Lukas 18, 1-8

Lukas 18, 1-8

Achterbahnfahrt | Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres | 13.11.2022 | Lk 18,1-8| Wolfgang Vögele |

Segensgruß

Der Predigttext für den vorletzten Sonntag des Kirchenjahres steht Lk 18,1-8:

„[Jesus] sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage. Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?“

Liebe Schwestern und Brüder,

setzen Sie sich bequem, schnallen Sie sich an! Sofort starten wir zu einer Achterbahnfahrt durch die Bergmassive von Glauben und Wirklichkeit. Der Zug beschleunigt sekundenschnell, weit hinaus über die christliche Bubble. Als Tourguide steht diese bescheiden-hartnäckige Witwe aus dem Gleichnis bereit, und sie wird uns über Loopings, Steilkurven und halsbrecherische Abfahrten bis an den Rand des Reiches Gottes bringen – und wieder zurück.

Während der Achterbahnzug an Fahrt aufnimmt, bittet die arme Witwe die Passagiere als erstes, die Brillen abzunehmen, wenn sie nicht schon vom Fahrtwind weggeschleudert wurden. Solche Brillen tragen ausnahmslos alle Passagiere, weil sie helfen, die unübersichtliche Lebenswelt von Beruf, Familie, Politik, von Sorgen und Hoffnungen so zu vereinfachen, daß wir überhaupt denken und handeln können. Diese Schwarz-Weiß-Brillen nehmen die Farben, Nuancen, Abstufungen und Details aus dem Bild der Wirklichkeit heraus. Schwarz-Weiß-Brillen lassen Wünsche hell und Befürchtungen dunkel erscheinen. So werden kleine Unterschiede mit großem Kontrast aufgeladen. Um so leichter haben es Brillenträger, die Lebenswelt um sie herum einzuschätzen, zu beurteilen und das eigene Denken und Handeln entsprechend einzurichten. Die Augenärzte des Lebens verschweigen in der Regel, daß solche Brillen die Welt oft allzusehr vereinfachen: Nuancen und Übergänge gehen verloren.

Handeln und Denken lassen sich viel einfacher in Gang setzen, wenn die Verhältnisse schön einfach vor uns liegen. Schwarz-Weiß-Brillen helfen dabei. Sie eignen sich gut, um schnell und ohne großes Nachdenken zu einem plausiblen Urteil zu kommen und daraus die nötigen Konsequenzen des Handelns oder Wählens zu ziehen. Deswegen sind sie vielen Menschen so zur lieben Gewohnheit geworden. Wenn sie die Brillen einmal abnehmen, merken sie erschrocken, daß sie geblendet und überfordert sind.

In der letzten Zeit mehren sich beunruhigende Berichte: Kunden beklagen sich beim Optiker ihres Vertrauens, die Brille würde nicht mehr richtig funktionieren. Denn die Welt um diese Menschen herum ist so kompliziert geworden, daß der in die Gläser eingeschliffene Vereinfachungsmechanismus versagt: Corona-Pandemie, Flüchtlingskrise, Krieg in der Ukraine, Inflation, Klimaerwärmung, der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien. All das zusammen überfordert. Es läßt sich nicht mehr zu einem Bild zusammenfügen, das die Brillen in schwarze und weiße Zonen aufteilen können. Wer dann noch die Brille abnimmt, der ist schier geblendet von den vielen Kontrasten, Konflikten und Problemen unserer Gegenwart.

Die arme Witwe, die geistliche Reiseführerin unserer Achterbahnfahrt, hat den Zug so beschleunigen lassen, daß alle Passagiere die Brillen in die Handtaschen und Rucksäcke gepackt haben. Nun wundern sie sich über das farbliche Chaos. Die Witwe selbst hat die Schwarz-Weiß-Brille schon lange abgesetzt und sie durch ein hoch wirksames psychologisches Aufputschmittel ersetzt: Hartnäckigkeit und Unerschrockenheit in sehr hoher Dosis. Im exegetischen Beipackzettel kann man kleingedruckt lesen: Witwen zur Zeit des antiken Israel stand das Wort Schutzlosigkeit auf die Stirn geschrieben. Eine Frau, deren Mann gestorben war, verlor ihre Familie, ihr soziales Netz und jegliche Form alltäglicher Absicherung. Nicht einmal rechtlich war sie angemessen geschützt. Manche Klauseln der Thora boten zwar ein wenig soziale Sicherheit. Aber häufig war niemand da, um diesen rechtlichen Schutz auch in Wirklichkeit durchzusetzen. Die arme Witwe muß das gewußt haben, als sie sich an den ungerechten Richter wandte. Aber – nun wirkt die hohe Dosis an Hartnäckigkeit – die Unwilligkeit des Richters ließ die arme Witwe nicht resignieren. Sie verlor nicht den Mut und wiederholte und wiederholte ihre Bitten und Forderungen. Der Richter sollte ihr gegen diejenigen helfen, die in der Geschichte nur anonym die „Widersacher“ heißen. Und er fing an zu befürchten, die arme Witwe würde am Ende physische Gewalt anwenden. Doch die Hartnäckigkeit der armen Witwe gab am Ende den Ausschlag. Der Richter verhalf der Frau zu ihrem Recht, obwohl er sie für eine Querulantin hielt.

