Lukas 2,1-20

Lukas 2,1-20

„Beim Festmahl“ | Christnacht | 24.12.23 | Lk 2,1-20 | Sven Keppler |

Liebe Festgemeinde,

mittags geht es zu den Urgroßeltern. Das ist Tradition am ersten Weihnachtstag. Am großen Tisch gibt es ein ausgiebiges Festmahl, dessen Höhepunkt Uromas gefüllte Gans bildet. Letztes Jahr hatte der Urgroßvater einige Flaschen alten Burgunder aus dem Keller geholt, die ihm zur Pensionierung geschenkt worden waren.

Als die Gans verspiesen und der Wein getrunken war, als beim Käse alle abgewunken hatten und der Nachtisch vernascht war, da hatten alle mehr oder minder rote Wangen bekommen und sich zufrieden zurückgelehnt.

Dankbar hatte der alte Herr gesagt: „Wer hätte das damals gedacht, als mich die Russen kurz vor Schluss noch einkassiert hatten? Aber Gott hat alles zum Guten gefügt.“

Theresa war bei dieser Aussage ein bisschen unruhig geworden. Seit gut zwei Semestern studierte sie Theologie. Die Frömmigkeit ihres Urgroßvaters war für sie in den letzten Jahren zwiespältig geworden.

Auf der einen Seite hatte seine Zuversicht ihr immer imponiert. Sein Vertrauen in Gottes Führung. Und vor allem seine Gewissheit, dass Gott sein eigenes Leben immer wieder zum Guten gelenkt hatte.

Aber genau diese Gewissheit war ihr andererseits mit den Jahren immer fragwürdiger geworden. „Woher weiß Uropa bloß immer so genau, was Gott mit ihm vorgehabt hat? Warum kann er immer so genau sagen, dass Gott hinter den großen Ereignissen in seinem Leben stand?“

Reimte er sich da nicht Vieles nachträglich zurecht? Bekam da nicht Manches im Nachhinein einen Sinn, was doch eigentlich ziemlich sinnlos war?

Jetzt, nach 2 ½ Semestern, traute sich Theresa zum ersten Mal, eine kritische Frage zu stellen. „Hast Du damals nicht auch einfach Glück gehabt?“ Der alte Herr schaute sie nachdenklich an. Als ob er damit gerechnet hatte, dass die junge Studentin irgendwann so fragen würde.

„Schau,“ sagte er, „sind das nicht ein bisschen zu viele Glücksfälle gewesen, um noch von Zufall zu sprechen?“ Und dann hatte er wieder die alten Geschichten erzählt, wie es ihm und der Urgroßmutter in den letzten Kriegsjahren gegangen war.

Wie er im Herbst ’44 in russische Kriegsgefangenschaft geraten war und dadurch vor der Ardennenoffensive bewahrt geblieben war, in der so Viele aus seiner Division gefallen waren. Wie er dann in Sibirien eine Thrombose bekommen hatte und die Russen ihn bald wieder heimgeschickt hatten.

Wie die Urgroßmutter aus Hamburg ins Westfälische evakuiert worden war. Am Marienhospital hatte sie Arbeit gefunden, wo sie den Großvater gepflegt und lieben gelernt hatte. Lauter glückliche Zufälle? „Dich würde es ohne diese Zufälle jedenfalls nicht geben, meine liebe Theresa.“

„Das wäre natürlich ein Verlust,“ hatte sie keck geantwortet. Sie wollte ja nicht die festliche Stimmung verderben. Aber auch nicht die Gelegenheit zur Nachfrage verstreichen lassen.

„Ich denke bloß, manche Dinge passieren eben, weil sie passieren. Den Krieg damals hat Gott doch bestimmt nicht gewollt. Wie kann er dann den Krieg benutzt haben, damit Du die Uroma kennen lerntest?“

Da hatte er nachdenklich geschwiegen. Hatte gespürt, dass eine allgemeine Wahrheit – wie etwa: Gottes Wege sind unerforschlich – seiner Urenkelin auch nicht weitergeholfen hätte. Vielleicht fürchtete er auch ihre Erwiderung: „Warum meinst Du denn dann, sie zu kennen?“

Sein Schweigen hatte Theresa ermutigt. „Gestern haben wir doch beide die Geschichte von Jesu Geburt gehört. Eigentlich sprach doch alles dagegen, dass Jesus geboren wurde. Es gab die Volkszählung des Kaisers, weshalb Maria auf eine gefährliche Reise musste. Wie leicht hätte sie eine Fehlgeburt haben können?

Und dann kamen sie nach Bethlehem. Aber sie konnten nirgends unterkommen. Und dann die Geburt im Stall. Schlimmer geht es doch gar nicht mit der Hygiene. Meinst Du, dass Gott dieser Familie all die schwierigen Umstände an den Hals gebunden hat?

Für mich hat die Weihnachtsgeschichte eine andere Botschaft: Auch wenn es noch so schwierig ist, kann es doch gut ausgehen. Auch wenn die Herrschenden alles anders machen, als Gott es will, kann man trotzdem überleben. Weil Gott einen behütet, obwohl in der Welt so viel verkehrt ist.“

Der alte Mann hatte lächeln müssen. Weil Theresa so leidenschaftlich für ihre Idee eintrat. Aber ebenso, weil er spürte, dass auch bei ihr eine fromme Empfindung dahinter stand.

Deshalb fragte er nur ganz vorsichtig zurück: „Aber musste der Messias nicht irgendwie nach Bethlehem kommen?“

Theresa war jedoch in Schwung gekommen. „Wahrscheinlich hat Lukas sich das ja nur ausgedacht. Glaubst Du denn echt, dass Gott die Volkszählung des römischen Kaisers veranlasst hat, damit Maria bei der Geburt in Bethlehem war?“

Doch, so ungefähr stellte er sich das tatsächlich vor. Nicht, dass nur aus diesem Grund die große Volkszählung stattfand. Aber dass Gott sie sich zunutze gemacht hatte, glaubte er schon.

