Matthäus 11, 2 – 6

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Matthäus 11, 2 – 6

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


3.
Advent

12. Dezember 1999
Matthäus 11, 2 – 6


Okko Herlyn


Hochschulgottesdienst in Bochum am 12. Dezember
1999 (3. Advent)

Liebe Gemeinde,

„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir
auf einen anderen warten?“ Dieser Text erinnert mich an ein Bild von Habdank.
Es heißt „Warten“. Hoch über der Stadt eine Handvoll Menschen mit
großen Augen. Für ein paar nächtliche Stunden haben sie – so
scheint es – ihren Alltag verlassen und ein waghalsiges und zugiges
Baugerüst erklommen. Von dort oben läßt es sich besser sehen,
glauben sie. Einer hat sogar ein Fernrohr mitgebracht. Wonach halten sie
Ausschau? Worauf warten sie?

In ihren Augen liegen Sehnsucht und Schmerz.
Vieles von dem, was sie dort unten in der Stadt, im Alltag ihres Lebens
erfahren haben, haben sie mit hier heraufgeschleppt: Einsamkeit und Kälte,
Sorgen und Ängste, Traurigsein und innere Leere. Die Augen, die Gesichter,
die Hände und die Haltung ihrer Körper – all das drückt etwas
von dem aus, was sie wohl allzu gerne unter und hinter sich gelassen
hätten, aber nun doch mitgeschleppt haben auf dieses wacklige und zugige
Baugerüst, das Baugerüst ihrer Hoffnungen und Sehnsüchte. Wonach
halten sie Ausschau? Worauf warten sie?

Auf das große Glück? Oder wenigstens
auf das kleine Glück? Auf ein gutes Wort? Oder auf eine Hand, die ruhig
ihre Angst abwischt? Auf ein Ohr, in das sie ihre Sorgen werfen können?
Oder auf einen Arm, der sich um ihre Schultern legt? Auf einen großen
Mantel, der alle Blöße, alle Leere bedeckt und umschließt?
Oder gar auf ein Zuhause, das ihnen Geborgenheit und Wärme schenkt?

Sträfling und Dirne, verbitterter Greis,
abgerissener Penner und armer Hund – wahrhaft ein Häuflein Elend dort oben
auf dem wackligen Baugerüst ihrer Hoffnungen und Sehnsüchte. Aber so
sehr sie auch die Stadt, den Alltag und das Elend ihres Lebens verlassen haben,
sie haben nur das Gefängnis gewechselt. Sie haben die Mauern des
täglichen Lebens nur gegen die Gitterstäbe ihrer Erwartungen und
Träume eingetauscht. Ob unten oder oben, sie bleiben Gefangene:
Sträfling und Dirne, Greis, Penner und armer Hund. Und so sehr sie auch
warten und träumen, so sehr sie auch suchen und hoffen, so sehr sie auch
Ausschau halten, niemand ist in Sicht.

Da hatte sich schon einmal einer sehr weit
vorgewagt mit seinen Erwartungen; sehr weit herausgetraut mit seinen
Hoffnungen: Johannes der Täufer hieß er und war gerade mit seinen
Erwartungen und Hoffnungen, mit seinen Träumen und Ausblicken im
Gefängnis gelandet: „Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken
Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist
du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“

„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir
auf einen anderen warten?“ Das ganze Elend seines Lebens schwingt in dieser
Frage mit: Die ganzen Hoffnungen seines Volkes, dessen Sohn er war, und deren
jahrhundertalte Sehnsucht er geteilt hatte. Nicht im Kopf hatte er die
Sehnsucht seines Volkes geteilt, auch nicht mit dem Bekenntnis seiner Lippen,
sondern mit seiner Existenz. Wie er so hart dastand, draußen in der
Wüste am Jordan, hart gegen sich selbst, bekleidet mit dürftigem
Fell, karg in der Ernährung, konsequent mit einem alternativen Lebensstil,
unbestechlich in seinen Gedanken, unerbittlich in seiner Anklage gegen
bürgerliche Moral und gesellschaftlichem Filz, gnadenlos, wie er die
Masken der Wohlanständigkeit, Sitte und Religion, jawohl auch der
Religion, den Leuten vom Gesicht reißt, um all ihre Verlogenheit, all
ihre Kungeleien, all ihre Arroganz und Eitelkeit bloßzulegen. Wie er so
dastand, draußen in der Wüste: ein wandelndes Bekenntnis zu der
Sehnsucht seines Volkes. Der Sehnsucht nach dem, der mit all dem menschlichen
Müll, mit all der menschlichen Scheinmoral, mit all den vielen
menschlichen Halbheiten und Lauheiten aufräumen sollte. Der Sehnsucht nach
dem gerechten und harten Richter. Der Sehnsucht nach dem Messias oder dem, was
Johannes sich darunter vorstellte.