Und der Achterbahnzug dieser Predigt beschleunigt noch stärker. Er stürzt in die Tiefen und Abgründe der Zweideutigkeit.

Die arme Witwe gab sich nicht mit ihrem Schicksal zufrieden. Sie wußte, daß sie eigentlich keine Chance hatte bei Gericht. Aber sie gab nicht auf. Sie war mutig, konsequent und unbeirrbar hartnäckig. Und damit hatte sie Erfolg. Sie war eine Querulantin, die recht hatte. Aber Querulanten und Querulantinnen sind zutiefst zweideutige Figuren. Sie können Recht haben mit ihrer Hartnäckigkeit. Sie können aber auch zutiefst lästig sein. Es lohnt sich, sich mit aller Kraft für eine gerechte Sache einzusetzen. Wenn das aber nicht gegeben ist, kämpfen Querulanten oft einen kräftezehrenden, vergeblichen Kampf, der nur um so tiefer in die Resignation führt, von der sie sich eigentlich nicht bestimmen lassen wollten. Man denke an die so genannten „Querdenker“. Früher, vor der Corona-Epidemie war das ein positiv besetzter Begriff. Wer quer zu den eingefahrenen Bahnen der Konvention dachte, der brachte Alltag und Politik über das eingerostete Schwarz-Weiß-Denken hinaus. Gegenwärtig jedoch steht „Querdenken“ für das beharrliche Anzweifeln jeglichen medizinischen und epidemiologischen Wissens über die Corona-Epidemie, für die Verbreitung obskurer alternativer Fakten, die auf trüben Quellen in Youtube-Videos und Facebook-Einträgen beruhen, die in der Regel längst wieder gelöscht sind. Wahrheit ist im politischen Leben, aber auch im Alltag nicht mehr eindeutig. Gesellschaften sind tolerant geworden gegenüber individuellen Abweichungen, aber mit hartnäckig vertretenen Abweichungen fassen auch das Schrille, das Abwegige, das Obskure und der Nonsens wieder Fuß. Mit der Hartnäckigkeit der armen Witwe verbindet sich die Hartnäckigkeit der ewigen Streithansel, nerviger Rechthaber und der stiernackigen Dauerquassler, die stets Vorfahrt für sich in Anspruch nehmen. Das eine ist vom anderen nicht immer so genau zu unterscheiden.

Manche Ausleger des Gleichnisses haben versucht, die Witwe so zu retten, daß sie sagten: Die Hartnäckigkeit der armen Witwe triumphiert, aber das gilt nur, wenn es um die gerechte Sache der Armen und Rechtlosen geht. Die Benachteiligten haben immer recht. Aber leider bleibt auch dieses Kriterium zweifelhaft.

Und jetzt sehen die Passagiere der Achterbahn, wie der Looping des Glaubens sich blitzschnell nähert. Denn von Gott und seiner Gerechtigkeit, auf die das Gleichnis zielt, habe ich noch gar nicht gesprochen. Und die Geschichte bringt auch das Schwarz-Weiß-Denken des Glaubens ins Schwanken. Wer das Gleichnis ernst nimmt, sieht den Glauben ins Chaos springen.

Im Hintergrund der Geschichte steht ein Bild von Gott, das ebenfalls von Schwarz-Weiß-Denken bestimmt ist. Gott ist unnahbar, aber auch gerecht. Dieses Prinzip der Gerechtigkeit – jeder soll nach seinem Verhalten beurteilt werden, spätestens beim jüngsten Gericht – läßt sich auf keinen Fall außer Kraft setzen. Dem einfachen Weltbild der Schwarz-Weiß-Denker entspricht ein einfaches Gottesbild. Aber mit dem Gleichnis von der armen Witwe bricht das alles zusammen, wie ein Gerüst, dessen Querstützen nicht richtig verschraubt wurden.

