Lasset das Zagen…

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Lasset das Zagen…

Lasset das Zagen, verbannet die Klage | Predigt über Hebräer 1,1-4 (5-14) am Zweiten Weihnachtstag 2020 (Christfest II) | von Bernd Giehl |

Vor einiger Zeit habe ich im Fernsehen eine Sendung über „Schwarze Löcher“ gesehen. Dieses Phänomen gibt es im Weltraum. Bisher sind sie mit keinem Teleskop der Welt zu sehen gewesen. Seit hundert Jahren etwa wissen die Naturwissenschaftler von ihnen. Jedenfalls die, die sich mit Albert Einsteins „Allgemeiner Relativitätstheorie“ auseinandergesetzt hatten. Dort wurden sie erstmals propagiert als Ergebnis der Krümmung der Raumzeit.

Schwarze Löcher gibt es im Universum. Es sind, oder vielleicht sage ich besser: es waren Sternhaufen. Tausende, vielleicht Millionen von Sternen, die kollabiert, die in sich zusammengestürzt sind, dadurch eine immense Schwere erreicht haben (viele Sonnenmassen). Durch ihr Gewicht werden sie immer „hungriger“ und ziehen so andere Sterne in ihre Nähe, die erst auf eine Umlaufbahn um das Schwarze Loch hineingeraten und irgendwann, wenn sie ihm zu nahegekommen sind, zerrissen und vom Schwarzen Loch verspeist werden. Das der Erde nächste Schwarze Loch befindet sich im Sternbild des Schützen und wurde von seinem Entdecker „Sagittarius A Stern“ genannt. Diese Schwarze Loch ist etwa 4 Millionen Sonnenmassen schwer und etwa 27.000 Lichtjahre von der Erde entfernt.  Das klingt nach einer großen Entfernung, ist es aber nicht. Jedenfalls nicht im kosmischen Maßstab. Tröstlich ist aber: wir haben noch einige Jahrtausende Zeit bis auch unser Heimatplanet verschluckt werden wird.

So ein Schwarzes Loch ist schon etwas Unheimliches. Raum und Zeit gibt es in ihm nicht mehr. „Sichtbar“ (falls die Metapher erlaubt ist) werden sie nur durch die Radiowellen, die von den Sternen an ihrem Rand gesendet werden, die „demnächst“ vom Schwarzen Loch verschlungen werden und damit aufhören zu existieren.

Im letzten Jahr ist nun zum ersten Mal ein Schwarzes Loch fotografiert worden. Möglich wurde das durch die Zusammenschaltung der größten Planetarien auf fünf Kontinenten. Sichtbar ist es deshalb, weil ein Lichtkranz um das Schwarze Nichts existiert

Eigentlich ein fast perfektes Bild vom Nichts. Und doch sagen die Astronomen, die sich damit beschäftigt haben, dass wahrscheinlich durch sie das Leben auf der Erde erst entstanden ist.

*

Keine Sorge. Ich werde jetzt nicht darüber spekulieren, wie das möglich war. Ich verstehe so gut wie nichts davon. Aber falls Sie jetzt denken, dann solltest du auch nicht davon reden oder sich sogar vorgenommen haben, mir das bei der Verabschiedung am Ausgang zu sagen, entgegne ich: Ich verstehe auch nicht viel von meinem Predigttext. Allenfalls verstehe ich ihn in Ansätzen. Aber er fasziniert mich genauso wie das Schwarze Loch.

Ob wir Gott wohl verstehen würden, wenn wir die Schwarzen Löcher des Universums verstandesmäßig durchdrungen haben? Vermutlich residiert er ja hinter dem Schwarzen Loch, nur dass sein Licht von diesem Ungeheuer nicht verschlungen werden kann.

Von diesem Licht hinter der Dunkelheit erzählen die ersten Verse des Hebräerbriefs. Hören wir noch einmal hinein:

Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat. Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe.“

Vielleicht verstehen Sie ja jetzt ein bisschen besser. Oder Sie haben zumindest eine Ahnung, wie es weitergehen könnte.  Zuerst war auch mir nicht ganz klar, warum es gerade dieser Anfang mit dem Großen Nichts sein musste. Zu Beginn schrieb ich ihn nieder, dann blieb er eine lange Zeit liegen. Ob ich ihn fortsetzen würde, wusste ich nicht, weil mir nicht klar war, warum ich ihn gewählt hatte. Einen Monat später kehrte ich zu ihm zurück und wusste: Das ist es!  Es war der Respekt, der den Text und die Bilder miteinander verband. Respekt vor den gewaltigen Dimensionen. Respekt vor der ungeheuerlichen Sprachkraft, die einen in sich hineinreißt und wirbelt. So möchte ich auch einmal predigen können. So wortgewaltig. Vielleicht schaffe ich es ja, wenn ich noch fünfzig Jahre übe. Dann bin ich 117 Jahre alt und habe womöglich lange genug geübt.

