Markus 8, 31-38

Markus 8, 31-38

(Die Predigt selbst spielt nur indirekt
auf die bedrückende weltpolitische Situation an. Als Anknüpfung
bietet sich deshalb eine Begrüßung an. Sie könnte wie
folgt lauten:)

Liebe Gemeinde, die meisten von uns sorgen sich um den drohenden Krieg
im nahen Osten. Wir versetzen uns in die Menschen hinein, die sich vor
den Bomben fürchten, vor sinnlosem, ohnmächtigem Tod. Wir fragen
uns, wie die großen Herren es wagen können, hier im Namen des
Guten, ja im Namen Gottes zu handeln, auf beiden Seiten.

Umso wichtiger ist es, daß wir uns vor Gott auf die Wahrheit des
Lebens besinnen, auf den Sinn und die Sinnlosigkeit des menschlichen Leidens,
nicht nur im Irak, sondern auch bei uns. Gott ist gekommen, indem Christus
unsern Tod gestorben ist – das ist der Schlüssel. Was folgt
daraus für den Lebensweg? Laßt uns das vor Gott bedenken.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn
Jesus Christus.

Der Weg. Die Wahrheit. Das Leben. Deswegen sind wir hier. Wahres Leben.

Aber die Evangelien reden viel vom Leiden. Kein Mensch will
leiden. Lust will jeder Mensch! Glück, Wärme, Sonne, Geselligkeit,
Freunde und gutes Essen. Und Gesundheit, warmes Blut. Leiden will keiner.
Sterben will keiner. Und normalerweise will auch keiner das Leiden sehen:
das verzerrte Gesicht. Das Krebsgeschwür. Die Banalität des
Fleisches. Keiner will es riechen: den Geruch der Greise, den Geruch der
Bettlägrigen.

Kein Mensch will leiden. Not vernichtet die Freiheit: die Freiheit, sich
zu bewegen, die Freiheit der Zukunft, die Freiheit nachzudenken. Wer leidet,
dessen Horizont schrumpft zusammen: nur noch der Schmerz ist Gegenwart
und ein paar Minuten, ein paar Tage drumherum. Und wer weiß, daß
es endgültig ist, daß es keine Rückkehr gibt, der steht
am entsetzlichen Abgrund: das Ende.

Was ist Leiden? Leiden ist Schmerz, Fieber, Atemnot. Leiden ist Hunger
und Durst. Leiden ist die Sorge um die Kinder, die das eigene Leben sind,
die den Schutz der Eltern brauchen. Verlassensein ist Leiden. Die Langeweile
im Altersheim, Traurigkeit ohne Ausweg. Leiden ist Ohnmacht: junge Erinnerungen
haben, aber einen alten Körper. Die Gewißheit, in einem Krankenhauszimmer
zu sterben, gefesselt von Schläuchen und Infusionen. Wenn der Himmel
sich verfinstert und die Luft voller Bomben ist, weil die Götter
dieser Welt es so beschlossen haben. Angst. Die Gewißheit des Todes.
Gottverlassene Einsamkeit.

Und was ist mit dem Leben selbst? Es gibt doch Geborgenheit, Schönheit,
Jugend, Morgenröte! Aber wer geboren ist, muß schließlich
raus in die Einsamkeit. Wer geboren ist, muß in Schmerzen seine
Grenze finden. Sicher: in unserer Welt ist es der Mensch, der den Andern
hungern läßt, der den Andern aussaugt, der ihn erschießt
und vertreibt. Es ist der Mensch, der den anderen Menschen verläßt:
die alten Eltern, die Kinder aus erster Ehe. Aber es gibt auch ein Leiden,
das zur Geschöpflichkeit gehört. Es gab es (sozusagen) schon
im Paradies. Es gehört zum Leben. Es zeigt dir die Grenze des Ich.
Ohne diese Grenze gäbe es das Ich nicht: ohne daß ich Hunger
spüre, Kälte spüre, Schmerz spüre. Ohne daß
ich merke, daß ich nicht Du bin und Du nicht ich, und daß
mein Du mir immer auch entzogen ist. Und schließlich: die Angst,
in der ich die Zeit vorlaufe bis zum Tod, und in der mir die ganze Welt
zu eng wird und ich vor Gott gestellt bin. Dann ist der Mensch erwachsen.
Dann fragt er nach einer anderen Wahrheit des Lebens.

Ich lese nun aus dem Evangelium des Mk. im 8.Kap.

