Lukas 11,1-4.5-13

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Lukas 11,1-4.5-13

Beten und Bitten lernen | Rogate | 22.05.2022 | Lk 11,1–4.5–13 | Thomas Bautz |

Liebe Gemeinde!

Der Evangelist Lukas erzählt, wie die Schüler oder engsten Anhänger Jesu ihn beim Beten sehen. Seine Art des Betens muss ihnen wohl zu Herzen gehen, sie beeindrucken, denn sie wollen sogleich bei ihm in die Schule gehen: Lehre uns beten, sagen sie, wie auch Johannes seine Schüler das Beten beibringt. Der Zusammenhang zeigt, dass es sich um die Form des Bittgebets handelt. Beten und Bitten sind im Bittgebet vereint, das uns vermutlich näher liegt als Dankgebet, Klage und Lobpreis und vermutlich am häufigsten praktiziert wird.

Dem Eintritt der Anhänger des Nazareners in die Gebetsschule folgt sogleich eine kürzere Form des beispielhaften, inhaltlich und wirkungsgeschichtlich monumentalen Gebets, das mit der Bezeichnung Vaterunser, Anrede bei Lukas nur: „Vater“, bis heute zu verschiedenen Anlässen praktiziert wird. Bei Lukas finden sich im Anschluss zwei Texte, die zum Bittgebet aufrufen oder dazu ermutigen wollen.

Der Evangelist Matthäus stellt dem Vaterunser keine Anfrage der Schüler Jesu voran, sondern warnt vor einem frömmelnden, heuchlerischen Verhalten oder zweifelhafter Gesinnung:[1] Man soll weder gerechte Taten („Gerechtigkeit“) noch Almosen (Spenden) zur Schau stellen oder damit prahlen.

In unserer Zeit sind Spendenaufrufe und Bekanntgabe der Erträge meist öffentlich; mitunter lassen sich Spender dafür feiern, ernten zumindest Lob und Beifall. Das ist sicher in Ordnung, es hat aber nicht zwingend mit einer gläubigen Gesinnung zu tun: Menschen spenden aus unterschiedlichsten Motiven; meist, wenn sie konkrete Not sehen und dann eben helfen wollen. Man behauptet, „die Deutschen“ wären besonders spendenfreudig. Ich vermag das nicht zu beurteilen.

 Auf das Beten angewandt, distanziert sich Rabbi Jesus eindringlich vom Beten an öffentlichen Orten, sei es an Straßenecken, sei es in den Synagogen. Ein zutiefst religiöser Mensch betet nicht, um dabei beobachtet oder gesehen zu werden.[2] Macht auch nicht viele Worte („plappert“ nicht); mutet „dem Vater“ kein „leeres Gerede“, keine „gedankenlosen Worte“ zu.[3]

Jesus will sicher nicht die Bedeutung gerechten Handelns in Abrede stellen oder Spendenaktionen oder Beten in der Öffentlichkeit, etwa im Gottesdienst, in einer Trauerhalle oder am Grab oder am Krankenbett oder am Sterbelager, – ich meine es geht eher darum, dass wir uns nicht einbilden sollen, Frömmigkeit oder Glaubensstärke daran messen zu können. Die Motivation für gerechtes Handeln, für Spenden und vor allem für das Beten soll von Herzen kommen, „im Verborgenen“, aus der persönlichen Glaubenshaltung heraus und darauf hoffend, dass „der himmlische Vater“ es weiß: „euer Vater weiß, was ihr nötig habt, bevor ihr ihn bittet“ (Mt 6,8b).

