Lukas 17:20-24

Lukas 17:20-24

Liebe Gemeinde,

wie kriege ich nur beides zusammen: die trübe Stimmung der Novembertage
und die Hoffnung, dass das Leben sich lohnt; den Gang zum Friedhof in
diesen kürzer werdenden Tagen, die Gedanken an die Verstorbenen
unserer Familien und an die Vergänglichkeit, die uns allen droht,
und den ganz alltäglichen Lebenswillen, der das alles an den Rand
zu drängen versucht; die Erinnerung an die Vernichtung eines Volkes,
die mit planvoller Propaganda begann und sich schrittweise zum erkennbaren
Verbrechen steigerte, und die ganz normale Sehnsucht nach einem glücklichen,
erfüllten Leben und einer heilen Welt?

Wie kriege ich nur beides zusammen? Wenn es sich überhaupt zusammenkriegen
lässt. Wenn nicht beides einfach unverbunden nebeneinander stehen
bleiben muss als Zeichen dafür, dass das Leben zwiespältig
ist und seine Spannungen nicht ausgeglichen werden können.

Haben nicht die recht, die sagen: So ist die Welt, voller Sehnsucht
und voller Grausamkeit, daran ändert sich nichts, so lange sie besteht?
Menschen suchen nach Glück, und Menschen quälen einander, auch
deshalb, weil sie das Glück für sich selbst reservieren möchten,
es nicht teilen möchten mit anderen. Das muss man hinnehmen?

Da bleibt kaum anderes als den Kopf einzuziehen, damit das Elend wenigstens
einen selbst nicht trifft. Durchkommen, überleben, das Beste daraus
machen, irgendwie wird’s schon weitergehen, es wird schon wieder werden,
das wird zur Lebensmaxime.

So ist die Welt. Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht
zu ändern ist
, und sich aufs eigene Leben konzentriert und
zusieht, dass es einigermaßen gut geht. Das scheint die Regel
zu sein, nach der wir leben. Vergessen, verdrängen, sich drüber
weghelfen, irgendwie weiterwursteln, es wird schon weitergehen.

Doch selbst in diesem Weiterwursteln, ein bisschen resigniert, auch
wenn sich die Resignation als Lebensklugheit gibt, bleibt doch eine Sehnsucht
wach: Die Sehnsucht nach einem Leben, das gelingt. Nach Liebe und Geborgenheit,
nach Sinn, den man entdecken möchte im Leben, einem Stück Sinn
wenigstens, wenn schon das Ganze nicht zu finden ist. Etwas Sinnvolles
tun, einen Beruf finden oder haben und behalten, eine Partnerschaft erleben,
die Geborgenheit gibt und Glück, Erfolg haben und vielleicht eine
Familie, wenigstens zu bestimmten Zeiten ein glückliches Leben genießen,
im Urlaub, an den Wochenenden, in der Freizeit, mit den Schwierigkeiten
zurechtkommen, vor die das Leben stellt. Die kleine Münze für
die große Suche nach Sinn und Erfüllung, nach Glück.

Von da ist so weit gar nicht zu der Frage dieses Bibelabschnitts: Wann
kommt das Reich Gottes? Wann werden wir den guten Zustand der Welt erreichen?
Dieses Bild, das Reich Gottes, steht ja für die Erwartung auf Glück,
die wir haben, vollkommenes, unendliches Glück, und nichts fehlt
mehr daran. Ob es sich lohnt, auf die Antwort hinzuschauen, die Jesu
auf die Frage nach dem Reich Gottes gibt?

Drei oder vier Dinge sind mir wichtig geworden beim Nachdenken darüber.

(1) Noch vor der Frage, wann das Reich kommt, die andere Frage: Was
ist das denn, das Reich Gottes? Klingt ein bisschen fremd, auch wenn
wir’s im Vaterunser immerzu beten, gleich zweimal in diesem Gebet: Dein
Reich komme. Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in
Ewigkeit. Amen.

Reich Gottes, Herrschaft Gottes, das sind Begriffe, die in der jüdischen
Tradition so schwer gar nicht zu verstehen sind.

Die Geschichte ist ja einfach: Gott hat die Welt geschaffen, und
siehe, sie war sehr gut
. Bis dann die Freiheit des Menschen diese
gute Welt aufs Spiel gesetzt hat. Die Arbeit wird zur Mühe, im
Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen.
Und
mit dem Neid kommen Mord und Totschlag in die Welt, sichtbar an Kain,
der den Abel erschlägt, Verderbtheit bis hin zu Zuständen
wie in Sodom und Gomorra.

