er uns vor Rätsel stellt, genauso.

Vor Fremden hat man sich immer gefürchtet, und je fremder sie
schienen, um so mehr. Daran hat sich nichts geändert. Und daran auch
nichts, dass Angst und Aggression Zwillingsschwestern sind, mit der Folge, dass
von alters her Fremde verfolgt und verjagt worden sind.

Geändert hat sich daran nichts. Oder doch? Haben wir
vielleicht ein wenig von dem gelernt, dass man fremden Menschen näher
kommen kann, dass sich Kenntnisse erwerben lassen, dass Verständnis
entstehen und wachsen kann, dass das geht: einen Anfang zu machen, Fremde zu
verstehen, die dann nicht fremd bleiben müssen, ein wenig zu uns
gehören können, und immer mehr ein wenig mehr? Vielleicht haben wir
davon ja doch an der einen oder anderen Stelle etwas dazugelernt. Aber erledigt
ist Fremdheit damit nicht.

Fremder als alles andere ist das, was wir Schicksal nennen, –
dunkel und rätselhaft . Gerade dort sprechen wir besonders
nachdrücklich von Schicksal, wo es über einen Menschen hereinbricht.
Wir suchen nach Gründen. Da, wo wir welche finden, erscheint uns das
Schicksal nicht so rätselhaft. Wenn wir Ursachen erkennen, wissen wir, da
muß man mit Wirkungen rechnen, da kann sich niemand ganz überrascht
und unvorbereitet zeigen. Sind nicht viele Menschen selbst schuldig oder
zumindest mitschuldig an ihrem Schicksal? Und sind nicht so viele andere
einfach die Opfer fremder Schuld oder böser Verhältnisse? So legen
wir es uns oft zurecht.

Aber das eigentliche Schicksal, das Schicksal im vollen Sinn des
Wortes, das beginnt erst dort, wo man niemanden mehr verantwortlich machen
kann. „Höhere Gewalt“ nennen wir das in amtlicher Sprache und in der der
Versicherungen, wo am Ende niemand haftbar gemacht werden kann. Dieses
Schicksal schlägt zu und trifft.

Dieses Schicksal ist der Fremde schlechthin. Man kann sich mit ihm
nicht verständigen, nicht mit ihm sprechen. Dieser Fremde ist stumm und er
macht stumm. Man kann ihn nicht kennenlernen. Er folgt keiner Logik und keinem
Gesetz. Kein Sinn ist darin zu finden, wie das fremde Schicksal den Menschen
überfällt und ihn zurichtet. Angst vor solchem Fremden zu haben ist
menschlich; ihn zu fürchten ist vernünftig; ihn zu bekämpfen
wäre heroisch; aber ihn zu verjagen, das ist noch niemandem gelungen.

Es ist offenbar diese Art von Schicksal gewesen, dem die
Jünger im Predigttext auf ihrem Weg nach Jerusalem mit Jesus begegnet
sind:

Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir
gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was
geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.
Denn er wird
überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und
mißhandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und
töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.
Sie aber begriffen
nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden
nicht, was damit gesagt war.
Es begab sich aber, als er in die Nähe
von Jericho kam, daß ein Blinder am Wege saß und bettelte.
Als
er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre.

Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.
Und er rief:
Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Die aber vornean gingen, fuhren
ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids,
erbarme dich meiner!
Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich
führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn:
Was willst du,
daß ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, daß ich sehen
kann.
Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.

Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles
Volk, das es sah, lobte Gott.

Die Jünger sind in dieser Szene verstummt. Sie antworten
nicht. Von ihnen ist nichts zu berichten außer ihrem völligen und
kopfschüttelnden Unverständnis. Sie verstehen nicht, heißt es
dreimal von ihnen: Sie begreifen es nicht, – sie verstehen es nicht, – es
bleibt ihnen dunkel. Das Schicksal, mit dem sie hier konfrontiert werden, ist
das Schicksal Jesu, und es ist damit auch ihr eigenes. Jesus hat seinen
künftigen Weg eben noch einmal ebenso nüchtern wie feierlich
beschrieben: Jerusalem, Karfreitag, Ostern. Das werden die letzten Stationen
seines Lebens sein. Das ist sein Schicksal. Und damit wäre ganz
unvermeidlich auch das ihre besiegelt. Endet die gemeinsame Sache als
Katastrophe?

„Wir aber hofften, er solle Israel erlösen.“ So haben andere
Jünger, nur kurze Zeit später, ihre Begegnung mit dem Schicksal
zusammengefasst. Aber es macht wenig Unterschied, ob die Katastrophe
tatsächlich schon eingetreten ist, oder ob man ihr sehenden Auges
entgegengeht. Muss man es nicht so ansehen, als hätten gerade in Fall Jesu
der Zufall und das blinde Schicksal der guten und gerechten Sache ein
böses und vorzeitiges Ende bereitet? Wie sieht es denn aus um die
Erlösung Israels? Wartet man nicht noch bis heute darauf?

Nicht alle Jünger haben fassungslos, traurig und resigniert
reagiert. Es gibt andere Stellen in den Evangelien. Nicht alle Jünger
haben den Einbruch des fremden Schicksals in die eigene existentielle und
universale Hoffnung einfach mit ohnmächtiger Geste hingenommen.

