Lukas 16,19-31

Lukas 16,19-31

Zur Einsicht kommen – rechtzeitig! | 1. Sonntag nach Trinitatis | 19.06.22 | Lk 16,19-31 | Uland Spahlinger |

19Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte „. 20Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren 21und begehrte sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre. 22Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.

23Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. 24Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen. 25Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet und du wirst gepeinigt. 26Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.

27Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; 28denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. 29Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. 30Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. 31Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

Liebe Gemeinde,

in dem Münchner Stadtviertel, in dem ich lange Zeit gewohnt habe, gab es eine dunkelgrüne Luxuslimousine, auf die hatte ihr Besitzer hinten einen Aufkleber gesetzt: „Eure Armut kotzt mich an!“ Sie sind schockiert? Ja, so eine Aussage ist schockierend, vor allem, wenn man weiß, dass nur wenige Straßenzüge weiter eine der sozialen Brennpunktsiedlungen Münchens gelegen ist.

Die Aussage klang nicht so, als sei sie ironisch gemeint. Nein, der sie hinten auf seine Karosse gepappt hatte, meinte das auch so. Ihn interessiert die Armut der anderen nicht nur nicht, er empfindet sie für sich selbst in seinem eigenen Wohlstand als abstoßend, ja geradezu obszön. Ich sage auch durchgängig „er“, denn ich habe den Fahrer ja regelmäßig gesehen. Gefragt, was um alles in der Welt er denn mit diesem Spruch meine – und vor allem: wen – gefragt habe ich ihn aber nicht.

Der Reiche im Jesusgleichnis äußert sich nicht unflätig über den Armen. Er überlässt ihn nur sich selbst. Der, der vor der Tür liegt, ist ihm nicht mal die herabgefallenen Brotbrocken wert. Knapp und präzise wird uns die Situation vor Augen gestellt, drinnen, der Reiche, der „alle Tage herrlich und in Freuden“ lebte, draußen der Arme, der auf die Mildtätigkeit der Hunde angewiesen war, die ihm die Wunden lecken. Der Arme übrigens hat einen Namen – Lazarus: das heißt soviel wie: „Gott kommt zu Hilfe“. Ein sprechender Name und überdies ein ganz feiner Hinweis darauf, dass Armut nichts Abstraktes ist, sondern dass sie Gesicht und Namen hat. Armut, sagt Jesus so ganz nebenbei, Armut ist immer konkret, sie betrifft immer Menschen. Der Reiche hingegen bleibt namenlos. Über ihn ist ja auch genug gesagt. Sein Unrecht ist offenbar.

Die Szenerie ändert sich erst mit dem Tod der beiden. Da dreht sich alles. Lazarus wird von den Engeln Gottes direkt ins Himmelreich überführt, hier mythologisch-konkret als „Abrahams Schoß“ bezeichnet. Das will darauf hindeuten: Hier wird uns eine Lehrgeschichte präsentiert, kein reales Geschehen. Der erste Teil kommt alle Tage vor, bei uns und überall auf der Welt. Der zweite will uns vermitteln, was man im Sprichwort „die Moral von der Geschichte‘“ nennt. Lazarus, der mit dem Namen „Gott kommt zu Hilfe“ – bei uns kennt man den Namen Gotthelf, das geht in dieselbe Denkrichtung –, erfährt Gottes Hilfe auf markante Weise. Für ihn ist fortan gesorgt.

Der Reiche aber landet in der Hölle. Im Griechischen steht hier Hades – das Wort finden wir auch in der Odyssee des Homer, als Odysseus das Totenreich besucht, den Hades eben. Der Hades ist der ebenfalls märchenhafte, aber schreckliche Versammlungsort für die Toten[1]; hier erheben sie sich als Schattengeister und können sprechen. Lukas hat diese Vorstellung aufgenommen. Der Reiche ergreift ja das Wort. Und er hat noch ein Element aus der Sagenwelt seiner Zeit dazugegeben: dieser Totenort ist ein Ort der Strafe und der Qualen[2]. Ausgleichende Gerechtigkeit? Es sieht so aus. Der Tod macht eben nicht alle und alles gleich, sondern er korrigiert das, was vorher so offenkundig ungerecht und unbarmherzig war.

