Lukas 17,20+21

Lukas 17,20+21

Mitten unter uns | 21. So. n. Trinitatis | 6.11.2022 | Lk 17,20+21 | Rudolf Rengstorf |

Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch. (Lukas 17,20+21).

Liebe Leserin, lieber Leser!

Wann kommt das Reich Gottes? So haben die Frommen Jesus damals gefragt, und so fragen
sie bis heute. Die Männer und Frauen ebenso wie die Jungen und die Alten, die gelernt haben, sich an Gott zu halten, nach seinem Willen zu fragen und auch, ja, für ihn einzustehen. Für Gott einzustehen, sich an seinem Willen zu orientieren, das war auch zu Jesu Zeiten alles andere als selbstverständlich. Schon damals wurden die Frommen von vielen mitleidig belächelt als Leute von gestern.
Früher – so hieß es – da ging nichts ohne Gott. Da stand man mit ihm auf und ging mit ihm zu Bett. Alles brachte man mit ihn in Verbindung, und alles nahm man ohne Murren demütig aus seiner Hand. Doch inzwischen haben wir gelernt, wer die Welt in Wahrheit regiert. Wer die Macht hat, die stärkeren Bataillone – der hat das Sagen. Was hat – so fragte man in Israel – unseren Vorfahren denn ihr Glaube geholfen? Sie mussten ohnmächtig mit ansehen, wie die Assyrer ins Land gefallen sind und ihre Götter mitgebracht haben. Dann kamen die Babylonier und zerstörten sogar unseren Tempel, dann die Perser. Den Tempel durften wir wiederaufbauen, aber politisch mussten wir das Maul halten. Und dabei ist es geblieben unter den Griechen und nun gar unter den Römern, die ihren Kaiser wie einen Gott verehren. Und haben sie nicht Recht? Sein Reich umfasst so gut wie die ganze Welt, und überall haben die Menschen sich an die Gesetze zu halten, die er erlässt. Selbst ihrem Geld drückt er seinen Stempel auf und nimmt den Leuten davon ab, so viel er will.
Und dann kommt Ihr und wollt uns was von Gott erzählen. Wo wäre denn etwas zu spüren davon, dass der Schöpfer Himmels und der Erden, wenn es ihn denn gibt, sich um das auch kümmert, was hier auf Erden gespielt wird? Da herrschen Macht und Geld. Und jeder muss zusehen, wie er zu seinem bisschen Leben kommt. Und wer höhere Ansprüche hat, der tut sich mit Gleichgesinnten zusammen und pflegt mit ihnen in gebildeten Zirkeln, was dem seelischen Wohlbefinden und der geistigen Erhebung dient.
Was wollt Ihr da noch mit Eurem Glauben an einen Gott, von dem man ja doch nichts
mitkriegt. Höchstens, dass die Ängste der Kindheit mobilisiert werden vor einem drohenden Übervater, der alles sieht, vor dem du ständig Angst haben musst und mit dem du dir ein schlechtes Gewissen einhandelst. Bleibt uns damit vom Leibe, und kommt mit eurem Gott
erst, wenn ihr beweisen könnt, dass für den Menschen dabei auch was Anständiges herauskommt.

So oder so ähnlich haben Sie das sicher auch schon gehört und zu spüren bekommen, wie das ist, als jemand angesehen zu werden, der von gestern ist. Weit hinter dem zurückgeblieben, was die aufgeklärten Zeitgenossen bewegt. Nur, so geistreich und modern, wie die Kritiker des Glaubens sich gerne sehen, sind sie nicht. So wie sie haben die Menschen eben auch schon zu Zeiten Jesu und auch schon lange davor geredet. Heute wird das noch etwas drapiert mit Sprüchen aus der Naturwissenschaft, in der die wenigsten sich wirklich auskennen. Und die, die sich wirklich auskennen, sind mit ihrer Religionskritik eher behutsam.

Der eigentliche Anstoß ist gar nicht die Wissenschaft. Der eigentliche Anstoß ist genau wie schon zur Zeitenwende und davor, dass Gott seine Macht nicht zeigt, dass nicht er das Sagen hat, sondern die Menschen, die damit ganz offenkundig überfordert sind. Wenn sie schreiendes Unrecht nicht verhindern, sondern sogar dazu beitragen. Ein Teil der Menschheit lebt im Überfluss, und der andere versinkt in Hunger, Krankheit und Armut. Wehrlose Menschen fallen dem Teufelskreis von Terror und Vergeltung zum Opfer, oder sie werden in Konzentrationslagern und Folterkellern fertiggemacht. Nicht der Zweifel an Gott ist da das Bewundernswerte, sondern die Tatsache, dass da immer noch Menschen sind, die sich an ihn halten.