Wichtig aber finde ich, dass der Nazarener unseren Blick auf das Verborgene lenkt, womit das Beten vielleicht (wieder) etwas Geheimnisvolles, zu Behütendes, ja, Heiliges bekommt. Dennoch richtet sich das Vaterunser – nicht zufällig ein Teil der berühmten Bergpredigt – dann auch an die Öffentlichkeit. Aber nun lade ich Sie dazu ein, mit mir die Gebetsschule zu besuchen, wie sie Lukas im Sinn hat. Wir dürfen bei ihm voraussetzen, dass ihm sowohl die Dringlichkeit des Bittens wie auch die Erfüllbarkeit des in der Not geäußerten Wunsches mehr oder weniger selbstverständlich erscheinen. Er ist sich dessen gewiss: Niemand lässt einen bittenden Freund im Stich, mag sein Anliegen unter gegebenen Umständen „auch noch so sehr an die Grenzen des Schicklichen rühren“.[4] Ich möchte daher den nun zu Gehör zu bringenden Text als eine rhetorische, gleichnishafte Beispielerzählung bezeichnen:

„Und er sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Mühe! Die Tür ist schon verriegelt und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf“ (Lk 11,5–8).[5]

Beachtet man die Details dieser dramatischen Erzählweise im schrittweisen Ablauf der Handlung, wird deutlich, dass wir als Hörer oder Leser auf die Klimax, auf den Spannungshöhepunkt oder schlicht auf den Ausgang der Geschichte warten: Wird der in seiner Nachtruhe gestörte Freund schlussendlich nachgeben?![6] Das ablehnende Verhalten des Familienvaters erscheint plausibel: Menschen in dörflicher Gegend Palästinas gehen früh zu Bett, anders als Beduinen, die gern in der Kühle der Nacht unterwegs sind. Die sesshafte Familie bewohnt ein einfaches Haus, das vermutlich nur aus einem Raum besteht; die Kinder würden schlagartig beim Entriegeln der Tür geweckt. Diese ist nämlich durch einen eisernen Stab oder einen Balken verriegelt, der durch an den Türflügeln befindliche Ringe gezogen wird. Das Öffnen des Riegels ist umständlich, mühsam und verursacht lautes Geräusch.[7] Man spürt nahezu den Unmut des Hausherrn, will er doch nur Ruhe und Schlaf für sich und seine Familie.

Der Erzähler vermeidet es, auf die Bewirtung des Gastes als „unbedingte Ehrensache“[8] im Orient zu verweisen. Stattdessen zeigt er (narrativ) auf, dass Gastfreundschaft an ihre Grenzen stoßen kann. Der nachts um Hilfe gebetene Freund lässt sich am Ende dann doch noch breitschlagen, aber nicht um der Freundschaft – so heißt es –, sondern um des „unverschämten“ Drängens[9] willen. Man mag fragen, ob diese abschließende Beurteilung des nächtlichen Ruhestörenden gerecht oder nicht doch ziemlich überzogen ist, zumal beide Parteien doch befreundet sind.

Man darf aber wohl davon ausgehen, dass den im Gleichnis bildhaft verwendeten Elementen in der Realität zur Zeit Jesu[10] „ganz gewöhnliche Situationen“ entsprechen, „in die der Hörer täglich kommt oder kommen kann“,[11] auch wenn dies nachts geschieht.[12] Eine Gruppe von Gleichnissen beginnt mit der Anrede „Wer unter euch?“ und bietet damit eine naheliegende Identifikationsmöglichkeit: Der Angesprochene ist selbst Freund oder Vater und wird dem Bittenden nicht mit einem tauben Ohr begegnen, sondern ihm bereitwillig Gehör schenken, seinen Wunsch erfüllen, Not abwenden und Mangel ausgleichen. Menschliches fungiert in diesen Gleichnissen als Bild göttlicher Gesinnung, für das zu erwartende Verhalten „Gottes“.[13]

