Jesaja 49,8-11

Jesaja 49,8-11

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres | 06.11.22 | Jes 49,8-11; Offenbarung des Johannes; 21,1-7; Mt 5,13-16 (dänische Perikopenordnung) | Christiane Gammeltoft-Hansen |

In Dänemark wird der erste Sonntag im November als „Alleheiliogen“ zum Gedneken der Toten begangen.

Von Christiane Gammeltoft-Hansen

Seid das Salz der Erde und das Licht der Welt! Das ist keine Aufforderung! Das ist eine Feststellung! Wie aber Salz sein, wenn man alles Salz ausgeweint hat? Wie Licht sein, wenn man in finsteren verlassenen Stuben sitzt?

Stellt euch auf einen Berg und sprecht erlösende Worte an die Welt, so heißt es. Wie aber reden, wenn das Schweigen der Trauer sich eingefunden hat.

Es ist nicht deshalb, weil wir das Salz und das Licht nicht kennen. Wir haben das Licht gesehen, das in Schimmern die Welt erhellt und unser Leben verklärt. Wir haben Tage erlebt, die waren alles andere als fade und gleichgültig. Tage voll von Saft und Kraft. Deshalb feiern wir Allerheiligen, weil wir dem Salz und dem Licht begegnet sind in dem, was wir verloren haben.

Am besten ist es, wenn wir Licht bekommen aus den Augen eines anderen Menschen, wenn wir im Lichte dessen leben, dass ein anderer Mensch darüber froh ist, dass wir da sind. Das Beste ist es, im Lichte des liebenden Blickes einer Mutter, einer Schwester, eines Bruders, eines Freundes, eines Geliebten zu leben. Wenn man erlebt, dass man dadurch größer wird, dass andere uns sehen.

Es waren keine Heiligen – unsere Toten. Sie waren vielleicht nicht einmal große Lichter. Aber sie gaben unserem Leben Inhalt. Wir gedenken ihrer. Wir gedenken der Milden, der Kräftigen, der Standhaften, der Suchenden, der Kämpfenden. Die, an die wir nicht denken können, ohne dass sie lebendig vor unserem inneren Blick erscheinen – die Art, wir die sich durchs Haar strichen, die Tasse hielten, sich auf den gewählten Stuhl an den Tisch setzten, der Klang ihrer Stimme, ihre sehnigen Hände, ihr charakteristischer Gang.

Sie waren Salz und Licht. Sie bewirkten, dass unser Leben nicht gleichgültig und leer wurde.

Es konnte geschehen, dass wir uns zurückziehen mussten, aber das geschah nicht deshalb, weil sie uns gleichgültig waren. Vor dem Rückzug lag deshalb oft ein Kampf. Wir kämpften um Meinungen, Lebensanschauungen und die Auffassung vom Menschen. Leidenschaftlich verhielten wir uns zu dem, was der andere sagte oder nicht sagte, tat oder nicht tat. Und wir kämpften nicht nur mit einander, wir kämpften auch für einander. Kämpften dafür, das Leiden und den Schmerz zu besiegen in einem hartnäckigen Versuch, den harten Bedingungen zu entgehen, denen wir zuweilen in unserem Leben ausgesetzt waren.

Wir gewannen nicht alle Kämpfe. Und schließlich nahm der Tod das seine. Aber das einzige, was über den Kampf zu sagen ist, ist nicht, wie er ausgegangen ist. Es wurde gekämpft, das hat einen Wert in sich –

gekämpft für den anderen, gekämpft für einen selbst, gekämpft für Menschenwürde, gekämpft für Zusammengehörigkeit.

Überall vermissen wir unsere Toten. Wir vermissen sie in unseren Stuben, an unseren Tischen, im Alltag und an Feiertagen. Wir vermissen sie, wenn wir aufstehen und wenn wir zu Bett gehen. Wir vermissen die Identität, die sie uns gaben. Dass wir in Bezug auf sie Kinder waren, Geschwister, Freunde, Eltern, Geliebte.