Gut, das ist nicht mehr unsere Sprache. Aber irgendetwas merke wohl nicht nur ich von seiner Sprachgewalt. Es klingt so, als ob Gott noch einmal anfinge, die Welt allein mit der Kraft seiner Sprache zu schaffen. Und erst einmal alles durcheinanderwirbelt.

Irgendwie passt dieser Text. Passt zu uns. Passt zur Situation.

Passt zum Corona Jahr.

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Falls Sie jetzt Ihren Ohren nicht trauen sollten, sage ich: Ja, das habe ich so geäußert. Gewiss war das ironisch. Nur weniger ironisch, als Sie glauben.

In den letzten Wochen war viel davon die Rede, dass der November-Lockdown mit seinen harten Maßnahmen leider notwendig sei, damit wir einigermaßen unbeschwert Weihnachten mit ein paar Verwandten feiern könnten. Es war ein kleines Licht im Dunkeln, das man vor dem kalten Wind beschützen musste. Wenn wir allen Abstand hielten; Masken trügen und die übrigen Regeln einhalten würden, könnten wir Weihnachten vielleicht sogar wieder in die Kirche gehen.

Na ja, so ungefähr. Sie wissen, wovon ich rede. Das alles quillt mir aus den Ohren heraus. Manchmal verzichte ich schon auf die Nachrichten, weil sie wahre Stunden der Volkserziehung sind.

Nichts nötiger als die Hoffnung, dass es noch einmal anders wird. Nur dass schon wieder der kalte Wind weht und unser kleines Licht auszublasen droht.

Allmählich kommen wir näher. Sollen wir eintreten? Wahrscheinlich ist es drinnen nicht so kalt. Ich klopfe mal vorsichtig an die Tür. Vielleicht macht ja jemand auf.

*

Tatsächlich. Uns wird geöffnet. Ein Türwächter schaut nach, wer da ist. Er bittet uns herein. Einige treten ein und schauen sich neugierig um; andere zögern noch. Ist es das, was wir erwartet haben? Der zugige Stall mit dem Loch im Dach, durch das die Sterne funkeln und der Mond scheint? Nein, das ist es nicht. Das ist es ganz und gar nicht. Eher gleicht der Text einer orthodoxen Kathedrale, wie sie in Sankt Petersburg stehen könnte; eine russische Kirche mit vielen Kuppeln und gewaltigen Ausmaßen. Vorn steht der Metropolit, umgeben von prächtig gekleideten Priestern, die Rauchfässer aus Silber oder Gold schwingen. Es riecht so intensiv nach Weihrauch, dass mir fast schwindlig wird. Hinter dem Altar steht der Männerchor in Mönchskleidung und erfüllt den Raum mit seinem betörend schönen Gesang. Natürlich singt er auf Russisch und wer versteht das schon? Noch dazu, wo die Liturgie in Kirchenslawisch gesungen wird, also in einer alten Form der russischen Sprache.

Wollen wir bleiben? Gewiss haben wir das nicht erwartet. Aber womöglich sind wir ja neugierig geworden. Da ist es nicht so schlimm, dass unsere Erwartungen erst einmal enttäuscht wurden.

Also bitte: Nehmen Sie Platz.

*

Vielleicht phantasiere ich ja. Aber plötzlich verstehe ich den Priester. Er fängt jetzt mit seiner Predigt an. „Der große und unerforschliche Gott hat in seiner unendlichen Güte beschlossen, sich uns Menschen zu zeigen. Auch vorher hat er sich schon durch seine Propheten und Priester vernehmen lassen. Mal grollend wie ein ferner Donner, der sich bald schon in ein furchtbares Unwetter verwandelt und das Land verwüstet, dann wieder leise und schön wie der Gesang der Engel im Abendrot. Aber einmal, ein einziges Mal will er sich den Menschen zeigen, damit sie fürderhin den Weg zu ihm finden und nicht länger im Dunkeln die Richtung suchen müssen. Er hat sich überlegt, dass er, wenn er uns sich in seiner wahren Gestalt zeigen würde, wir nur ein grelles Licht sehen würden, das uns erblindem ließe. Deshalb hat er beschlossen, die Gestalt eines Kindes anzunehmen. ‚Aber wer wird schon auf ein Kind hören?‘, hat der Engel bei der wöchentlichen Konferenz gefragt. Gott hat nur gelächelt, und der Engel ist rot geworden. Beinah wäre er gegangen, aber ein Blick des Chefs hat ihn auf seinem Stuhl gehalten. Danach hat keiner mehr gewagt zu fragen.

„Ich werde das Kind eines Zimmermanns aus Nazareth werden“ sprach Gott weiter.

„Aber Jesaja schreibt doch, der Messias wird in Bethlehem geboren,“ wagt ein ganz vorwitziger Engel einzuwenden.

„Wo du recht hast, hast du Recht“, erwidert Gott. Dann fragt er in die Runde: „Ist Jesaja da?“

Er braucht noch fünfhundert Jahre, bis er die Stufe eines Engels erreicht, wird ihm beschieden.