Aber Vorsicht! Der Mensch, der sich trotz widriger Umstände seinem Freund gegenüber erbarmt, ist nicht direkt mit einem bestimmten Gottesbild gleichzusetzen. Rhetorisch werden noch die Liebe und die Fürsorge eines Vaters von Lukas verstärkend ins Spiel gebracht: Welcher Vater unter euch würde seinem Sohn das zum Leben Notwendige vorenthalten?! Wenn man einen Freund nicht abweist, sondern ihm letztlich wie selbstverständlich in einer Notsituation hilft, wie viel mehr wird ein Vater den Pflichten gegenüber seinem Kind von Herzen nachkommen! (cf. Lk 11,11–12; Mt 7,9–11)

Doch ist dann der Schluss („vom Kleineren zum Größeren“)[14] erlaubt:  „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird der Vater im Himmel heiligen Geist [„Gutes“; „gute Gaben“; Mt 7,11a] geben denen, die ihn bitten“ (Lk 11,13)?

Lukas wirbt pointiert für das Bittgebet mit Hilfe jener einleuchtenden Beispiele – für uneingeschränkt vertrauensvolles Bitten und Beten –, andererseits hebt der Zusatz „die ihr böse seid“[15] den „radikalen Unterschied“ hervor, „der zwischen Gott und Mensch besteht.“[16] Doch dem negativen Menschenbild stellt Lukas ganz positiv ein Gottesbild gegenüber, das sich mit der Gabe heiligen Geistes verbindet, jedenfalls für Menschen, die „unseren Vater in den Himmeln“ (Mt 7,11b; den „Vater vom Himmel“; Lk 11, 13)  darum bitten.

Lukas wechselt die Dimension. Seine Gebetsschule spricht anschaulich das Bittgebet mit Bildern aus dem Alltagsleben an, mit Szenen, die man sich gut vorstellen konnte. Anders als Matthäus, der fast etwas lapidar konstatiert, dass der himmlische Vater erst recht gute Gaben (Gutes) denen gäbe, die ihn darum bäten, verlagert Lukas die Dimension des Bittgebets und dessen Erfüllung ins Spirituelle: „wie viel mehr wird der Vater vom Himmel her denen, die ihn bitten, heiligen Geist geben!“[17]

Es mag sein, dass die „Gabe des Geistes“ sich in der Deckung des täglichen Nahrungsbedarfs oder in der menschlichen Liebe und in glückenden Ereignissen zeigt,[18] aber viel eher verweist Lukas auf eine Ebene, die dem natürlichen Bittgebet entzogen ist. Diese Dimension findet ehrwürdigen Ausdruck in Gestalt des monumentalen Gebets am Anfang seiner Gebetsschule („Wenn ihr betet, so sprecht“):[19]

„Vater, / geheiligt werde dein Name, / es komme dein Reich, / das notwendige Brot gib uns für jeden Tag, / und vergib uns unsere Zielverfehlungen, / denn auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig wird, / und lass uns nicht in Versuchung geraten [stelle uns nicht übermäßig auf die Probe]!“

Dies sind Bitten, die eindeutig weit über das hinausgehen, was menschlich oder gar alltäglich ist. Man meint sogar, dass das Reich Gottes durch heiligen Geist „in Vorwegnahme ersteht“.[20] Verstünde man das Leben des historischen Jesus als Kampf für die Errichtung der Gottesherrschaft, für das Königtum Gottes, für das „Reich der Himmel“, würde klar, dass seine Nachfolger auf heiligen Geist angewiesen sind. Sie bedürfen dieses kraft- und machtvollen, inspirierenden Geistes, der neues Leben schafft und Lebendiges erhält. Es scheint, als weise Lukas mit dem Schluss seiner Ermutigungen zum Bittgebet – mit Rückbezug auf das „Unser Vater“ – darauf hin, dass es Wichtigeres gibt, als um Alltägliches zu bitten, nämlich die Bitte um heiligen Geist.

