Lukas 16,19-31

Lukas 16,19-31

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


10. Sonntag nach
Trinitatis

27.8.2000
Lukas 16,19-31

Matthias Viertel


Hinweis zur Wahl des Predigttextes

„Die Elenden sollen
essen“

Predigt zum Kantatengottesdienst über Bachs
Kantate BWV 75

Evangelium und Predigttext:

Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in
Purpur und kostbare Leinwand und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Ein
Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Türe; der war mit
Geschwüren bedeckt und begehrte sich von dem zu sättigen, was vom
Tisch des Reichen abfiel; dagegen kamen die Hunde und beleckten seine
Geschwüre. Es begab sich aber, daß der Arme starb und daß er
von den Engeln in Abrahams Schoß getragen wurde. Aber auch der Reiche
starb und wurde begraben. Und als er im Totenreich, von Qualen geplagt, seine
Augen erhob, sah er Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er
rief mit lauter Stimme: Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit
er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und meine Zunge kühle; denn
ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Kind, gedenke daran,
daß du in deinem Leben dein Gutes empfangen hast und Lazarus
gleichermaßen das Böse; jetzt dagegen wird er hier getröstet,
du aber leidest Pein. Und bei alledem besteht zwischen uns und euch eine
große Kluft, damit die, welche von hier zu euch hinüber gehen
wollen, es nicht vermögen, noch die, welche dort sind, zu uns herüber
gelangen können. Da sagt er: So bitte ich dich denn, Vater, daß du
ihn in das Haus meines Vaters sendest – denn ich habe fünf
Brüder – , auf daß er ihnen sichere Kunde bringe, damit nicht auch
sie an diesen Ort der Qual kommen. Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die
Propheten; sie sollen auf sie hören! Der jedoch sagte: Nein, Vater
Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen geht, werden sie Buße
tun. Da sprach er zu ihm: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören,
werden sie sich auch nicht gewinnen lassen, wenn einer von den Toten
aufersteht. (Lukas 16,19-31)

Liebe Gemeinde!

Ein Predigttext, der uns etwas schildert, was wir
nur zu genau kennen: Reichtum – Armut – und die Kluft dazwischen, die
immer größer wird. So gesehen liegt uns das Thema dieser
Beispielgeschichte, wie der Evangelist Lukas sie uns überliefert,
eigentlich sehr nahe. Es ist auf jeden Fall hoch aktuell, aktueller vielleicht
noch als zur Zeit Jesu oder zu der Zeit, als Johann Sebastian Bach sich mit
seiner Kantate daran gemacht hat, den verhängnisvollen Kontrast von arm
und reich in Töne zu fassen. Heute ist die Schere nicht nur zwischen armen
und reichen Menschen sondern sogar zwischen armen und reichen Nationen, ja
ganzen Erdteilen dramatischer denn je und vor allem, das Bewußtsein und
das Wissen um diese globale Ungleichheit ist größer denn je. Kein
Mensch in Europa kann sagen, er habe nichts davon gewußt, wie viele
Menschen, Erwachsene und Kinder in Afrika in Asien und Lateinamerika wirklich
am Hunger leiden und in Armut dahin vegetieren, niemand kann sagen, er oder sie
sei nicht informiert gewesen.

Und doch, bei aller Aktualität und bei aller
politischen Brisanz bleibt der Text aus dem Lukasevangelium für mich ein
unangenehmer Text! Es ist für mich nämlich äußerst
fraglich, ob der Bibeltext uns zur Lösung aus diesem Dilemma wirklich
behilflich sein kann, oder ob er nicht nur den Graben noch vertieft, der
sowieso schon da ist. Und richtiggehend dramatisch wird es, wenn wir das Thema
reich und arm nicht nur sozialpolitisch betrachten sondern theologisch, denn
dann wirkt die Geschichte von dem Reichen und dem armen Lazarus nicht nur
wirkungslos sondern sogar verhängnisvoll.

Allzusehr spricht aus ihm ein doch sehr plattes,
ja geradezu naives Vergeltungsdenken, das, wenn wir es unter die Lupe nehmen,
eigentlich alles andere ist als christlich. Überhaupt ist das alles doch
zu einsichtig: Dem Gleichnis liegt ein Schema zugrunde, demzufolge alle
Menschen gewissermaßen ein festes Kontingent an Glück, Wohlergehen
und Zuwendung haben, offen bliebt dabei nur, wo und wann sie es erhalten,
entweder auf Erden oder aber nach dem Tod – im Himmel wie die christliche
Chiffre es benennt. Wem es im irdischen Leben gut geht, vielleicht auch
zu gut, der hat eben Pech, der bekommt seine Quittung im Jenseits
präsentiert, muß quasi seinen Wohlstand abarbeiten. Diejenigen
dagegen, die hier Not leiden, machen dann später den großen Reibach
– Hauptsache die alles ausgleichende Gerechtigkeit wird gewahrt und unser
allzu menschliches Denken wird befriedigt. Das Ganze wirkt auf mich wie das
Gerechtigkeitsdenken von Kindern: wenn der eine dieses bekommt, muß die
andere auch jenes haben, immer gleich aufgeteilt, ohne irgend jemanden zu
vernachlässigen. Gott muß da doch einfach genauso reagieren wie die
gerechten Eltern, die stets und ständig auf der Suche nach Ausgleich sind.