Ob wir diese geradezu märchenhafte Vorstellung von der ausgleichenden Gerechtigkeit nach dem Tod so teilen wollen, sei dahingestellt. Sie hat aber schon immer die Phantasie der Menschen angeregt, auch die religiöse Phantasie. Das Fegefeuer als Reinigungsort für zeitliche Sünden ist daraus hervorgegangen – und Bilder wie die von Hieronymus Bosch stellen die Höllenqualen in allen Details und mit großem Einfallsreichtum dar, was die Erfindung immer und immer noch neuer Qualen betrifft. Heiß ist es, vor allem heiß. Und das wird ja auch von dem Reichen erzählt. Die Hölle ist hier der Ort der Feuerqualen. Und die Menschen im heißen Israel wussten ganz gut, was quälende Hitze allein schon im normalen Wüstenalltag bedeutet. Wasser ist überlebensnotwendig. Hier leidet er also, der vorher so ignorante Reiche, und entdeckt, dass der Arme es ja jetzt viel besser hat.

In seiner Not – vielleicht auch mit einer Ahnung, dass hinter der Not schuldhaftes Versagen steht – ruft er Abraham an. Abraham – der Apostel Paulus sagt über den Urvater des israelitischen Gottesglaubens: Abraham „zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde stark im Glauben und gab Gott die Ehre und wusste aufs Allergewisseste: Was Gott verheißt, das kann er auch tun“ (Röm. 4, 20 f.). Abraham ist der Inbegriff des vor Gott Gerechten, weil er Gott vertraute und entsprechend lebte und handelte. So kann er zum Sprecher des Misshandelten werden. Und er macht klar: Da gibt es kein Hinüberkommen aus der einen in die andere Sphäre. So wie es das vorher in umgekehrter Richtung auch nicht gegeben hatte.

Früher wurden solche Geschichten als Bilder an Kirchenwände gemalt – im Mittelalter etwa, als die Leute noch nicht lesen konnten und ihnen die biblischen Geschichten als Bildergeschichten vor Augen geführt wurden. Da spielte der Glaube an einen strengen und strafenden Gott eine Rolle, die Furcht davor, auf Ewigkeit den Höllenqualen preisgegeben zu sein und eine Kirchenlehre, die diese Furcht verstärkte und die Hürden für den Himmel sehr, sehr hoch legte: am ehesten hatten Mönche, Nonnen Priester und Bischöfe den Zugang – weil sie ja, so die Lehre, ihr Leben Gott geweiht hatten. Alle anderen? Na ja – oft genug wurde angenommen: gewogen und zu schwer befunden. Ob es dadurch gerechter zugegangen ist? Wohl kaum. Die Kluft zwischen Armen und Reichen war immer schon groß.

Aber, und das wissen wir, sie war noch nie so gewaltig wie in unserer Zeit. Die Ausbeutung der Erde durch die reichen Staaten zugunsten der reichen Menschen geschieht in den armen Ländern und zu Lasten der armen Menschen. Giftiger und langlebiger Müll wird dorthin exportiert; wertvolle Erden werden dort gefördert und in die Industrieländer transportiert. Unsere E-Fahrzeuge und E-Bikes und alles andere, das mit Batterien betrieben wird, stammt zu wesentlichen Teilen von den Armen, denen die Einnahmequelle geraubt wird. *Überdies müssen sie dann noch die Rohstoffe für Hungerlöhne und unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen fördern. Weil sie anders nicht überleben könnten. Das Gleiche gilt für andere Bodenschätze, für die Abholzung von Regenwald, für die Textilverarbeitung, für die Überfischung der Meere. Mieten, Kita-Plätze, Bildungschancen, Gesundheitsversorgung in unserem Land. Menschen auf der Flucht und Fluchtursachen. Die Liste lässt sich leicht noch um ein Vielfaches verlängern: und die Richtung ist immer dieselbe: Ausbeutung für den Wohlstand derer, die es sich leisten können, und für die Gewinnspanne der beteiligten Firmen. Armut ist keine theoretische Größe, Armut hat Namen und Gesichter. Und die sehen sehr viele kalte Schultern.