Heiliger Geist (in Lk 11,13 – ohne Artikel!) sorgt für den notwendigen Antrieb in der Nachfolge Jesu. Man sagt, im Judentum ist Beten stets mit Handeln verknüpft. Wenn ich also bete: Dein („Gottes“) Name werde geheiligt, wird mich das dazu motivieren, alle „Gottesbilder“ oder Vorstellungen von „Gott“ zu zerschlagen; alle Gottesbegriffe, die den Namen des Unaussprechlichen, Unbegreiflichen entheiligen, indem sie „Gott“ frömmelnd oder dogmatisch menschliche Eigenschaften zuschreiben, die sie buchstäblich für wahr erachten und damit Leichtgläubige verführen.

Wenn ich bete: Dein Reich komme, werde ich mich dafür stark machen, dass keine Diktatur, keine Gewaltherrschaft, kein Militärregime, keine Theokratie, die ihre Völker unterdrücken, sich als ein von „Gott“ sanktioniertes System ausgeben darf. Im Falle einer Demokratie muss darauf geachtet werden, dass die Gesetze eingehalten und die politische Führung zum Wohle des Volkes regiert. Das Kommen der Herrschaft Gottes als ein Reich der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens hat keineswegs nur eine zukünftige Komponente. Auf eine Frage der Pharisäer, wann das Reich komme, antwortet ihnen der Nazarener: „Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es beobachten kann, auch wird man nicht sagen: Siehe hier, siehe dort! Denn merke: das Reich Gottes ist mitten unter euch.“

Diese wörtliche Übersetzung „mitten unter euch“ hat einige Paraphrasen provoziert, die sicher nicht von der Hand zu weisen sind:[21] Die Gottesherrschaft, das Reich Gottes, ist im Verfügungsbereich oder im Wirkungsbereich[22] von Menschen, die um sein Kommen bitten und sich daran ausrichten, d.h. „es liegt an euch, ob es da ist oder nicht“.[23]Man darf natürlich nicht davon ausgehen, „Gottes Reich“ mit irgendeiner der existierenden Staatsformen identifizieren zu können, noch nicht einmal mit einer Demokratie, denn „mit der Bergpredigt kann man nicht regieren“ (Bismarck?). Weil der Mensch als Species „böse ist“, weil er die Veranlagung zum Bösen hat, bedarf es gesetzlicher Regelungen, die uns dabei helfen sollen, uns für ein friedvolles und gerechtes Leben in der Gesellschaft einzubringen.

Und wenn ich bete: „lass uns nicht in Versuchung geraten“, werde ich bemüht sein, alles zu tun, um mich nicht selbst in eine verfängliche Situation zu bringen: „Laß mich nicht kommen in die Gewalt der Sünde. Noch in die Gewalt der Schuld. Noch in die Macht der Versuchung“.[24]  Es ist geradezu frevelhaft und unverantwortlich, dass die herkömmliche „Übersetzung“: „und führe uns nicht in Versuchung“ bis in die wissenschaftlichen Kommentare hinein, vor allem aber in der kirchlichen Praxis und persönlicher Frömmigkeit nahezu uneingeschränkt verbreitet ist. Sie unterstellt, dass „Gott“ der Versucher ist, dass er Menschen versucht – wozu eigentlich? Wo liegt das Problem?

Nun, Bibelauslegung beginnt mit der Wahrnehmung der Sprache; Lukas schrieb Griechisch, Jesus aber sprach Aramäisch, was nicht immer zu Schwierigkeiten bei der Übersetzung führt, mitunter aber eben doch. Der Nazarener hat gesagt: „Lass uns nicht in Versuchung fallen!“ So wie man im Orient auch bittet: „Lass uns nicht in Not sein!“ oder „Behüte mich davor, Fehler zu begehen!“[25]

Es gibt in Lukas‘ Gebetsschule aber noch eine dringliche, nämlich dreifache Ermutigung zum Bittgebet:

 „Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.“[26]