So ein kindlich naives Gerechtigkeitsdenken
präsentiert uns dieses Gleichnis auf brutalsmöglichste Weise. Selbst
die Hunde gerieren sich da noch besser, erfahren wir, sie lecken dem Armen
wenigstens die Wunden und zeigen sich damit barmherziger sogar als die
Mitmenschen. Und auch nach dem Tod, im Jenseits gibt es keinerlei Pardon, keine
Vergebung, keine Gnade. Dafür sorgt schon der tiefe Graben, der jegliche
Verbindung jede Art der Hinwendung, der Zuwendung verhindert. So werden
schließlich auch die Armen, die sich als die Guten herausstellen, daran
gehindert, das unter Beweis zu stellen, was sie doch gerade zu den Guten machen
sollte, nämlich die Gnade!

Das Gleichnis vom Reichen und dem armen Lazarus
ist ein gnadenloses Gleichnis, ein Evangelium ohne Mitleid. Nicht nach guten
und schlechten Menschen wird im Jenseits geurteilt und sortiert – so
erfahren wir – , sondern schlicht nach dem Prinzip der ausgleichenden
Gerechtigkeit. Der simple Sieg von Rechtsdenken über Gnade und
Barmherzigkeit, man könnte sogar sagen: Der Sieg des Gesetzes über
die Nächstenliebe. Und der Text aus dem Lukas-Evangelium – unser
Predigttext für den heutigen Sonntag – verstrickt sich dabei sogar
noch in Ungereimtheiten, die kaum plausibel gemacht werden können.
Immerhin zeigt sich der Reiche noch barmherziger und selbstloser als der
Lazarus, etwa wenn er darum bittet, die Kunde über sein Schicksal doch
zumindest an die Kinder weiterzuleiten, damit wenigstens sie, die Nachkommen
aus seinem Fehler lernen mögen. Aber nein, auch das wird nicht gestattet,
kein Pardon und keinen Millimeter Abweichung vom Gesetz der Vergeltung.

So, liebe Gemeinde, nun habe ich mir erstmal Luft
gemacht. Und das ist auch notwendig, denn tatsächlich wird dieser
Evangelientext noch immer häufig so verstanden, als könne daraus ein
Sozialprogramm abgeleitet werden, das mangelnde Gerechtigkeit auf Erden
kompensiert. So als könne aus dem Beispiel des armen Lazarus ein
Notprogramm abgeleitet werden oder gar ein Bestrafungskonzept für all die
Banker und Börsianer und Kapitalisten, die sich nicht um die Armen auf
dieser Welt scheren.

Aber ich denke, mit einem solchen Verständnis
des Predigttextes tun wir allen Unrecht. Und zwar nicht nur den Reichen, die
ohne Pardon und ohne alle Differenzierung wegen ihres
übermäßigen Wohlstandes dem Verderben ausgeliefert werden
sollen. Genauso tun wir den Armen mit solcher Auslegung Unrecht, denn dieses
Gleichnis verurteilt sie unabänderlich dazu, in ihrer Armut weiterhin
auszuharren, nur um des seelischen Heils willen. Das ist der Grundzug aller
Vertröstungstheologie, die nicht zu Unrecht immer wieder kritisiert worden
ist.

Daß das nicht so ist, daß das Evangelium weder
Vergeltung noch Vertröstung predigt, ja daß das nicht so sein
darf, daß das nicht so gemeint sein kann, das ist mir schon
wichtig und ich meine, es auch belegen zu können. Aber dafür
müssen wir ein wenig ausholen und zunächst einige grundsätzliche
Fragen klären:

Zum einen gehe ich davon aus, daß die
Texte der Evangelien grundsätzlich und prinzipiell immer an uns selbst
gerichtet sind, an diejenigen also, die sie hören – sie sind
gemeint, wir sind gemeint. Nicht die anderen, auf die wir so
gerne mit den Fingern zeigen, wenn wir uns über mangelnde Gerechtigkeit
beklagen.

Der Schlüssel der Geschichte liegt – so
meine ich – bei der Frage, mit wem wir, die Predigthörer, uns
identifizieren? Ist es der protziger Reiche, das würde ja passen; aber
dann bliebe uns nichts anderes übrig, als die Händen in den
Schoß zu legen: Pech gehabt! Wem es – wie uns – in der Welt zu gut geht,
der hat im Jenseits eben keine Chance mehr. Es sei denn er gibt alles auf und
hin, was den Lebensstandard so ausmacht, und zwar sofort. Na ? wie geht es
Ihnen mit dieser Botschaft? Sehr animierend ist das nicht und letztlich
wäre zu fragen, ob der Welt wirklich damit geholfen ist, wenn alle
Menschen arm und leidend werden und ihren Besitz dahin geben.