Die Geschichte streift in rasender Fahrt nicht nur den Alltag, sondern sie ist auch ein Gleichnis des Glaubens. Denn sie kann auch auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch angewandt werden. Der Weisheitslehrer aus Nazareth schließt sich an das Gleichnis der Witwe an und sagt: Auch bei Gott gilt, daß Hartnäckigkeit siegt. Vorne steht nicht das Gerüst der Gerechtigkeit, das Gott um sich herum gebaut hat. Vorne steht das persönliche Gebet. Wer hartnäckig und nachhaltig betet, dessen Bitten wird er erhören. Besonders in der katholischen Kirche hat diese Aufforderung dazu geführt, daß sich in bestimmten Klöstern und Kirchen Gruppen von Glaubenden im kontinuierlichen Gebet ablösen. Sie sprachen vom laus perennis, dem immerwährenden Lob des Schöpfers. So ist es zum Beispiel auf dem Odilienberg, dem wichtigsten Kloster des Elsaß südlich von Straßburg, üblich, daß jede Woche eine andere Gruppe aus einer elsässischen Gemeinde in der Kirche verbringt, um dort zu beten, für die Christen, für die Gemeinden, für die Menschen, die nicht mehr beten.

Jesus erzählt das Gleichnis von der armen Witwe, weil er die Christinnen und Christen zum kontinuierlichen Gebet bewegen will. Die Achterbahnfahrt der armen Witwe endet im christlichen Glauben. Jesus wirbt für einen Gott, der Gebete erhört – wenn die Beter nur lange genug bitten. Aber Urlauber bitten um schönes Wetter, Bauern bitten um Regen für vertrocknete Weizenfelder. Diese bäuerlichen und touristischen Bitten, die sich widersprechen, zeigen schlicht an, daß es nicht so einfach ist. Gott erfüllt nicht einfach jeden Gebetswunsch. Auch hier gilt, daß die Vereinfachungen der Schwarz-Weiß-Brillen, auch solcher des Glaubens, nicht weiterhelfen.

Was aber dann? Verliert sich die Achterbahnfahrt des Lebens in Ungewißheiten, bösen Zufällen und Unberechenbarkeiten? Liebe Schwestern und Brüder, ich bin überzeugt, die Schärfe dieser Frage müssen wir alle aushalten. Die Ausflüchte zu einem netten, lieben Gott, der verzweifelten Menschen bei Seite steht, helfen nicht weiter. Billiger Trost ist mit diesem Gleichnis nicht zu gewinnen.

Der Trost dieser Geschichte liegt in etwas anderem. Er liegt zuerst in der Erkenntnis, daß das Leben, das alltägliche wie das ungewöhnliche, wie eine Achterbahnfahrt zu verstehen ist. Lassen Sie sich nicht von denen täuschen, die uns weismachen wollen, es ginge um die bequeme Fahrt in einem Bummelzug. Die Deutsche Bahn hat einmal Werbung gemacht mit dem Satz: Wir wollen, daß Sie erholt ankommen. Im Glauben ist etwas anderes gemeint. Der Trost des Glaubens liegt darin, daß der christliche Glaube die tiefe Zweideutigkeit, die Komplexität der Welt, ihre Abgründe und Widersprüche aushalten kann. Damit beginnt der Trost, aber er gewinnt noch größere Tiefe.

Der zweite Trost besteht in der immer wieder zu erneuernden Gewißheit, daß dieser Gott Gebete erhört, auch wenn die Bitten manchmal ungewöhnlich, manchmal stammelnd, manchmal geradezu sprachlos formuliert sind. Zur Debatte steht nicht das Rechthaben, nicht das Einordnen, nicht das korrekte System des Glaubens. An ihre Stelle setzt die arme Witwe aus der Geschichte das hartnäckige Gebet. Dieser im Gebet angesprochene Gott hat sich in Jesus Christus und in seinem Kreuz mit den leidenden schwachen Menschen gemein gemacht. Dieser Gott wischt Tränen ab, er erhört Gebete, er spendet Gewißheit und Zuversicht. Manchmal, in Zeiten der Verzweiflung, mag uns das zu klein, zu dürftig, zu harmlos vorkommen. Aber Gott steht zu seinen Verheißungen, genauso hartnäckig wie die arme Witwe.

Und der Friede Gottes, der bunter und farbiger ist als unsere schwarz-weiße Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

 

Nachbemerkung: Über die politischen und philosophischen Aspekte der Querulantin und des Störenfrieds hat der Philosoph Dieter Thomä, der in St.Gallen lehrt, ein wichtiges Buch geschrieben (Dieter Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016). Ich habe versucht, in einer längeren Rezension einige theologische Aspekte nachzutragen: Wolfgang Vögele, Über Ordnungswidrigkeit. Sozialethische und theologische Bemerkungen zu Dieter Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016, tà katoptrizómena, Heft 106, März 2017, tà katoptrizómena, Heft 106, März 2017, https://theomag.de/106/wv33.htm.

Prof. Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Lebt in Karlsruhe. Schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).

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