Lehrreich könnte für uns sein, wenn wir beachten, wie Jesus die Haltung des Betenden im Blick hat, im Vergleich zu unserem modernen Empfinden. Der moderne, aufgeklärte Mensch versteht sich gemeinhin ja nicht mehr mit seinem Gebet als ein Suchender, sondern als jemand, der gefunden hat. Er sieht sich nicht mehr als Anklopfender, der draußen steht, sondern als jemand, der „die Schwelle zu dem Lebenskreis eines ungebrochenen Herüber und Hinüber von Gott zu dem Betenden und dem Betenden zu Gott überschritten hat.“[27]

Diese vermeintlich „innige“ Gebetshaltung einer dauerhaften Zwiesprache zwischen dem Beter und „Gott“ wird noch gefördert durch den instrumentalisierten, permanenten Gebrauch des Vaterunsers. Diese Handhabung wird meist damit begründet, dass dieses jesuanische, im Judentum verankerte Gebet so gehaltvoll sei, dass es alles enthielte oder zusammenfasste, was für „den Glauben“ und zur spirituellen Orientierung für die Gemeinde und den Einzelnen wichtig wäre. Aber gerade deshalb sollte man doch eher sparsam und pointiert damit umgehen.

Mein Eindruck ist eher, dass sowohl Geistliche wie auch Laien das persönliche, gleichsam private Beten verlernen, u.a. weil sie meinen, sie würden mit ihren, vielleicht einfachen Gebeten nicht an das monumentale Vaterunser heranreichen. Die Gebetsschule des Lukas (mit Rückgriff auf den Rabbi Jesus) will uns aber gerade dazu ermutigen, frei (von der Leber weg) und von Herzen zu beten. Im Übrigen bekennt Paulus (Röm 8,26): „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt“![28]

Nun ist unser Beten ja zielgerichtet, wenn es sich um Greifbares oder Alltägliches oder aber auch um schwierige Situationen handelt. Menschen beten für kranke oder sterbende Familienangehörige oder gute Freunde. Doch nicht nur für Naheliegendes, auch für Menschen in Krisen- und Kriegsgebieten wird gebetet; Menschen demonstrieren gegen schreiendes Unrecht, gegen Folter, Vergewaltigungen, Ermordungen und Verschleppungen von Zivilisten. Menschen solidarisieren sich gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen, welche die Herzen derer, die in Frieden und Sicherheit leben dürfen, momentan offenbar mehr anrühren als Klimawandel und Corona-Pandemie. Damit stellt sich mir die Frage: Vermag unser Beten, unser Bittgebet die Schreckensszenarien in der Welt zu bekämpfen und die Welt zu verändern?[29] In gewisser Weise schon, wenn wir das Beten weiter fassen, aus dem rein religiösen, kirchlichen, kultischen Kontext herausholen und auf die Art zu leben übertragen.[30]

Beten verstehe ich dann als eine tiefe, ernste, authentische Art des Mitgefühls, der Empathie, des Mitleidens (nicht des Mitleids!): „compassion“. Schauen wir uns einmal an, was die Evangelien über das Leben des Nazareners überliefern: Sein ganzes Dasein drückt sich darin aus, das auf glaubwürdige Weise sein Sozialverhalten, Auftreten in der Öffentlichkeit, Begegnungen mit Kranken, Notleidenden, Trauernden und sein unerschütterliches Gottvertrauen gespeist werden von der Innigkeit des Betens. Beten und Handeln bilden bei ihm, dem Juden „par excellence“, eine Einheit.

Damit sind wir beim letzten Punkt der Gebetsschule angelangt, nämlich bei der Frage der Erhörung, die zunächst wohl ziemlich selbstverständlich zu sein scheint.[31] Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Ist damit aber wirklich alles gesagt? Lässt sich tatsächlich ein Kausalzusammenhang zwischen Bittgebet und seiner Erhörung oder Erfüllung herstellen? Und wenn das Gebet des einen „Erhörung“ findet, dasjenige der anderen in der gleichen Angelegenheit – wie etwa Gebet für einen kranken Menschen – aber nicht? Es wird immer wieder gesagt, das Verhältnis zwischen Gebet und Erhörung sei kein Automatismus, oder man könne eben „dem lieben Gott nicht in die Karten schauen“ – ein schwacher Trost für die Menschen, die es betrifft! Solche scheinbar frommen Floskeln helfen niemandem.