Probieren wir es doch einmal anders herum, warum
sollten wir uns nicht mit dem armen Lazarus identifizieren? So abwegig ist das
gar nicht, denn dem Text geht es bekanntlich nicht nur um die
Gegenüberstellung von materiellem Reichtum und Armut. „Das Leben
ist mehr als nur Essen und Trinken
“, sagt Jesus in der Tradition des
Matthäus-Evangeliums, denn „nicht vom Brot allein lebt der
Mensch, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht
“.
Und Lukas ergänzt diese Aussage noch mit der Mahnung „Hütet
euch vor aller Habsucht, denn auch wenn einer Überfluß hat beruht
sein Leben doch nicht auf seinem Besitz.“
So gesehen sind wir
möglicherweise tatsächlich lauter arme „Lazarusse“; dahin
vegetierend und leidend unter geistlicher Armut. Aber letztendlich ist
das doch auch nur wieder ein Trick, um das Jenseits zu sichern, so nach dem
Motto: Hier auf Erden haben wir den materiellen Wohlstand und die geistliche
Armut, dann im Jenseits kann es ruhig umgedreht sein.

Es ist wirklich schwierig mit der Wahl der
Perspektive beim Lesen dieses Textes. Und doch hängt alles davon ab. Je
länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon,
daß keiner von beiden als Identifikationsschablone taugt, weder der
Reiche noch der Arme! Und doch soll uns der Text persönlich und
unmittelbar ansprechen. Ich glaube das tut er letztlich nur, wenn wir die
andere Person hinzuziehen, die bisher noch gar nicht erwähnt worden ist:
Die Brüder ( oder: Schwestern, müßten wir ergänzen), die
ganz zum Ende erwähnt werden. Die Angehörigen des Reichen, seine
Familie – wie gerne würde er doch wenigstens sie warnen, damit
sie nicht das gleiche Schicksal erleiden. Wie gerne würde er ihnen einen
Spiegel vorhalten, zeigen wie sinnentleert ihr Leben ist, voller Plunder mit
vollen Mägen und vollem Konto aber sonst total leer! Ohne jede Tiefe, ohne
wirklichen Sinngehalt, nur mit Banalitäten angehäuft, ein Dasein, in
dem Lebensfülle durch Leibesfülle ersetzt wird, und
Lebensqualität nach Kubikmetern bemessen wird, nach Kubikmetern an
Wohlstandsmüll, in dem wir fast ertrinken, ja besser: ersticken.

Das alles würde der Reiche seinen
Brüdern und Schwestern so gerne mitteilen, damit wenigstens Sie daraus
lernen, bevor es zu spät ist. Will sagen: bevor das Leben zu Ende ist und
dann nichts mehr geändert werden kann! Aber das geht nicht, Abraham
höchstpersönlich verbietet es, und dann spricht er diese
entscheidenden Worte:

„Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht
hören, werden sie sich auch nicht gewinnen lassen, wenn einer von den
Toten aufersteht.“

Diese Worte müssen wir schon in aller Ruhe bedenken, wir sind
ja in einer ganz eigenartigen Position, denn im Gegensatz zu dem Reichen im
Lukastext ist Jesus auferstanden von den Toten, er allein vermag das, was dem
Reichen in der Beispielgeschichte vorenthalten wird. Und? Wie sieht der Erfolg
aus? Haben wir uns von ihm gewinnen lassen und Konsequenzen für da Leben
gezogen?

Wenn wir nicht auf Mose und die Propheten
hören, werden wir uns selbst dann nicht gewinnen lassen, wenn einer von
den Toten aufersteht! In diesem Satz steckt die ganze Dramatik des Glaubens.
Und er verdeutlicht, wie wenig es Lukas darum geht, ein Sozialprogramm zu
predigen oder gar einen Aufruf zur Armutsideologie zu formulieren. Viel
wichtiger ist die Erkenntnis, daß jede Lebensveränderung nur aus dem
Glauben hervorgeht und nicht argumentativ abgeleitet werden kann.

Die Elenden werden essen!! Sicherlich, daran
besteht kein Zweifel, aber sie tun es ohne Berechnung, sondern aus dem tiefen
Glauben heraus. Kurz gesagt geht es darum, daß die Hungernden satt
werden, auch – oder gerade weil – sie das Leben nicht satt haben.

Johann Sebastian Bach mag diesen Sinn des
Predigttextes empfunden haben, als er seine Kantate dazu komponierte. Deshalb
wechseln die Worte in der zweiten Hälfte seiner Kantate, die wir nun
hören werden: Jetzt ist auf einmal von der „Armut des
Geistes“ die Rede und von dem Reichtum der aus dem
Herzen kommt und im Herzen empfunden wird.

Amen

Hinweis:
Da die Predigt im Rahmen eines
Kantatengottesdienstes steht, der an die 1. Kantate erinnert, mit der J.S.Bach
seine Zeit als Thomaskantor in Leipzig eröffnete, liegt der Predigt nicht
der vorgeschlagene Text aus der Periokopenreihe zugrunde sondern jener Text,
den auch Bach damals, 1723, benutzt hat.

Pfarrer Dr. Matthias Viertel
Direktor der Ev.
Akademie Hofgeismar
E-Mail:
viertel.matthias@t-online.de

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