Gott schickt einen Weltraumgleiter zum übernächsten Stern und innerhalb von fünf Minuten ist der Prophet da. Er verneigt sich tief, dann fällt er auf die Knie.

„Bitte steh auf“, sagt Gott. „So förmlich geht es hier nicht zu.“

Jesaja erhebt sich.

„Es geht um deine Prophezeiung, dass der Messias in Bethlehem geboren wird. Kannst du das ändern?“

„Ich fürchte nein“, erwidert der Prophet nach einigem Nachdenken. Gott seufzt. „Dann muss es wohl so geschehen“, sagt er nach einer Weile.

„Nicht einmal der Himmel ist vollkommen“, murmelt der bärtige Mann leise. Aber Gott hat es doch gehört. Er lächelt. Jesaja will gehen, aber der HErr hält ihn mit den Worten zurück: „Bitte bleib noch. Ich möchte dich dabeihaben, wenn ich jetzt den Thronrat einberufe. Du sollst uns beraten.“

*

So war es. Wirklich und wahrhaftig. Falls jemand zweifelt, sage ich dazu: Sie können doch nicht an Ihrem Pfarrer zweifeln.

Spaß beiseite. Natürlich ist das eine erfundene Geschichte. Andererseits: Wie sollen wir denn Weihnachten feiern ohne Geschichten? Weihnachten hat eben mindestens so viel mit dem Gefühl zu tun wie mit dem Verstand. Wahrscheinlich mehr mit dem Gefühl. Wie kann man verstehen, dass Gott als Mensch zur Welt kommt, ohne Geschichten zu haben, die das ausmalen? In der Bibel werden sie ja auch erzählt und vermutlich sind sie auch nicht wahrer als meine eigene. Dass Jesus in einem Stall in Bethlehem zur Welt kommt, dass ein paar arme Hirten vorbeischauen oder Sterndeuter aus dem Osten ist doch auch nur eine symbolische Geschichte, die etwas von Jesu wahrer Bedeutung erzählen soll. Ein neugeborenes Kind und zugleich der König der Welt. Kein Historiker kann belegen, dass in den Jahren um die Zeitenwende eine Volkszählung in Palästina stattfand. Vielleicht hat es sie gegeben, aber in den Annalen der römischen Geschichte ist sie nicht vermerkt. Dennoch ist die Geschichte wahr. Nur eben auf einer anderen Ebene als der historischen. Wenn man das akzeptiert, sagt sie, dass Gott selbst in unser Dunkel kam und es erhellte. Wenn er in seinem ganzen Glanz gekommen wäre, wären wir erblindet.

Und doch ist das noch nicht die ganze Wahrheit. Wir müssen ergänzen: Gott kam in Gestalt seines Sohns. Auch der kam vom Himmel. Auch er hat Teil an Gottes Licht. „Den Abglanz seiner Herrlichkeit“ nennt ihn der Hebräerbrief und fügt hinzu, „die Reinigung von unseren Sünden“. Das klingt zunächst wenig weihnachtlich und kann doch nicht anders sein. Wie anders sollten wir denn vor Gott erscheinen, ohne zu verglühen? Bibelstellen wie diese haben in den nächsten drei Jahrhunderten erst zu erbitterten Diskussionen geführt, wie Gott zu denken ist , ob in einer oder drei „Personen“ und danach, wie das Verhältnis von Vater und Sohn zu sehen ist bzw. ob Christus wirklich Mensch war oder Gott oder beides. Angehende Theologen müssen sich damit beschäftigen, aber sonst versteht vermutlich kein Mensch mehr, um was es da geht.

Aber das alles können wir heute getrost beiseitelassen. Und uns noch einmal mit der Predigt des orthodoxen Popen beschäftigen oder uns unter den Weihnachtsbaum setzen und das „Weihnachtsoratorium“ auflegen. „Jauchzet, frohlocket“, ertönt es aus dem Lautsprecher. „Auf preiset die Tage. Rühmet was heute der Höchste getan. Lasset das Zagen, verbannet die Klage, stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an.“

Wenn überhaupt einer die Botschaft von Weihnachten mit seinem Verstand durchdrungen hat, dann war das der Große Johann Sebastian Bach. Vermutlich leitet er jetzt im Himmel das Große Orchester. Aber seien wir ehrlich: Im Himmel brauchen sie das nicht mehr. Auf der Erde aber umso mehr. Da brauchen wir die Freude darüber, dass Gott kommt und uns behütet, weil wir sonst vom Großen schwarzen Loch unserer Traurigkeit und unserer Angst verschlungen werden.

Damit das nicht eintritt, brauchen wir die Botschaft von Weihnachten. Gott ist bei uns, sagt sie. Gott geht neben uns. In Gestalt eines kleinen Kindes. In Gestalt eines erwachsenen Mannes. Er hört uns zu, wenn wir klagen. Er legt den Arm um uns, wenn wir einsam sind.

Bernd Giehl  (giehl-bernd@t-online.de) war von 1983-2018 Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

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