Die „Erhörung“, besser: Erfüllung eines Gebets ist im Beten selbst begründet: Es wirkt, indem man einen „Moment des Getragenwerdens und der Ruhe“ erlebt; man „macht sich innerlich fest“, uns wird im Tiefsten klar, „wo wir wirklich stehen“. Dieses „innerliche Sichklarwerden“ bewirkt nicht nur eine Stärkung unserer eigenen Position oder Lebenshaltung, es lässt uns auch empfänglich werden für die Belange und Nöte anderer Menschen in Nah und Fern. Beten verändert uns. Beten in diesem Sinne kann auch politische Dimensionen ansprechen. Beten im Sinne Jesu ist ein „Kampfmittel“, um sich für Freiheit, Frieden und Menschenrechte einzusetzen.[32] Ein Beispiel bietet Dom Hélder Pessoa Câmara (1909–1999), Erzbischof in Brasilien, gründet Basisgemeinden, kämpft für Menschenrechte, prangert in aller Welt die Folterer und Mörder der Militärdiktatur 1964–1985 an:[33]

„Hilf den Menschen guten Willens / – aus allen Ländern, Rassen, Sprachen / und Religionen –, durch befreienden / moralischen Druck das Bewußtsein / der Verantwortlichen zu wecken, / damit sie der Menschheit helfen, / frei zu werden vom Makel der Unter- / menschen, die das Elend erzeugt; / vom Makel der Übermenschen, geboren / aus Überwohlstand und Luxus. // Hilf jenen, die das Glück hatten, / in reichen Ländern geboren zu werden; / verhilf ihnen zur Einsicht, daß / die Privilegien, die sie genießen, / mit Unrecht gegen die armen Länder / erkauft sind. Oft werden sie zu / Komplizen dieses Unrechts, ohne / es zu merken. // Hast Du schon bemerkt, Herr, wie / sehr – in den entwickelten und in den ärmeren Ländern – Minderheiten / zahlreicher werden, die wie Abraham / gegen alle Hoffnung hoffen. Sie sind / entschlossen, eine menschlichere / und gerechtere Welt zu bauen. / Tröstlich ist es zu sehen, wie sie / friedliche, aber kühne Taten in / Angriff nehmen, die mehr und mehr die Strukturen der Unterdrückung erschüttern werden.“

Demgegenüber ist die Mahnung eines der prägenden Pastoralbriefe (1 Tim 2,1–2) beschämend:[34]

„So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit.“

Eine solche Gebetshaltung führt unweigerlich in einen Quietismus, der ungeachtet theologischer, religiöser Bedeutungen im heutigen Sprachgebrauch negativ konnotiert ist: Quietismus meint dann abschätzig eine Lebens- und Geisteshaltung, die sich jeder ethischen Herausforderung entzieht und von Gleichgültigkeit, Passivität, Resignation oder Weltflucht geprägt ist. Eine gewisse Frömmigkeit vermag demnach, alle Verantwortung einem „allmächtigen, allwissenden, allgegenwärtigen Gott“ im Gebet zu überlassen. Solches Beten ist freilich ungefährlich für Machthaber und Gewaltherrscher:[35] solange es ein frommes Volk gibt, ist es lenkbar wie eine Herde von Schafen – also: Betet nur fleißig! So der Zynismus der Diktatoren. Beten, das nicht konsequent zum Handeln führt; Beten, das nichts und niemanden – vor allem nicht die Gesinnung des Betenden – verändert, versickert im Morast der bestehenden Verhältnisse.

