Lukas 1, (39-45) 46-55 (56)

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Lukas 1, (39-45) 46-55 (56)

Lukas 1, (39-45) 46-55 (56)

„Es preist meine Seele den Herrn,
und es beginnt zu jubeln mein Geist über Gott, meinen Retter;
denn er hat hingeschaut auf die Niedrigkeit seiner Magd.
Denn siehe, von jetzt an werden mich glücklich preisen alle Geschlechter;
denn getan hat Großes an mir der Machtvolle,
und heilig ist sein Name,
und sein Erbarmen (währt) über Geschlechter und Geschlechter
für die, die ihn fürchten.

Ausgeübt hat er Macht mit seinem Arm,
zerstreut hat er Überhebliche in (ihres) Herzens Sinnen;
gestürzt hat er Herrscher von Thronen
und erhöht hat er Niedrige,
Hungernde hat er gefüllt mit Gütern
und Reiche weggeschickt als Leere.
Er hat sich angenommen Israels, seines Knechtes,
zu gedenken (seines) Erbarmens,
wie er geredet hat zu unseren Vätern,
dem Abraham und seinem Samen auf ewig.“

Der letzte verkaufsoffene Samstag ist überstanden.
Zeit, noch einmal tief durchzuatmen.
Zwei Tage, dann haben wir es wieder geschafft.

4. Sonntag im Advent.
Advent, Zeit der Erwartungen – wessen?

Die politische wie soziale Lage im Lande ist schlecht wie seit langem
nicht mehr. Renten- un Krankenversicherung droht ohne grundlegende und
einschneidende Reformen der finanzielle Zusammenbruch. Die öffentliche
Hand wird immer gieriger, die Steuergesetze dafür immer undurchsichtiger.
Parteiengezänk um Wahlbetrug füllt die Medien, obwohl jeder,
der lesen konnte, schon vor der Bundestagswahl wußte, wohin der
Zug fuhr. Mit Streikdrohungen werden im öffentlichen Dienst unrealistische
Forderungen gestellt. Gewerkschafter fahren zur morgendlichen Hauptverkehrszeit
ihre Müllwagen – diese wie der verfahrene Kraftstoff vom Steuerzahler
finanziert – durch die Hauptstraßen Nürnbergs spazieren und
blockieren für zwei Stunden den Verkehr. Parteienskandale ohne Ende
nähren die Politikverdrossenheit der Bürger. Im Bundestag findet
mehr Wahlkampf als Politik statt. In der Wirtschaft wird Personal abgebaut,
wohin man sieht. Drohungen mit Terroranschlägen überschatten
den Alltag.

Beim Blick über die Grenzen sieht es noch schlimmer aus. Da sagen
Namen schon genug: Israel und die Palästinenser, Irak, Afghanistan,
Kaschmir, Nordkorea, Elfenbeinküste, Kongo, Simbabwe, Argentinien
und und und….

Und dann dieses Lied, das der Evangelist Lukas Maria singen läßt!
Dabei waren die Verhältnisse im damaligen Palästina keineswegs
besser. In der Zeit, in die uns Lukas versetzt, herrschte Herodes der
Große über das Land. Skrupellos und machtbesessen schreckte
er vor nichts zurück, wenn er seine Stellung bedroht wähnte.
Nach ihm bestimmte die römische Besatzungsmacht die Geschicke des
Landes. Brutal griff sie durch, wenn es jemand wagte, gegen sie aufzubegehren.
Hinzu kamen Armut und Hungersnöte, Reiche, die immer reicher wurden,
betrügerische Zollpächter und ausbeuterische Großgrundbesitzer,
patriarchalische Familienstrukturen.

Wie kann da eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, solch ein Lied
singen, das der Christ Lukas in seinem Evangelium das jüdische Mädchen
Maria singen läßt? Wie kann diese junge Frau, die so kleinen
Verhältnissen entstammte, daß niemand mehr sich an die Namen
ihrer Eltern erinnerte und erst eine spätere Legende sie erfinden
mußte, wie kann sie solch ein Lied singen?

Es ist ein Lied wie ein Psalm aus dem Alten Testament. Es erinnert an
das Lied der Hanna im Ersten Buch Samuel, das sie sang, als sie ihr einziges
Kind, einen Sohn, geboren hatte.

In der ersten Strophe dankt Maria und preist Gott, den Herrn und Retter,
dafür, daß er sich ihrer, die aus so niedrigen irdischen Verhältnissen
stammte, angenommen hat, daß die „Frucht ihres Leibes gesegnet“
ist, wie ihre Verwandte Elisabeth zu ihr sagt. Und voller Freude preist
nicht sie sich dafür glücklich, sondern – weit in die Zukunft
vorausgreifend – sieht sie, daß alle kommenden Geschlechter sie
glücklich preisen werden wegen des Großen, das Gott an ihr
getan hat – als sei ihr etwas Weltbewegendes geschehen.

Paßt dieser Dank, der so weit ausholt, zu der politischen und sozialen
Landschaft, zu der mutmaßlichen Zukunft, in die das Kind, das diese
junge Frau in sich trägt, einmal geboren werden und in der es aufwachsen
wird? Eher nicht.

Doch das Lied ist hier noch nicht zu Ende. Es hat eine zweite Strophe.
In ihr erklingt ein völlig neuer, ganz anderer Ton. In Zeitformen
der Vergangenheit beschreibt das Lied Künftiges, als sei es schon
eingetreten, schon Gegenwart. Doch hat das nichts mehr mit einer jungen
Frau aus einfachsten Verhältnissen zu tun, sondern mit Revolution,
mit einer völligen Umwälzung der bestehenden sozialen und politischen
Verhältnisse.