Sie hinterlassen eine Leere. Das ist eine Wahrheit, die wir mit uns tragen. Zugleich aber wenn wir zu dem langen rückschauenden Blick das Licht betrachten, das sie gewesen sind, kommt auch etwas anderes in den Blick.

Unsere Toten haben uns etwas gelehrt. Sie haben uns z.B. gelehrt, dass es notwendig ist sich zu erkennen zu geben, zu versuchen, die Dinge so offen und klar zu sagen wie möglich. Und sie lehrten uns, dass wir kein Recht haben auf das Leben des anderen. Dass wir nicht selbstsicher voneinander reden und über einander urteilen können, denn die Menschen sind kompliziert und niemals vollständig zu beschreiben. Vielleicht haben sie uns das nicht direkt gelehrt, aber es ist die Erfahrung, die ein gelebtes Leben hinterlässt.

Unsere Toten haben uns auch etwas gelehrt über Liebe. Das die Liebe in vielen Gestalten und Ausdrücken und in vielen Weisen kommen kann. Schließlich haben sie uns gelehrt, dass es möglich ist, dem anderen zu folgen, bis zum Schluss, an einem Bett zu sitzen und eine Hand zu halten. Und dass auch hier, so kurz vor dem Ende, Leben sein kann, Versöhnung und Nähe.

Es ist wahr, dass sie eine Leere hinterlassen. Aber das ist nicht allein die Wahrheit. Sie hinterlassen auch eine Fülle. Sie hinterlassen eine Aussicht, die wir weiter mit uns tragen. Deshalb können wir davon sprechen, dass wir unter Lebenden und Toten Freunde und Geliebte haben. Und mehr stumm sind wir auch nicht geworden, als dass wir ihre Namen nicht laut aussprechen können. Und allein indem wir das tun, machen wir deutlich, dass wir nicht nur die sind, die verloren haben, wir sind auch die, die jemanden gehabt haben. So sind ihre Namen die Bergpredigt unserer Allerheiligen.

Da ist etwas, was man nicht wegweinen kann. Der Hinterbliebene weiß, dass die Trauer nicht weggeweint werden kann. Aber Gott fügt hinzu, das können das Salz und das Licht auch nicht. Das ist ein Teil unserer gottgegebenen Ausrüstung. Ob du einen Verlust erlitten hast oder nicht. Deine gottgegebene Identität kannst du nicht verlieren.

Trauer kann sich in sich selbst verschließen. Der Tod kann uns dazu bringen, dass wir uns in unsere finsteren Stuben zurückziehen. Aber wir werden noch immer gebraucht. Deshalb werden wir herausgerufen. Nun sind wir es, die das Unsere dazu beitragen müssen, dass es nicht zu gleichgültigen Tagen kommt, sondern das das Leben gelebt wird. Wir müssen da weitermachen, wo unsere Toten aufgehört haben. Weiter in ihren Spuren gehen und unsere eigenen finden. Es mit erlösenden Worten versuchen, die auf die Liebe bauen.

Dabei werden wir entdecken, dass da neue Tage kommen. Dass da mehr ist, was gelebt werden soll. Johannes spricht sogar davon, dass es zu verwandelten Tagen kommen wird. Ein neuer Himmel und eine neue Erde, das ist die große Zukunftsvision der Offenbarung des Johannes. Der Tod soll nicht mehr sein, auch nicht Trauer und Schmerz. Das ist es, was uns infolge Johannes erwartet. Eine Zukunft, die Gott gehört.

Bis dahin leben wir hier. Wir leben nach denen, die wir verloren haben, und vor denen, die kommen werden. Und aus der Kälte und Finsternis vom November werden wir herausgerufen.

Fragen wir den Wächter danach, wann die Nacht vergeht, antwortet er: Der Morgen kommt. Er ist schon im Anbruch. Das Licht wir zunehmen, wenn der Tag beginnt.

Die Toten sind angekommen bei Gott. Und wir leben im Reich des Geistes. Amen.


Pastorin Christiane Gammeltoft-Hansen DK-2000 Frederiksberg
E-mail: cgh(at)km.dk

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