Die Gebetsschule des Lukas hingegen, basierend auf der Gebetspraxis Jesu, öffnet unsere Herzen und Sinne für ein Beten, das uns mit unseren Bitten, Wünschen, unserem Sehnen und Suchen auch für die Belange und Nöte anderer Menschen in Nah und Fern sensibel werden lässt und uns – wo immer auch möglich – zum entschlossenen Handeln Anlass gibt.

Amen.

Pfarrer Thomas Bautz

Bonn

E-Mail: bautzprivat@gmx.de

Pfarrer „im Unruhestand“


[1] Zum Vergleich, s. Albert Huck/ Heinrich Greeven: Synopse der drei ersten Evangelien (13., völlig neu bearb. Aufl. 1981): Nr. 40. Vom Almosen; 41. Vom Beten; 42. Das Unser-Vater, S. 35–37 (Mt 6,1–4; 6,5–6; 6,7–8.9–13.14–15); Nr. 160. „Das Unser-Vater“; 161. Gleichnis vom bittenden Freund; 162. Von der Gebetserhörung, S. 152–153 (Lk 11,1–4; 11,5–8; 11,9–13).

[2] Das „Problem der Selbstdarstellung durch Gebet“ war „dem Judentum völlig unbekannt“; Hans Weder: Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute (21987): Beten (Mt 6,5–6), 163–167: 164.

[3] Walter Bauer: Wörterbuch zum Neuen Testament (1971), s.v. battalogein, 273; cf. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1 (1985): Gegen Plappergebet (Mt 6,7f), 330–332 (ausführlich u. differenzierter).

[4] Wolfgang Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung (21990), 70.

[5] Eine schöne Paraphrase bietet Walter Jens: Und ein Gebot ging aus. Das Lukas-Evangelium (1991), 75.

[6] Joachim Jeremias findet die übliche Bezeichnung ‚Gleichnis vom bittenden Freund‘ „irreführend“ und schlägt stattdessen vor: „Gleichnis von dem nachts um Hilfe gebetenen Freund“; J. Jeremias: Die Gleichnisse Jesu (71965), 157 (A. 1); 128 (A. 2).

[7] Cf. J. Jeremias: Die Gleichnisse Jesu, 157; François Bovon: Das Evangelium nach Lukas, EKK III/2 (1996): Das Gebet und die Erhörung (11,5–13), S. 143–162: 149–150.

[8] Jeremias: Die Gleichnisse Jesu, 157.

[9] Sprachliche Alternativen bei F. Bovon: Lukas: „Rücksichtslosigkeit“, „Skrupellosigkeit“, „Respektlosigkeit“, 151; Jeremias: „Zudringlichkeit“, 157; W. Bauer: Wörterbuch, s.v. anaídeia, u.a. „Dreistigkeit“, 108; Liddell & Scott:  A Greek-English Lexicon (1996), s.v. anaídeia: Schamlosigkeit; Unnachgiebigkeit, 105.

[10] S. George M. Lamsa: Die Evangelien in aramäischer Sicht. Auf Grund aramäischer, in Jesu Sprache abgefasster Peschittatexte u. zeitgemäß sinnvoller Erklärungen altsemitischer Redewendungen u. Lebensgewohnheiten (1963): Orientalische Gastfreiheit, 310.

[11] Daher beginnt eine Gruppe von Gleichnissen mit der Anrede: „wer unter euch?“, Bovon: Lukas, 148; Heinrich Greeven: „Wer unter euch … ?“ (1952), Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung von Adolf Jülicher bis zur Formgeschichte, hg.v. Wolfgang Harnisch, WdF 366 ( 1982), 238–255: Synoptische Übersicht der Gleichnisse „Wer unter euch … ?“, 240–241.

[12] Lamsa: Die Evangelien in aramäischer Sicht (1963): Nächtlicher Besucher, 310–311.

[13] S. Greeven: „Wer unter euch … ?“ (1952), Gleichnisse Jesu (1982), 240–241ff; cf. Eckhard Rau: Reden in Vollmacht. Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu, FRLANT 149 (1990), 174; Rau kritisiert Greeven zu Unrecht, wenn er meint, dass dieser „die rhetorische Funktion der Frage völlig verkennt“.