[Lesung Mk.8,31-38]

Verleugne dich selbst und nimm das Kreuz auf dich. Das klingt übel.
Das klingt depressiv. Zwing dich selbst dazu, zu leiden. Kämpfe gegen
dich selbst. Kämpfe deine Lebenslust nieder und suche das Leiden.
Verlasse die Wärme und geh in die Kälte. Suche den
Schmerz und den Tod. So klingt das. Wer es nicht besser wissen will, der
könnte meinen, daß der Neid der Unglücklichen auf die
Glücklichen daraus spricht, der Neid der Verbitterten, die nun geschickt
versuchen, den Glücklicheren das Leid wenigstens moralisch aufzuzwingen
oder ihnen in ihrem Glück und Stolz wenigstens ein schlechtes Gewissen
zu machen.

Aber es ist anders. Wer so redet, versteht nicht, was das Evangelium
meint. Er versteht nicht, wie nüchtern es vom Leiden des Menschen
redet – wahrhaftig, nicht miesmacherisch.

Zwei Lebenläufe: Der Eine kommt aus gutem, wohlhabendem Elternhaus.
Er wird zur Leistung angehalten, wird gefördert, die Eltern lassen
ihn studieren. Er rackert sich ab, steigt auf, überwindet die Konkurrenz,
kauft sich ein herrschaftliches Haus, baut einen Zaun darum, heiratet
die schönste Frau und ist auch stolz darauf. Der Andere, der in der
Grundschule noch neben ihm saß, versagt in der Schule. In Liebesbeziehungen
ist er kompliziert, weil sich die Eltern scheiden ließen. Er scheitert
im Beruf, weil ihm der Mut, die Leichtigkeit, der Charme fehlt. Er ist
linkisch und bitter. Kurz: der Eine hat das pralle Leben und ihm gehört
die Welt. Der Andere läuft seinem Leben verzweifelt hinterher. Ist
der Eine der, der sein Leben erhalten will und es verlieren wird?; und
der Andere ist der, der es verliert und es erhalten wird? Keineswegs.
Beide wollen ihr Leben erhalten, und beide werden es verlieren. Beide
wollen die Welt für sich gewinnen und beiden wird es das Leben oder
die Seele verderben.

Jesu Worte gehen tiefer. Es geht nicht darum, sich zum Leiden zu zwingen,
um dann dafür in einem anderen Leben belohnt zu werden. Der Extremfall
für dieses abartige Mißverständnis ist der muslimische
Selbstmordattentäter, der glaubt, für sein Opfer mit der sofortigen
Aufnahme ins Paradies belohnt zu werden, wo ihm drei dutzend schöne
Jungfrauen zudiensten sind. Sich zum Leiden zu zwingen, um dann dafür
in einem anderen Leben belohnt zu werden, das wäre ja die raffinierteste
Selbstsucht, die raffinierteste Selbsterhaltung der Seele: Ich gebe mein
Leben, oder leide wenigstens für Andere – aber eigentlich interessieren
mich diese Anderen garnicht und ich tue es nur, um mein Leben umso schöner
und umso herrlicher zu erhalten. Das ist die Perversion von Religion.

Es geht um etwas Anderes. Es geht weder um eine Belohnung durch Gott
noch um eine Strafe Gottes. Wer sein Leben, seine Seele erhalten will,
der wird sie verlieren: das ist nicht die Strafe Gottes für allzuviel
Glück. Sondern das ist einfach die Wahrheit des Lebens für
sich. Eine Wahrheit, die die Seele erwachsen macht, und die sie doch nicht
aushält. Und da sie sie nicht aushält, muß sie sie schließlich
in sprachlosem Entsetzen erleiden. Hier aber spricht der Mensch am Kreuz.
Hier ist der Tod nicht sprachlos, sondern er gehört zum Wort Gottes.