Desto verständlicher, dass die wissen wollen: Wann kommt das Reich Gottes? Wann übernimmt er die Herrschaft in der Welt? Und dann die verblüffende Antwort Jesu: Darauf braucht ihr nicht zu warten. Das kündigt sich auch nicht an darin, dass die Menschen vielleicht einsichtig und immer besser werden. Nein, das Reich Gottes ist schon da. Es ist mitten unter euch. – Lange hat man gerätselt, was damit wohl gemeint sein kann: Ob das Reich Gottes vielleicht in uns ist, in unseren inneren Werten, unserem guten Willen, gar einem göttlichen Seelenfunken. Haut natürlich nicht hin, weil das ja nur ein Seelengott wäre und nicht der, der uns mit Seele und Leib unter dem Himmel auf der Erde geschaffen hat. Mitten unter euch – das war Er, der das Reich Gottes mit seinen Worten und Taten verkörperte. Die einprägsamen Geschichten, die er erzählte, standen alle unter dem Vorzeichen des Reiches Gottes, mit dem er sie verglich. Deshalb nennen wir sie Gleichnisse. Und gelebt und gewirkt hat er, als sei er in diesen Gleichnissen zu Hause.

Das alles ist nicht in der Vergangenheit verschwunden. Es setzt sich fort und lebt verstärkt bis heute. Ich denke an die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Jenen Mann, der einen unter die Räuber Gefallenen und halbtot Geschlagenen rettete und ihn rührend versorgte. Ihn kümmerte nicht, dass der arme Kerl zum Volk der Juden gehörte, das die Bewohner Samariens verachtete und als unrein betrachtete. Er sah den Menschen, der Hilfe brauchte. Der wurde ihm damit zum Nächsten. Ohne zu zögern, intervenierte er.

Und heute? Da heißt es weithin, jeder denke nur an sich selbst und vielleicht noch an seinen Clan, und Gott habe ohnehin nichts mehr zu sagen. Und doch sind sie unterwegs, die Samariter, auf ihren Rettungswagen überall in unserm Land. Wo sie mit Blaulicht und Martisnhorn zu sehen und zu hören sind, haben sie Vorfahrt auch bei roten Ampeln. In rasender Fahrt geht es zu Menschen, die Unfällen, Krankheitsattacken oder auch Gewalttaten zum Opfer zu fallen drohen. Und wenn sie ankommen, fragen sie nicht nach Herkunft und Papieren. Sie retten, bergen und helfen. Und wenn in der Ukraine ein ganzes Volk unter die Räuber und Totschläger gerät, sind sie auch da, die Samariter. Unter den anderen Völkern des Kontinents mobilisieren sie Schutz- und Wiederaufbaumaßnahmen. Und dabei spielt es keine Rolle, wie nah oder fern einem die Ukraine und die in ihr praktizierte Orthodoxie ist. Da und in vielen anderen Notlagen in der Welt setzt sich fort und bleibt lebendig, was Jesus verkörperte: Reich Gottes mitten unter uns.

Oder ich denke an die Geschichte von dem Weinbergbesitzer, der Arbeiter für seine Ernte suchte. Bis kurz vor Feierabend stellte er noch Leute ein, die keine Arbeit gefunden hatten. Und als es an die Bezahlung ging, bekamen alle den gleichen Tageslohn, unabhängig davon, wann sie mit der Arbeit angefangen hatten. Denn hier ging es nicht nach der Devise: Jeder bekommt, was er verdient und leistet. Nein, hier bekommt jeder das, was er zum Überleben braucht.

Und heute? Angeblich leben wir in einer Leistungsgesellschaft oder auch in einer Ellenbogengesellschaft. Doch alle Steuerzahler tragen dazu bei, dass Menschen bekommen, was sie zum Überleben brauchen. Wer körperlich, geistig oder psychisch behindert ist und sich nur wenig oder gar nicht an der Erwerbsarbeit beteiligen kann, hat ein Recht darauf, nach Kräften gefördert und in die Gesellschaft der Leistungsstärkeren inkludiert, eingeschlossen zu werden. Und die Menschen, die die Behinertenhilfe zu ihrem Beruf gemacht haben, sind an Geduld und kreativer Aufmerksamkeit kaum zu übertreffen. Hier setzt sich fort und bleibt lebendig, was Jesus verkörpert hat: Reich Gottes mitten unter uns.

Und wo bleibt Gott selbst dabei? Ja, es ist still um ihn geworden. Und auch da, wo Menschen sich in anderen Teilen der Welt laut und kämpferisch auf ihn berufen, wird er nicht glaubwürdiger. Weil er dazu herhalten muss, menschliche Machtstrukturen zu festigen. Doch der stille Gott sorgt dafür, dass die Sehnsucht nach seinem Reich nicht zur Ruhe kommt und dass Hunger und Durst nach Gerechtigkeit nicht aufhören. Ihm ist es zu verdanken, dass wir ein so lebendiges Bild von Jesus in unseren Herzen haben. Und er sorgt dafür, dass wir immer von neuem aus der Ruhe gebracht werden von denen, die gegen den Strom schwimmen und den Herrschenden das Feld nicht überlassen. Da wird etwas sichtbar von einem Reich, einer Herrschaft, die über diese Welt hinausgeht. Amen.


Rudolf Rengstorf war Gemeindepastor, Rundfunkbeauftragter und Superintendent in Stade.

Seit seiner Pensionierung lebt er in Hildesheim

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