[14] Vom logischen Schluss „a minori ad maius“ machen Rechtspraxis, Theologie u. Mathematik Gebrauch; bei Rabbinern: „vom Leichteren aufs Schwerere“; cf. Bovon: Lukas, 155; Greeven: „Wer unter euch … ?“ (1952), Gleichnisse Jesu (1982), 241–242; https://de.jurispedia.org/index.php?title=Gesetzesinterpretation; pointiert: https://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum_a_fortiori. Eugen Drewermann: Das Matthäusevangelium (1. Teil). Bilder der Erfüllung (1992): Beten heißt, die Welt verändern (Mt 7,7–11), 598–605: 602 (A. 10; S. 792).

[15] Greeven (1952) bezeichnet das Syntagma im Griechischen als „tonlose Partizipialbestimmung“: Gleichnisse Jesu (1982), 242.

[16] Greeven: „Wer unter euch … ?“ (1952), Gleichnisse Jesu (1982), 242.

[17] Bovon: Lukas, 145.

[18] Mit Bovon: Lukas, 157.

[19] Ich konzentriere mich hier nur auf drei Bitten.

[20] Bovon: Lukas, 156.

[21] S. Eduard Schweizer: Das Evangelium nach Lukas, NTD 3 (21986): Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches, 179–181; Wolfgang Wiefel: Das Evangelium nach Lukas, ThHNT 3 (1988): Jesu Antwort auf die Frage nach dem Kommen der Gottesherrschaft, 307–309.

[22] Wiefel: Lukas, 309.

[23] Schweizer: Lukas, 181.

[24] Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt? (21987), 124. Intertextuelle Bibelauslegung stößt auch leicht auf den Jakobusbrief (Jak 1,12–15); niemand sage, er werde von Gott in die Versuchung geführt; ER versucht niemanden. Menschen werden von ihrer eigenen Begierde versucht.

[25] Lamsa: Die Evangelien in aramäischer Sicht, 94–95; cf. Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt? (21987), 124: „laß mich nicht der Versuchung unterliegen!“

[26] Günther Bornkamm bemerkt: Es „schlagen und klopfen die Imperative wie gegen eine Tür, die aufspringen soll.“ Bornkamm: Jesus von Nazareth (141988): (V.) Der Wille Gottes (6.) Glaube und Gebet, 114–121: 118.

[27] Bornkamm: Jesus von Nazareth, 118.

[28] Der Betende wird aber vom (heiligen?) Geist unterstützt; Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer, EKK VI/2 (1980), 146 u. 160ff.

[29] Zuversichtlich schreibt Drewermann: Matthäus. Bilder der Erfüllung (1992): Beten heißt, die Welt verändern (Mt 7,7–11), 598–605.

[30] Cf. Herbert Braun: Jesus – der Mann aus Nazareth und seine Zeit. Um 12 Kapitel erweiterte Studienausgabe (1984), 131.

[31] Die Überschrift für Lk 11,5–13 lautet bei Bovon: „Das Gebet und die Erhörung“: Lukas, 143.

[32] Drewermann: Matthäus. Bilder der Erfüllung (1992), 603.

[33] Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Die Bergpredigt. Annäherung – Wirkungsgeschichte (1982): Nachdenkliche Stimmen und ein Gebet (1.) Dom Helder Camara: Gebet für die Reichen, 148f (gekürzte Fassung; Th.B.); cf. Urs Eigenmann: Politische Praxis des Glaubens. Dom Hélder Câmaras Weg zum Anwalt der Armen und seine Reden an die Reichen (1984).

[34] S. Jürgen Roloff: Der erste Brief an Timotheus, EKK XV (1988), 107–119.

[35] Cf. Drewermann: Matthäus. Bilder der Erfüllung (1992), 603.

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