Das Lied, in höchstem Maße umstürzlerisch, verkündet
ohne Wenn und Aber, daß die ethisch-religiösen Maßstäbe
nicht mehr stimmen und daß – gemessen an der Ordnung Gottes – der
politisch-soziale Zustand der Welt heillos in Unordnung ist, daß
er genau das Gegenteil ist von allem, was Gott sich gedacht hat – und
daß Gott dem ein Ende gesetzt hat.

Ein Ende gesetzt? Blicken wir auf unsere ethischen Maßstäbe,
auf die heutige politisch-soziale Situation in unserem Land, gar auf die
in vielen Ländern jenseits unserer Grenzen, müssen wir jedoch
zur Kenntnis nehmen, daß die Revolution, die Umkehr der Werte, von
der Marias Lied singt, offenbar nicht oder zumindest noch nicht stattgefunden
hat.

Nehmen wir unsere ethischen Maßstäbe. Zwei Stichworte mögen
genügen: Stammzellenforschung und die vom italienischen Mediziner
Severino Antinori für Januar angekündigte Geburt des ersten
geklonten Kindes. Das menschliche Leben wird zurecht gezimmert und beginnt
dort, wo es opportun und nützlich ist. Die Ethik der Würde und
der Normen wird durch eine Ethik der Erfolgsinteressen und des Nutzens
ersetzt – und wie schon im Dritten Reich bei der Euthanasie wissenschaftlich
verbrämt.

Oder nehmen wir die politisch-soziale Lage in den Blick. Wo sind bei
uns, wo die Reichen immer reicher werden, je die Reichen leer davon geschickt
worden? Schon Martin Luther sagte, daß es weitaus schwieriger sei,
„in Reichtum und großen Ehren oder Gewalt maßzuhalten
als in Armut, Schanden und Schwachheit“ (Das Magnificat, verdeutscht
und ausgelegt, 1521). Ob die geplanten Steuern auf Spekulations- und Veräußerungsgewinne,
auf Vermögen und andere neue oder erhöhte alte Abgaben dies
bewirken sollen – und vor allem werden?

Wo sind Niedrige erhöht und Herrscher vom Thron gestoßen worden?
Wo hat die Arbeitslosigkeit abgenommen? Sitzen doch die, die Arbeit haben,
auf ihrem je eigenen Thron. Sie wollen ihre Arbeit um keinen Preis mit
denen teilen, die keine haben. Ja, sie oder die, die sie als ihre Vertreter
gewählt haben, zieren sich zuzulassen, daß andere eine Arbeit
wie die ihre für weniger Geld erledigen dürfen, als sie bekommen.
Gerechtigkeit kann auch gnadenlos sein – für die anderen.

Und wenn wir Nahrungsmittel etwa nach Simbabwe liefern, die dann nur
an die Anhänger des Diktators Mugabe verteilt werden, wie sollen
da die, die wirklich hungern, mit Gütern gefüllt werden, wie
Maria singt? Auch barmherzige Hilfe kann tödlich sein -für die
anderen.

Und dann bleibt da noch Israel: „Er hat sich angenommen Israels,
seines Knechtes.“ Wie sagt Martin Luther in seiner Auslegung des
Magnificats? „Darum sollten wir die Juden nicht so unfreundlich behandeln“
– trotz Scharon. Und die Palästinenser trotz Arafat. Zwar fährt
er fort „Denn es sind noch zukünftige Christen unter ihnen“,
doch der Vordersatz gilt uneingeschränkt, auch wenn sie es nicht
werden.

Nein, die vollendete Zukunft, von der Maria als Gegenwart singt, ist
noch nicht eingetreten. Es sieht aus, als sei alles noch beim Alten geblieben.
Und dennoch, in der kommenden Königsherrschaft Gottes werden alle
bisherigen Maßstäbe zerbrochen und alle bisherigen Werte entwertet.
Doch wer macht uns dessen gewiß?

Eben dieses Lied. Denn Maria singt von der Zukunft, als sei sie schon
gegenwärtig. Sie kann es, weil sie an sich erfahren hat, daß
Gott Großes an ihr getan hat. Darum vertraut sie darauf, daß
auch eintreten und vollendet werden wird, was Gott zusagt. Sie verläßt
sich nicht einfach darauf, daß Gottes Wort wirkt, was es zusagt.
Denn der, der in seinem Namen gegenwärtig ist, ist der zu allen Zeiten
Barmherzige. Und so verbirgt sich der Beginn der Vollendung unter der
Freude einer werdenden Mutter, die Gott für das dankt, was er in
ihrem Schoß gewirkt hat.

So sagt es der Evangelist Lukas. Und er wußte schon viel mehr,
als Maria wissen konnte. Und wie er, ja noch besser als er, wissen wir,
daß diese Erwartungen mit der Ankunft des Erwarteten eingetroffen
sind – freilich anders, ganz anders als erwartet. Denn mit der Geburt
des Kindes, das Maria unter ihrem Herzen trägt und auf dessen Erscheinen
wir im Advent warten, hat die Umkehr der Werte zeichenhaft schon begonnen.
Gottes entscheidende Tat ist schon geschehen, auch wenn der äußere
Anschein dagegen spricht.

Advent – Zeit zu jubeln und sich mit dieser jungen Frau über die
anstehende Geburt zu freuen.

Dr. Peter Weigandt
Johannisstr. 7
90419 Nürnberg
0911-958 33 37

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