Und dass sich eben immer die großen und die kleinen Dinge so ineinander fügen, dass sie von Gott her einen Sinn bekommen. Auch wenn wir ihn nicht immer verstehen. Wie damals bei ihm, als er seine Frau kennen lernte. Aber wie sollte er das seiner kritischen Enkelin erklären?

Musik

Können wir in unserem Leben die Spuren Gottes feststellen? Ist es möglich, in dem, was einem widerfährt, einen tieferen Sinn zu entdecken? Nach dem Motto: „Denen, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Besten dienen.“

Oder ist es so, wie Theresa glaubt? Es geschieht viel Sinnloses in der Welt. Von Gott dürfen wir erhoffen, dass er uns dennoch behütet.

Das eigene Leben zu deuten, und Gottes Spuren darin – das ist eine der schwierigsten Lebensaufgaben. Und doch gehört auch das zur Würde des Menschen: Sich nicht nur in einem dumpfen Fluss des Schicksals dahintreiben zu sehen. Sondern daran zu glauben, dass das eigene Leben in Beziehung zu etwas Höherem steht.

Auch bei Theresa ist das ja nicht anders, wenn sie darauf hofft, in den chaotischen Ereignissen der Weltgeschichte dennoch von Gott behütet zu sein.

In der Weihnachtsgeschichte erzählt Lukas, wie das geschehen kann: wie rätselhafte Ereignisse des eigenen Lebens von Gottes Willen her gedeutet werden können.

Da sind auf der einen Seite Maria und Josef. Eigentlich waren sie zu der Hoffnung gekommen, dass auf ihrer unerwarteten Schwangerschaft ein Segen lag. Aber wie waren dann die Widrigkeiten der letzten Wochen zu erklären?

Der Zwang, unmittelbar vor der Niederkunft eine harte Reise auf sich nehmen zu müssen? Und dann noch das Missgeschick, keine Herberge zu finden?

Und auf der anderen Seite sind die Hirten, die mit alledem scheinbar nichts zu tun haben. Zu ihnen wurde der Bote Gottes gesandt. Der Engel, der die Ereignisse in Stall und Krippe deuten konnte:

„Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“

Diese Konstellation ist gleich mehrfach aufschlussreich:

Erstens kommt der Deuteengel nicht direkt zum Stall. Darin spiegelt sich eine Erfahrung, die viele Menschen machen. Man fragt sich, welchen Sinn ein bestimmtes Ereignis haben mag. Man grübelt, bittet Gott vielleicht sogar um Rat. Aber kein Engel kommt, der einem die Rätsel auflöst.

Das Zweite ist: Als die Botschaft dann Maria und Josef erreicht, wird sie ihnen von Menschen berichtet. Von Menschen, die selbst das Evangelium von Gott gehört haben, und die es weitererzählen.

Auch darin kommt etwas Typisches zur Sprache. Gottes Wort, von dem her wir unser Leben deuten können, erreicht uns für gewöhnlich nicht unmittelbar. Es sind Menschen, die es weitersagen, von Generation zu Generation. Die Bibel hat dabei eine wesentliche Bedeutung: In ihr finden wir den Maßstab für das, was von Gott zu sagen ist: Von seinem Willen, seinen Taten und seiner Liebe.

Drittens erscheint mir als bemerkenswert, dass Gott es den Menschen nicht zu leicht macht. Die Hirten kommen nicht zum Stall und sagen: O Josef, o Maria, ihr musstet das alles auf euch nehmen, damit euer Kind in Bethlehem geboren wurde. Und die Geburt musste in einem Stall geschehen, weil der Heiland nicht an prächtigem Schmuck zu erkennen sein soll.

Dennoch ist ihre Ansage klar: In Bethlehem ist heute der Heiland geboren. Ihr werdet ihn daran erkennen, dass er in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt. Damit ist alles Wesentliche gesagt. Den Schluss, dass deshalb die Ereignisse so kommen sollten, wie sie gekommen sind – diesen Schluss müssen die Heiligen Eltern jedoch selbst ziehen.

Und schließlich vielleicht das Wichtigste: Es bedarf der Bewegung, der Begegnung und des Gespräches, damit Gottes Wort lebendig wird.

Die Hirten eilen zum Stall. Was sie dort sehen, bestätigt ihnen die Verheißung des Engels. Sie sagen Maria und Josef was sie zu sagen haben. Und dann verbreiten sie ihr neues Wissen an allen Orten. Bis zu uns, am Heiligen Abend im Jahr 2023.

Und wer hat nun Recht? Der Großvater, der an Gottes lenkende und ordnende Hand glaubt? Oder die Enkelin, die auf Gott hofft, der die seinen trotz aller Widrigkeiten behütet?

In dieser Alternative ist aus biblischer Sicht keine klare Antwort zu geben. Es ist unsere Aufgabe, unser Leben mit den biblischen Verheißungen ins Gespräch zu bringen. Dabei hilft es, das Gespräch miteinander zu suchen. Und das Gespräch mit Gott im Gebet.

Aber es bleibt dabei ein offener Raum. Ein Raum der Freiheit und der Entscheidung. Deshalb dürfen die verschiedenen Formen der Frömmigkeit nebeneinander stehen. Verbunden durch die Verheißungen unseres liebevollen Gottes: „Ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Amen.

Pfarrer Dr. Sven Keppler

Versmold

sven.keppler@kk-ekvw.de

Sven Keppler, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Seit 2010 Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold. Vorsitzender des Versmolder Kunstvereins. Autor von Rundfunkandachten im WDR.

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