Der Reiche in unserer Geschichte zeigt immerhin Einsicht. Als er feststellen muss, dass es für ihn keine Gnade gibt, bittet er immerhin für seine Familie. Er erkennt den Zusammenhang: nämlich, dass er sich selbst zuzuschreiben hat, wo er jetzt hockt, seiner eigenen Selbstbezogenheit und Ignoranz. Man könnte fast Mitleid mit ihm bekommen. Vielleicht auch deshalb, weil wir uns als Leserinnen oder Hörer der Geschichte ertappt fühlen. Irgendwie könnten wir das halt auch sein.

Das Überraschende an der Geschichte ist für mich aber der Schluss. Auf die Bitte des Reichen sagt Abraham:29…Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. 30Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. 31Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.“ Es ist schon alles gesagt, was ihr wissen müsst. Ihr müsst euch nur die Mühe machen und nachlesen. Was verlangt Gott denn von dir? Nehmen wir den Propheten Micha: 8Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 6,8) Gott fordert nicht mehr und nicht weniger von dir als du auch von anderen erwarten würdest: nämlich dass du gerecht und barmherzig bist und deinem Schöpfer mit Respekt und Liebe begegnest. Bei Jesus klingt das dann so: 25Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?“ (Lukas 10, 25-29).

Ja, wer ist es denn? Jesus erzählt an dieser Stelle die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Da geht es nicht um arm und reich, sondern um eine Notsituation nach Überfall. Aber die Haltung, die Jesus fordert, ist dieselbe: er fordert liebevolle Aufmerksamkeit für den, der Hilfe braucht. Das ist für ihn das Maß aller Dinge. Egal woher er oder sie kommt. Egal, welche Hautfarbe er trägt, egal, welche Sprache sie spricht oder was sie glaubt. Armut ist ein Kriterium, aber auch Hilfsbedürftigkeit. Barmherzigkeit ist gefordert, aber nicht als „kann man machen oder bleiben lassen“, sondern letztlich als Anspruch: denn von Gott sind wir alle mit gleicher Würde ausgestattet. (Der Autoaufkleber ist, auch so gesehen, ein vollständiges Armutszeugnis – ein „no go“.)

Es geht also letztlich darum, dass allen das gleiche Recht Gottes entgegentritt und die gleiche Gerechtigkeit, was die Verteilung der Güter dieser Erde betrifft. Und es liegt an uns, den Lebenden, dafür zu sorgen – von den Toten können wir es nicht mehr erwarten.

Und noch eins: Wir, die Lebenden, sind die, die den Auftrag haben. Weil allein wir es sind, die auch die Chance haben. Wir, die Lebenden. Wir sollen von der Hilflosigkeit des Toten lernen, für den es zu spät ist. Nicht er, der Tote ist angesprochen, sondern wir. Darauf will Jesus uns hinweisen: Du Lebende, du Lebender hast jetzt die Zeit. Halte dich an Gott, lerne seinen Willen verstehen. Erbitte dir von ihm die Kraft zur Veränderung und zur Umkehr. „Lies und versteh: Noch ist Zeit[3]“.

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Dekan Uland Spahlinger, Dinkelsbühl

uland.spahlinger@elkb.de

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Seit 2015/2016 setzt sich der Dekanatsbezirk Dinkelsbühl für Menschen ein, die auf der Flucht in unsere Region gekommen sind, in den letzten Wochen verstärkt für ukrainische Frauen und Kinder. Wir haben dazu eine Beratungsstelle für Migration und Teilhabe begründet, die professionelle Hilfe anbietet, und werden von den örtlichen Helferkreisen in Anspruch genommen und unterstützt. Auch kooperieren wir mit Partnern wie matteo – Kirche und Asyl e.V.“, der sich die Beratung von Abschiebung Bedrohter und, wo nötig, die Einnrichtung und beratende Unterstützung bei Kirchenasylen zur Aufgabe gemacht hat.

[1] Vgl. H.W.Wolf, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, S. 156

[2] So im Exegetischen Wörterbuch zum Neuen Testament Bd. 1, Stuttgart 1992², Sp.73 zum Wort

[3] So Hans Ulrich Gehring zum Abschluss seiner Meditation in den Göttinger Predigtmeditationen, 76. Jg. Heft 3, Göttingen 2022, S. 351

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