Das Ich will sein Leben erhalten und die Welt gewinnen. Das
Ich, das für sich lebt. Das sich selbst das Nächste ist und
auch garnicht anders kann. Das Ich, das die Dinge für sich begehrt.
Das Ich, das sich selber sein Gesetz ist. Das Ich, das selber leben, selber
frei sein, selber den besten Platz haben will. Dessen Gesetz es ist, sich
durchzukämpfen, sich zu entfalten, die Welt zu erobern. Das in seinem
Haus sitzt wie die Spinne im Netz. Das Ich, das sich zufrieden spiegelt
in den schönen Dingen, die es hat. Oder das sich sorgt um seine Dinge,
um seine Stelle in der Welt, bis hin zur Verzweiflung. Das Allerweltsich,
das von Gott nichts weiß. Das Ich, das sich in jeder Stunde belügen
muß, um den Schatten über allem, den Abgrund, das nahe Leiden
nicht zu sehen. – Dieses Ich muß sterben. Es wird
sein Leben verlieren – das ist so und unausweichlich. Seine Wahrheit
ist sein einsamer Tod, der alle Dinge, alle Ehre, allen Besitz, dessen
König es war, mit sich reißt. Es kann sich die Unsterblichkeit
nicht kaufen, und Liebe auch nicht.

Aber „wer sein Leben verliert um meinetwillen“, so geht das
Wort weiter, „der wird’s erhalten“. Nicht das Leben
des Menschen für sich nocheinmal. Dessen Kreuz ist Bedingung: daß
er der Todeseinsamkeit seines Lebens für sich auf den Grund geschaut
hat. Daß er sich im Kreuz Christi wiedererkannt hat: in der Gottverlassenheit,
die die ganze Welt umfaßt: „mein Gott, mein Gott“, eli,
eli lama asabtani. Nicht das alte Leben nocheinmal, sondern das neue Leben.
Die Taufe meint genau das: der alte Mensch taucht unter, stirbt,
und ein neuer Mensch steht auf: Ein Mensch, der befreit davon ist, im
Ich-Kasten, in dem er denkt und fühlt, immer mit sich allein zu sein.
Ein neu geborener Mensch, den der Geist Gottes beseelt, der gewiß
ist, daß Gott ihn in Ewigkeit nicht mehr allein läßt.
Er hat sein Leben verloren um Christi Willen: er hat sich selbst im Kreuz
Christi gesehen und die Liebe Gottes hat ihn aus der Todeseinsamkeit herausgerissen.

Es ist nicht mehr das Ich mit sich allein, das lebt. Die Gemeinschaft
des ewigen Gottes mit dem Menschen, die lebt in ihm. Der Sinn von Himmel
und Erde, der ewige Sinn, das ewige Ziel lebt in ihm. Dieser Sinn selbst
führt dann den Weg. Dem Weg Christi nachfolgen und die Kraft und
den Atem einsetzen. Ins Krankenhaus gehen und den Geruch des Todes aushalten.
Sich Hineinversetzen. Aber nicht aus moralischer Verpflichtung, sondern
frei, aus Liebe. Sie allein überwindet das Grauen und verwandelt
das verzerrte Gesicht. Sie geht durch das Leiden hindurch in die Fülle.

Wer sein Leben für sich verliert, der wird’s erhalten: das
gilt dann auch für jeden Tag: die eigene Zeit opfern und die beiden
Alten pflegen. Oder Windeln wechseln und das Geld für Kinderkleidung
ausgeben statt auf die Malediven zu fliegen. In den Abgrund eines Verzweifelten
mit hinabsteigen. Den Sterbenden nicht alleine lassen. Aber wer so das
Kreuz auf sich nimmt, wer dem Schmerz, dem Tod ins Auge schaut, der hat
das Kreuz doch eigentlich schon hinter sich, das ist seine Freiheit. Er
weiß, daß Gott hier zum Menschen gekommen ist. Er
weiß, daß Gott den Menschen hier nicht alleine läßt,
daß er uns hier in sein Leben holt. Sicher auch im Lachen, im Feiern,
in der Wärme der Kinder, im Frieden unserer Gärten. Aber zuerst
doch, wenn das Ich in allem Schwarz mit sich allein scheint. Hier ist
Gott zum Menschen gekommen, und immer wieder will er hier kommen. Deswegen
sind wir frei.

Wer das Leben, gefangen in sich selbst, verliert, weil Gott zu ihm gekommen
ist, der gewinnt Teil am göttlichen Leben. Er lebt aus der Liebe
Gottes, die alle Kreatur umfaßt, und auch ihn zum Nächsten
schickt. Dieses Leben ist in der Zeit schon ewig geborgen, auch wenn der
Tod und die Angst uns immer wieder befangen machen. Ich sage es mit Martin
Luther: „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in
Christus und in seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im
Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über
sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe,
und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe.“ Amen.

Priv.-Doz. Dr. Tom Kleffmann, Göttingen
tkleffm@gwdg.de

 

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