Lege deine Gewichte in die Waagschale…

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Lege deine Gewichte in die Waagschale…

Lege deine Gewichte in die Waagschale. Herunterdrücken wird sie ein anderer. | Predigt zu 2. Timotheus  2, 1­3 + 8-13,| verfasst von Ulrich Kappes

 

1 So sei nun stark, mein Sohn, durch die Gnade in Christus Jesus.

2 Und was du von mir gehört hast vor vielen Zeugen, das befiehl treuen Menschen an, die tüchtig sind, auch andere zu lehren.

8 Halt im Gedächtnis Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten, aus dem Geschlecht Davids, nach meinem Evangelium,

9 für welches ich auch leide bis dahin, dass ich gebunden bin wie ein Übeltäter; aber Gottes Wort ist nicht gebunden.

10 Darum dulde ich um der Auserwählten willen, damit auch sie die Seligkeit erlangen in Christus Jesus mit ewiger Herrlichkeit.

11 Das ist gewisslich war:

 

Der eben verlesene Text beginnt mit den Worten „So sei nun stark, mein Sohn, durch die Gnade in Christus Jesus.“ Das ist die Schlussfolgerung aus der Auferstehung, die ein Apostel aus der Zeit der ersten Christen für alle zieht: „So … [oder darum]  sei nun stark […] Erinnere dich an Jesus Christus, der von den Toten auferstanden ist!“

 

„So sei nun stark!“ Es gibt unter uns eine sehr unterschiedliche Stärke gegenüber der Pandemie „Corona“, eine ziemliche Spannbreite aus realer Furcht bis hin zu einer nur unterschwelligen Sorge. Den Zuspruch, stark zu sein, denke ich, brauchen wir wohl alle.

Wer war Timotheus? Im Telegrammstil will ich antworten.

Timotheus reiste durch die urchristlichen Gemeinden in Kleinasien, unterwies und lehrte, wie das Evangelium von Jesus Christus weiter zu geben ist. Wir können ihn uns als Dozenten für Erwachsenenbildung in den damaligen Gemeinden vorstellen.

Ein Apostel, der sich nach dem großen Völkerapostel auch „Paulus“ nannte, wurde sein geistlicher Vater. An vielen Stellen der Briefe an Timotheus klingt die große Zuneigung des Lehrers gegenüber seinem Schüler an. Während der Abfassung der Briefe sitzt Paulus gebunden im Gefängnis.

 

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!

Eine zentrale Aussage der beiden Briefe an Timotheus möchte ich hervorheben. Der Apostel, der die Briefe schrieb, war fest davon überzeugt, dass Menschen, die Christus „im Geist“ nahe sind, daraus „Kraft“ empfangen. Vielen von uns sind wohl die Worte bekannt, die gleich am Anfang des 2. Briefes an Timotheus stehen: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim. 1,7)

 

„Der Geist der Kraft“… Auf dieser Linie sind nun auch die Worte zu sehen, die wir hörten: „So sei nun stark, mein Sohn“ … oder „Behalte alle Kraft, dich zu behaupten.“

Was ist mit „Stärke“ und „Kraft“ gemeint, die aus der Nähe zu Christus kommt? Wie entsteht sie in uns? Wie kann eine oder einer, die oder der schwach, verletzt und ängstlich ist, „stark“ sein? Christinnen und Christen geben je nach ihrer Zugehörigkeit zu ihrer Kirche oder Freikirche eine jeweils andere Antwort. Sie hören nun die meine.

Blättere ich ein Kapitel weiter, das unserem Predigttext nachfolgt, lese ich, wie Paulus seinem Timotheus einen gemeinsamen Lebensabschnitt ins Gedächtnis ruft: „Du aber bist mir gefolgt […] in den Verfolgungen, in den Leiden, die mir widerfahren sind in Antiochia, in Ikonion, in Lystra. Welche Verfolgungen ertrug ich da! Und aus allem hat mich der Herr erlöst.“ (2. Tim. 3, 10-13)

 

Ich wiederhole noch einmal und spitze zu. Paulus erinnert sich, wie er Strapazen an verschiedenen Orten ertragen und überstanden hat. Vor seinen inneren Augen sieht er, wie er sich behaupten konnte. Er rekapituliert, wie er sich nicht einschüchtern und unterkriegen ließ. Er fand Verhaltensmuster, die ihm das Überleben ermöglichten. Die Torturen waren da, er aber stand darüber. Das galt es festzuhalten: Ich, Paulus, bin durchgekommen.

 

Eine kurze Abschweifung!