Dieser Geschichte des Verderbens will Gott Einhalt gebieten, sie umkehren.
Er erwählt sich sein Volk, Israel, mit Abraham, Isaak und Jakob,
Mose und Aaron, gibt ihm Gebote für ein gutes Zusammenleben und
sorgt durch seine Propheten dafür, das Volk immer wieder auf den
Weg zu Frieden und Gerechtigkeit zu rufen. Sein Gesetz soll gelten: Leben
und Gerechtigkeit für alle; im Kult die Vergewisserung über
die Ordnung der Welt, in der wir leben, im Recht die Regelung
des Zusammenlebens und im Erbarmen der Ausgleich für die
Armen und Schwachen, denen das Leben nicht von allein das bietet, was
sie brauchen. Ein komplexes System, dieses System von Recht und Kult
und Erbarmen, das ein einziges Ziel hat: Der gute Gott soll in der Welt
herrschen, sein Wille, sein Gesetz soll die Welt ordnen, damit alle leben.

Herrschaft Gottes, Reich Gottes – Ausgang und Ziel der Weltgeschichte,
Anfang und Ende und Richtschnur für das Leben dazwischen.

(2) Wenn das das Reich Gottes ist, dann bleibt die Frage, wo es jetzt,
in der Zeit zwischen Anfang und Ende, zu erfahren ist.

20 Als er von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das
Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt
nicht so, dass man’s beobachten kann; 21 man wird auch nicht sagen:
Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist
mitten unter euch.

Was im griechischen Neuen Testament steht, ist doppeldeutig. Das zeigen
schon die Übersetzungen, die die Lutherbibel über die Jahrhunderte
hinweg bietet. Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Und: Das
Reich Gottes ist mitten unter euch.

Beides scheint einander zu widersprechen: Innerlich oder äußerlich,
aber doch nicht beides zugleich. Eine Sache des Gefühls, des Vertrauens,
der Verinnerlichung, der Religiosität – oder eine Sache
der Weltgestaltung, der Aktion, der erfahrbaren Gerechtigkeit und Liebe.
Was denn nun?

(2.1) Unbestritten: Religion hat mit Innerlichkeit zu tun. Es geht um
Gefühle, um Vertrauen, um das Wissen, dass wir kleine Menschen eingebettet
sind in den großen Zusammenhang der Welt, dass ein Größerer
uns trägt, Gott, der die Welt geschaffen hat und vollenden will.

Aber Innerlichkeit nicht im Sinn einer Erleuchtung, über die man
kaum mehr sprechen kann, einem geheimen Wissen, das einen zum Rückzug
von der Welt treibt, ins Kämmerlein mit dem Buch, in den Zirkel
von Gleichgesinnten, esoterisch-solipsistisch oder dogmatisch-fanatisch
ins Aus der Gesellschaft.

Innerlichkeit eher als der Halt, den ich erfahre, wo ich weiß,
woher meine Welt kommt und wohin sie geht. Als Vergewisserung meines
Stands in der Welt, der mir Gelassenheit gibt und mich freimacht zum
Tun.

(2.2) Das nämlich gehört für jeden Glauben, der sich
auf die Bibel beruft, den jüdischen wie den christlichen, zum Heiligen,
zur Religion hinzu: das Tun des Gerechten, die Ethik, die Moral, die
Gebote, der Einsatz für die Nächsten. Ohne Tun ist der Glaube
tot. Und wenn tausendmal das Rechte geglaubt wird. Oder besser: Das Rechte
wird halt nicht geglaubt, wo es nicht zum Einsatz füreinander freimacht.

So einfach ist die Brücke zwischen beiden Möglichkeiten, diesen
Satz zu verstehen: Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Das Reich
Gottes ist mitten unter euch.
Was inwendig in mir ist, drängt
nach außen. Und was nach außen hin geschieht, ist die einzige
Möglichkeit, dass sich sichtbar zeigt, was ich innen empfinde und
weiß. Die Verinnerlichung des Glaubens führt unmittelbar zur
Verwirklichung des Glaubens.