Petrus etwa, der seinem Herren widerspricht, und auf ihn einredet
und ihm den Weg nach Jerusalem ausreden möchte, bis hin zu der Sache mit
dem Malchus, dem er das Ohr abschlägt, – wir kennen die Geschichte und
auch wie sie ausgeht: Jesus lässt sich auf nichts ein. Volle
Zurückweisung, so schickt er Petrus weg und überläßt die
anderen Jünger ihrer Ratlosigkeit und Resignation. Sieht er nicht, wie das
Schicksal dabei ist, ihn und sein Werk zu zerstören? Oder sieht er mehr?
Sieht er tatsächlich etwas, das den Jüngern verborgen bleibt?

Hier, in der Erzählung des Lukas ist der wirkliche
Jünger, der in Wahrheit seinen Namen verdient, ein ganz anderer. Es sind
nicht die um Jesus herum, nicht die, die noch voller Hoffnung und Erwartung vor
den Jerusalemer Tagen mit ihm nach Jerusalem ziehen. Hier ist der wirkliche
Jünger der Blinde an der Straße, ein blinder Bettler. Von ihm
heißt es am Ende: Er folgte Jesus nach und pries Gott. Eben, ein
Jünger, – der Inbegriff eines Jüngers. Dieser Bettler richtet seine
Absicht und seine Sehnsucht in einem ganz anderen und eigenen Verhältnis
auf Jesus: Es hat mit Verstehen und Begreifen nicht viel zu tun. Er wendet
einfach seine ganze Existenz , sein ganzes Dasein wie eine offene Hand Jesus
zu. Er ruft und schreit und bittet, und Jesus selbst charakterisiert dieses
Verhältnis: Dein Glaube, sagt er, hat dir geholfen.

Das ist das Schlüsselwort dieser Geschichte: der Glaube, das
Vertrauen. Der Glaube hat diesen Mann zum Jünger gemacht. Der Glaube hat
ihm seine Gesundheit zurückgegeben. Der Glaube wird uns darin vor Augen
geführt als das sachgemäße Verhältnis zu Jesus – auch wenn
dieser Jesus auf dem Wege nach Jerusalem ist und ihn den Tod. Dieser Glaube,
das Vertrauen in den „Sohn Davids“, wie der Bettler sagt, ist das allein
sachgemäße und einzig angemessene Verhältnis zu ihm. In diesem
Vertrauen gibt es die Trennung zwischen Schicksal und Existenz, zwischen dem,
was mir zustößt und meinem Leben nicht mehr.

Das gehört zu den tiefen und angstvollen Momenten in unserem
Leben, dass wir meinen, unser eigenes Schicksal als etwas Fremdes zu erleben, –
dass wir unterscheiden zwischen uns selbst und den Geschichten, in die wir
verstrickt sind und in denen wir leben.

Das gehört dazu, dass wir in den Ereignissen, die uns
zugemutet und denen wir ausgesetzt werden, etwas Dunkles und Rätselvolles,
eine fremde, eine andere Macht am Werk sehen, – dass wir meinen, wir und unser
Leben sind nicht dasselbe. Wir leiden daran, dass wir mit zwei Göttern –
oder göttergleichen Mächten – leben müssen: einem Gott, der das
Leben hervorbringt und der offenbar auch für unsere Existenz
verantwortlich ist, und einem anderen Gott, der dann unser Schicksal spielt. Es
ist ein bitteres Gefühl, Spielball dieser dunklen Mächte zu sein, die
im besten Fall nichts voneinander wissen und im schlimmsten aufeinander
losgehen.

Wer den Gott der Bibel nicht kennt oder nicht kennen will, der
wird sich sein eigenes Leben kaum anders vorstellen und zurechtlegen
können. Der blinde Bettler, der zum Jünger mit gesunden Augen wird,
das ist mehr als eine legendäre Randfigur an der Straße nach
Jerusalem. Dieser Bettler ist das Symbol unserer menschlichen Existenz. Er ist
krank. Aber seine Krankheit ist, wie unsere Krankheiten auch, Bild und Symbol
unserer Bedürftigkeit.

Der kranke Mensch ist hier der beispielhafte Mensch. An ihm wird
sichtbar, was für uns alle gilt: Wir brauchen Hilfe und Heilung, – eine
tiefe Kluft besteht zwischen dem, was wir sein sollen, und dem, was wir sind.
Dazu kommt: Der Blinde war nicht nur krank, er war ein Bettler. Und auch darin
ist der Mensch überhaupt, ist jeder Mensch abgebildet. Wir sind Bettler,
sagt Luther, das ist wahr. Bettler sind angewiesen auf andere Menschen und auf
deren Mitleid. Im Bettler zeigt sich, dass jeder Mensch Hilfe braucht, die von
außen kommen muss, Hilfe, die er sich nicht selbst geben kann.