Der israelisch-amerikanische Psychologe Aaron Antonofsky stieß bei einer breit angelegten Untersuchung an Frauen auf Holocaust–Überlebende. Er fand solche und solche. Eine Gruppe der Holocaust-Überlebenden, insgesamt 29% der Untersuchten, konnte eine hohe psychische Gesundheit attestiert werden. Das Bewusstsein, das Konzentrationslager überstanden zu haben, hatte eine starke Auswirkung auf ihren Umgang mit Konflikten und Krisen. Ertragenes Leid machte sie für den nachfolgenden Teil ihres Lebens stark. [1]

 

Meint Paulus dasselbe, wenn er Timotheus an die ertragenen Leiden erinnert? ‚Das alles habe ich erlitten und überstanden. Mag kommen, was will, ich werde nicht untergehen.‘

Sicher hat Paulus sich selbst im Blick, aber, sagen wir, nur zur Hälfte. Weil sein großer Lehrer, der Völkerapostel, sich nie ohne Christus sah, soll es dabei bleiben. Die Erinnerung an sich selbst, ist das eine. Das Andere, das Entscheidende, das den Umschlag brachte in allen Strapazen, war, so bekennt er, die Christusnähe.  „Und aus allem hat mich der Herr erlöst.“

 

Das mag irrational und unvernünftig klingen. Es steht der Vorwurf im Raum, dass der Apostel irgendwie Christus in seiner Rückschau unterbringen wollte und nun so schreiben konnte. Brauchen wir wirklich Christus oder schaffen wir es auch allein und nur auf uns gestellt?

Letzteres ist die Anschauung der überwiegenden Zahl der Menschen in unserem Land. Es ist ihr Recht, so zu denken.

Lassen wir uns aber auf das „Wort der Schrift “ ein, wie es uns beispielsweise heute gegeben ist, so wird uns anheim gegeben, hinter dem, was wir leisten an die verborgene Teilnahme des Herrn zu glauben, ja diese als das Größere zu sehen.

Das heißt:

„So sei nun stark, mein Sohn!“ Sei stark und empfange Kraft aus deinem Selbstvertrauen. Denke aber gleichzeitig dieses Eine mit, dass der Herr es ist, der das Entscheidende beiträgt, die Krise zu überstehen. Wie das geschieht, ist verborgen.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass ein Mensch, der mit  zwei Wirklichkeiten lebt, den „Weg der Wahrheit“ nach der Schrift geht und von Selbstüberschätzung und Hochmut bewahrt bleibt.

 

Ich will das eben Gesagte zusammenfassen. Es ist, als würde der Apostel zu uns sagen: „Lege alle deine Gewichte in die Waagschale, alles, was du hast, das setze ein, um die Krise zu überstehen. Wisse und glaube aber gleichzeitig, dass Christus, ohne dass du weißt, wie das geschieht, sein Gewicht in die Waagschale legen wird. Dieser Glaube an Christus sei deine zweite, aber die entscheidende Quelle von Kraft und Stärke.

Ich schließe mit Worten aus einem Interview, das der amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond dem Tagesspiegel gab. [2] Diamond verfügt neben seinem umfänglichen Wissen über die Mechanismen der Evolution auch über weitreichende Sprachkenntnisse.  Der Inhaber des renommierten Pulitzerpreises sagte:

„Das chinesische Schriftzeichen für das Wort Krise besteht aus zwei Elementen, dem Zeichen für Gefahr und dem Zeichen für Chance.“ Und er fügte erläuternd hinzu: „Das Ende meiner ersten Ehe war fürchterlich schmerzhaft, allerdings habe ich auch daran gelernt, was ich falsch gemachte habe. Das gleiche gilt für meine heutige Frau Marie, auch sie hatte schon eine Ehe hinter sich, als wir […] heirateten. Das Ergebnis ist, dass wir nun […] sehr glücklich miteinander verheiratet sind.“ Soweit Jared Diamond.

 

Eine Krise setzt sich, wir hörten es, nach chinesischer Weisheit aus Gefahr und Chance zusammen. Vielleicht wissen wir als einzelne und als Gemeinschaft „danach“, wenn die große Plage überwunden ist, was wir vorher falsch gemacht haben. Es könnte ja sein, dass die Krise schon jetzt erträglicher ist, wenn wir in ihr auch eine Chance sehen. Was ist wirklich wertvoll in unserem Leben? Wer für sich jetzt nach einer Antwort sucht und sich auf den Weg macht, eine zu finden, beginnt, mit anderen Augen auf die bedrückende Gegenwart zu sehen.

Amen

 

 

 

ANMERKUNGEN

[1]Nach Julia Kirmeir: Salutogenese & Euthymes Erleben, in: Gemeindenahe Psychiatrie, Weimar 2008, (21-27), S. 21.

[2] Jared Diamond: „Zum ersten Mal gibt es die Möglichkeit eines-weltweiten Kollapses“, in: Tagesspiegel vom 30.05.2019, digital: https://www.tagesspeigel.de/gesellschaft/evolutionsbiologe-jared-diamond-zum-ersten mal-gibt-es-die moeglichkeit-eines-weltweiten-kollapses/24352438.html. Abgerufen im Juni 2019.

 

Pfr. em. Dr. Ulrich Kappes

14943 Luckenwalde

E-Mail: ulrich.kappes@gmx.de

 

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