Damit ist ein großes Thema der jüdisch-christlichen Religion
angesprochen. Die Sicht einer Welt, die Gott gut geschaffen hat und nach
all den Katastrophen, die in ihr geschehen, die weitaus meisten durch
Menschenschuld, gut werden lassen will. In einem Prozess, der lange schon
begonnen hat und uns zur Mitarbeit braucht. Das Reich Gottes kommt, weil
es inwendig in uns und mitten unter uns ist, weil
wir andere werden und anders handeln.

Nach der Entstehung der Welt, der kosmischen Evolution , der
Entwicklung der Elemente, der chemischen Evolution , und der
Entfaltung des Lebens, der biologischen Evolution , steht der
vierte Abschnitt der Evolution noch aus: die kulturelle Evolution .
Wir müssen lernen, miteinander zu leben, eine Kultur zu entfalten,
die über den Urzustand des Kampfes um das Leben ( struggle for
life
, Charles Darwin) und des Überlebens der Tüchtigsten
( survival of the fittest ) hinausführt. Eine Motivation
braucht das, Regeln, Gebote vielleicht, die Normen setzen. Eine ganze
Kultur der Werte muss sich entfalten, und das braucht viele, braucht
alle, die mittun.

In dieses Szenario ist das eingebunden, wovon die Bibel spricht: die
Zusage Gottes und die Hoffnung der Menschen, die Erwartung des Reiches
Gottes und die Mühe um Regeln des Zusammenlebens. Wir haben nur
in den letzten Jahrzehnten im Rausch der Selbständigkeit, mit dem
wir unsere Mündigkeit gefeiert haben, die tragenden Strukturen des
Lebens vergessen. Wir haben die Autonomie der einzelnen zelebriert und
gemeint, alle Schranken hinter uns lassen zu können.

Wir haben verbraucht, was uns tragen kann: Kultur, Moral, Ethik, Werte.
Und wir kommen in diesen Tagen manchmal ans Erschrecken und fragen verzweifelt,
woher wir die Kraft finden, etwas davon wieder zu restaurieren. Wir entdecken,
dass wir diesen Prozess nicht fortsetzen dürfen, dass wir umkehren
und uns neu orientieren müssen.

Dazu lädt dieser doppelte Satz ein. Die Wurzeln des Ethos neu finden.
In dem Prozess, in dem Gott die Welt verändert. Und dann mittun
an unserer Stelle. Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Das Reich
Gottes ist mitten unter euch.
Beides, innen und außen. Die
Welt gestaltet sich um, und das ist schon da, in uns und um uns, unter
uns.

[(3) Und wann kommt dieses Reich Gottes, am Ende, wenn es kommt?

22 Er sprach zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der
ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und
werdet ihn nicht sehen. 23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!
Oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach! 24 Denn
wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis
zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.

Das kennen wir, die Aufgeregtheit derer, die das Weltende erwarten.
Sie versuchen die Zeichen der Zeit zu deuten, meinen Schlimmes zu sehen
und machen manchmal Angst. Wir nehmen sie nicht ernst. Das ist uns alles
zu abenteuerlich, zu verschroben. Siehe, hier! Siehe, da! Das
nehmen wir ihnen nicht ab.

Zum Glück gibt Jesus uns recht darin. Obwohl wir gerade ihm solche
Weltuntergangserwartungen doch auch zugetraut hätten. Es gefällt
uns, wenn er hier zur Nüchternheit mahnt, nicht den falschen Propheten
hinterherzulaufen.

Er wird uns allerdings unbequem, wenn wir weiter drüber nachdenken. Siehe,
da! Siehe, hier!
Das ist doch unsere Art, mit den Phantasien
vom Glück, der Erwartung der besseren Welt umzugehen. Das noch
haben, jenes kaufen, Weihnachten steht vor der Tür. Die Zahl der
Prospekte, die ins Haus flattern, zeigt’s deutlich. Sie suggerieren,
das Heil sei im Konsum zu finden, die Unendlichkeit im Irdischen.

Ein guter Teil unseres Lebens ist auf dieser Erwartung aufgebaut. Unser
Lebensplan, unsere Arbeit, mit den allerbesten Absichten, unsere Freizeitgewohnheiten,
nahezu alles.

Dem erteilt Jesus eine Abfuhr. So ist’s nicht. Lauft dem nicht nach.
Das ist trügerisch. Das wahre Glück, das Reich Gottes, liegt
jenseits des Sichtbaren. Mein Reich ist nicht von dieser Welt.