„Bist du es, der kommen soll, oder sollen wir auf
einen anderen warten?“ Viel Zweifel schwingt da mit; Enttäuschung.
Enttäuschung über den, von dessen Werken er im Gefängnis
gehört hat. Die Gerüchte über jenen wundersamen Mann aus
Nazareth sind offenbar bis in seine Zelle gedrungen, aber – sie haben ihn nicht
überzeugt. Was da so berichtet wird, das reimt sich nur wenig zusammen mit
dem, wovon er, Johannes, Zeit seines Lebens geträumt und gehofft hat. Das
paßt nur wenig zu dem, wovon er so heftig gepredigt, wofür er sich
mit seiner Existenz eingesetzt, um dessentwillen er sogar zu leiden bereit
gewesen ist. Die armselige, niedrige, ganz und gar unherrschaftliche Gestalt
des Jesus von Nazareth, entschuldigung, die Frage muß erlaubt sein: „Bist
du etwa der, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“

„Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Gehet
hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und
Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehe auf,
und Armen wird das Evangelium gepredigt, und selig ist, wer an mir keinen
Anstoß nimmt.“

Das zugige Baugerüst der Erwartungen und
Hoffnungen, auf das sich Johannes in seinem verzweifelten Mut hinaufgewagt hat,
gerät mächtig ins Schwanken. Es waren eben seine Erwartungen,
seine Hoffnungen, seine Träume, die er mit seiner wahrhaft
prophetischen Existenz gelebt und gelitten hat. Es war seine Frage an
den Kommenden, sein Wunsch nach einem Richter.

Aber der da kommt, setzt all diesen Erwartungen
seine eigene Antwort entgegen. Schon so, daß er wirklich auf alles
Suchen, Fragen und Hoffen eine Antwort gibt, aber nicht einfach den Erwartungen
entspricht, sondern sie selber mit einer eigenen, womöglich ganz und gar
unerwarteten Antwort füllt: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige
werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium
gepredigt.“

Erwartet war ein Richter, hart und gnadenlos.
Gekommen ist in der Tat auch ein Richter, aber keiner der verurteilt und
verdammt, sondern einer, dessen Richten in Aufrichten besteht: Blinde,
Lahme, Taube – die vielen geknickten Rohre zerbricht er nicht, sondern richtet
sie wieder auf. Aussätzige, Arme, Sterbende – die vielen glimmenden Dochte
löscht er nicht aus, sondern bringt sie wieder zum Leuchten. So versieht
er sein Richteramt, indem er aufrichtet und zurecht bringt, indem er
heilt und stärkt. „Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.“ So
füllt er alle Sehnsucht und allen Schmerz, so bringt er
alles Fragen, Warten, Zweifeln und Verzweifeln zum Verstummen.
Gnädig zum Verstummen.

„Und selig ist, wer an mir keinen Anstoß
nimmt.“

Ja, wir stoßen kräftig an diesem
Richter. Seine Gnade genügt uns nicht. Der ganze Weihnachtszirkus, der da
Jahr um Jahr ohne unseren Widerstand abläuft, der ganze Lichter- und
Kassenrummel, die ganze weihnachtliche Liederberieselung in den
Kaufhäusern, die ganzen Berge von Braten und Gebäck, die ganze
verlogene Besinnlichkeit der Festtagsprogramme und Zeitungsbeilagen, die
Weihnachtskassette oder der Weihnachtsschnaps oder am Ende gar unser heiliger
deutscher Weihnachtsbaum – all das ein einziger, großer, unseliger
Anstoß an dem, der da gnädig aufrichtend und zurecht bringend in
unsere geknickte Welt gekommen ist. Ein einziger unseliger Anstoß an
Jesus Christus. Doch selig, wer nicht an ihm Anstoß nimmt.

Es mag sein, daß dieser Jesus Christus nicht
unsere Erwartungen erfüllt. Es mag sein, daß wir – so fern wir unser
Weihnachten bei Karstadt und im Media-Markt einkaufen – von diesem Jesus
Christus enttäuscht werden. Eins jedenfalls wird nicht sein: daß
dieser Jesus Christus uns in irgendeiner Weise leer ausgehen läßt.

Auch Johannes der Täufer ging nicht leer aus.
Die große Hoffnung, die er trug, wurde ja erfüllt. Vielleicht
anders, als er sich das erträumt hatte, aber sie wurde erfüllt.
Vielleicht lag es auch mit daran, daß Johannes überhaupt diese
Zuversicht hatte, überhaupt warten konnte, überhaupt mit Gottes
Kommen in diese Welt rechnete.

Rechnest du noch damit? Oder hast du dich schon
abgefunden mit dem Lauf der Dinge?

Du sagst, du fühlst dich manchmal auch
lahm, ausgebrannt, leer. – Rechnest du überhaupt noch mit etwas
anderem, ,mit Gott?

Du sagst, du fühlst dich verwirrt, geblendet,
blind, orientierungslos in der verwirrenden Vielfalt der
Lebensmöglichkeiten. – Möchtest du überhaupt sehend werden,
Klarheit bekommen, Wegweisung finden – von Gott?

Du sagst, du fühlst dich einsam,
unverstanden, wenn man so will, geradezu „aussätzig„, gemieden. –
Hat Gott nicht doch schon in deinem Leben zu wirken begonnen und du hast es
noch nicht gemerkt?

Du sagst, du fühlst dich elend, arm,
krank, matt und sterbend. – Hast du überhaupt Hunger nach dem
Evangelium, nach jenem einen Trost im Leben und im Sterben? Oder betäubst
du ihn nicht doch lieber mit Marzipan und religiöser Folklore, so
daß es kein Wunder ist, wenn du arm und sterbend Elend bleibst?

Das wäre ein Advent, wenn uns dieses Warten,
diese unbändige Sehnsucht nach einem neuen Leben, nach einem neuen Himmel
und einer neuen Erde erfüllte.

Wir dürfen gewiß sein, daß Gott
jedenfalls das Seine tun wird, daß keiner leer ausgehen wird. Amen.

Prof. Dr. Okko Herlyn, Kurfuerstenstr. 10, 44791 Bochum


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