Jenes „Arzt, hilf dir selber“, das uns in der Passionsgeschichte
wieder begegnen wird, ist nichts weiter als ein zynischer Spottvers auf den
Menschen. Menschsein heißt im tiefsten Grund, sich selber nicht helfen zu
können. Wer als Mensch leben will, der ist angewiesen auf die Liebe
anderer Menschen, auf ihre Zustimmung und auf ihre Bereitschaft, Raum zum Leben
zu lassen. Der Mensch lebt, weil ihm geholfen wird zu seinem Leben, weil er
gerade nicht mit dem auskommen muss -und auch nicht daran zu Grunde gehen, was
er selbst und allein beizutragen und aus sich zu machen vermag. Wir leben von
dem, was uns ausgeteilt und gegeben wird – ob wir davon Kenntnis nehmen oder
nicht.

Der blinde Bettler wird zum Jünger durch das Vertrauen. Er
vertraut auf die Barmherzigkeit – auf die Barmherzigkeit Gottes, die den
Menschen eben nicht sich selbst und seinem zufälligen und dunklen
Schicksal überlässt. Wer auf die Barmherzigkeit Gottes schaut, der
vollzieht einen Wechsel der „inneren Blickrichtung“.

Das Schicksal mit seiner überwältigenden Macht hat seine
eigene eigentümliche Faszination. Es „bannt“ den Blick. Wer vom
Unglück betroffen und verfolgt wird, für den zentriert sich sein
ganzes Leben auf dieses Unglück, es wird sein Thema. Das Schicksal zieht
alle Gedanken auf sich, es beherrscht jedes Gespräch, und es
läßt nicht zu, dass ihm Konkurrenz erwächst. Es gibt eine Art
von Kumpanei, von Kamaraderie zwischen dem Unglücklichen und seinem
Unglück, durch die sein Leid an Glaubwürdigkeit verliert.

Wer auf die Barmherzigkeit vertraut, der löst seinen Blick
aus diesem Bann. Der sieht von sich ab und blickt auf, der lenkt seine Augen
aus dem zwanghaften Bann des Unmittelbaren weg in einen weiteren und
größeren Horizont. Der blinde Bettler ist ein Urbild einer solchen
Verwandlung. Er sitzt in sich selbst versunken und unter der Last seines
Unglücks gebeugt am Weg. Nichts könnte ihm sein eigenes Schicksal
deutlicher demonstrieren als der unaufhörliche Zwang, jeden Tag neu
für den Erhalt seines Lebens betteln zu müssen. Es gehört viel
dazu, aus diesem Kreis von Unglück und Notwendigkeit auszubrechen. Aber er
erkennt die Stunde. Er lässt sich nicht abschrecken und nicht
zurückhalten, bis er schreien kann: „Herr, erbarme dich!“.

Wer den Blick von sich abwendet und ihn auf die Barmherzigkeit
Gottes richtet, dem zeigt sich die Einheit von Dasein und Geschichte, von
Schicksal und Existenz. Der entdeckt, dass sein „Schicksal“ nicht etwas
Äußerliches oder Fremdes ist, sondern er entdeckt, dass gerade in
dem, was ihm widerfährt, sein Leben besteht und seine Wirklichkeit hat. Im
Licht der Barmherzigkeit Gottes wird sichtbar, dass unser menschliches Ich und
die Geschichte unseres Lebens miteinander identisch sind, dass sie von Grund
auf zusammengehören und an keiner Stelle getrennt werden müssen.

Wir versuchen uns zu helfen und trennen zwischen Person und
Schicksal, wo wir meinen nur noch Sinnlosigkeit zu sehen. Am Sinn meiner
Existenz will ich nicht zweifeln, also bleibt nur, an dem zu zweifeln, was
nicht in meine Pläne passt und mich aus der Bahn wirft.

Erst im Horizont der Barmherzigkeit wird deutlich, dass der Sinn
unseres Lebens nicht aus einzelnen und zufälligen Ereignissen
zusammengesetzt wird. Dieser Sinn gilt vielmehr einem ganzen Menschen im
umgreifenden Zusammenhang seiner Lebensgeschichte. Der Sinn ist nicht selbst
gemacht und kann nicht selbst gemacht werden. Er entsteht nicht durch die
Bedeutungen, die wir diesem oder jenem Ereignis zuschreiben Er wird empfangen
aus Gottes Hand.

Im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit als den Sinn unseres Lebens
können wir die Einheit von Dasein und Schicksal in unserem Leben begreifen
und verwirklichen.

Wie jenen blinden Bettler, so wird auch uns der Blick auf Jesus
Christus dabei leiten. Wir kennen Jesus Christus allein durch die Geschichte
seines Lebens, durch sein Schicksal. Er hat die Identität von Person und
Geschick an sich selbst verwirklicht und durchlitten. Darin ist Gottes
Barmherzigkeit Mensch geworden.

Wir werden nicht aufhören, ratlos und ohnmächtig vor
zugemutetem Schicksal zu stehen. Aber auch dort stehen wir im Vertrauen darauf,
dass die Barmherzigkeit Gottes noch größer ist.

Amen

Sup. Dr. Detlef Reichert
Gneisenaustr. 76
33330
Gütersloh
E-Mail:
SuperintendentGT@aol.com


de_DEDeutsch