Es ist so total anders, dass die stärksten Bilder nur ausreichen,
es auch nur annähernd zu beschreiben.]

(4) Aber/Und wie kommt’s dann zu uns?

24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des
Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.
25 Zuvor aber muss er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht.

Plötzlich, überraschend. Richtig beschreiben lässt sich
da nichts. Wo doch soviel Sehnsüchte und Erwartungen, enttäuschte
Hoffnungen und erlittene Enttäuschungen in diesem Hoffnungsziel
aufgehoben sind: Reich Gottes. Es kommt wie ein Blitz, plötzlich,
unvermittelt. Es leuchtet auf. Und – wenn das Bild vom Blitz stimmt:
dann ist es auch schon wieder unsichtbar. So ist das mit dem Reich Gottes.

Dass das Reich Gottes aufbricht, mitten im Alltäglichen, das haben
wir immer schon erlebt. All die Liebe und Barmherzigkeit, die uns begegnen.
Ein ermutigendes Wort, wo wir es nicht erwartet haben. Verlässliche
Freundschaft, die Krisen übersteht. Das Erstaunen, die Kraft zu
finden, über den eigenen Schatten zu springen, großzügig
zu sein, verzeihend, offen und freundlich. Der heilige Zorn, der in uns
aufsteigt, wenn wir sehen, dass in unserem reichen Land die sozialen
Probleme eher immer schlimmer werden. Reich Gottes, das aufblitzt, mitten
im Alltag. Die Zeit bleibt stehen, eine andere Wirklichkeit bricht in
sie ein.

Allerdings nicht ohne Leiden. Das gehört hinzu. Das Leiden. Die
Hoffnung auf Gottes Reich schließt das Leiden, die Angst nicht
aus. Denn das ist Gottes Weg. Nicht auf den Gipfeln entlang, nicht mit
den Arrivierten und Tüchtigen, den Leistungsträgern und Hochmögenden.
Sondern unten, wo die Schwachen leben, die Kleinen. All die, deren Leben
verkümmert, die getreten werden und schon abgestumpft sind. Mit
denen ist er.

Der Weg Gottes ist nicht der Königsweg der menschlichen Herrschaft
und Macht. Mein Reich ist nicht von dieser Welt . Sein
Herrschaftsprinzip heißt Sorge füreinander, Liebe, Erbarmen,
Solidarität, Hilfe für die Schwachen. Weil die Welt erst dann
gut und das Leben erst dann erfüllt ist, wenn alle am Leben teilhaben,
wenn alle haben, was sie brauchen, und keine und keiner leer ausgeht.

In den Spitzenzeiten unseres Lebens kommt uns eine Ahnung davon an:
Das Leben gelingt, wo wir teilen, wo wir uns füreinander einsetzen,
miteinander an dem Ziel arbeiten, dass die Welt schön und das Leben
menschlich wird.

Eine große Hoffnung, diese Hoffnung auf das Reich Gottes. Und
eine große Aufgabe, dafür tätig zu sein. Aber eben auch
die Zusage, im Gleichklang mit der Kraft Gottes zu leben und zu arbeiten,
die in dieser Welt am Werk ist. Eine Perspektive, in der wir leben können.
Mit dem großen Ziel vor Augen, in den kleinen Schritten unseres
Alltags.

Mit der Last unseres Lebens, all dem Verkorksten, das es auch gibt,
all den Verletzungen, die wir haben hinnehmen müssen und die wir
anderen zugefügt haben. Mit der Last der Geschichte, ihren Greueln,
die das Leben vergiften, auf Jahrzehnte hinaus.

Doch wir haben die Chance, das Leben neu zu sehen und in dieser Sphäre
zu leben: Das Reich Gottes bricht an. Das feiern wir ja auch, wenn wir
Abendmahl feiern. Wir bitten um Vergebung für die Schuld, die wir
alle auf uns geladen haben, kleine und große Schuld. Wir feiern
die Liebe Gottes, die diese Welt erlösen will. Und wir lassen uns
stärken für den Weg, den wir gehen, in der Spur, die er vorzeichnet,
in der Hoffnung auf sein Reich, inwendig in uns, mitten unter uns. Amen.

Pfarrer Dr. Werner Schwartz, Vorsteher
Evangelische Diakonissenanstalt, 67343 Speyer am Rhein
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