Lukas 2,12

Lukas 2,12

Staunt und seht! | Christvesper | 24.12.2022 | Lk 2,12 | Martina Janßen |

I

Weihnachten bin ich Kind. Alle Jahre wieder. Mistelzweig und Tannengrün, Zimtsterne und Punsch, Lebkuchen und Nüsseknacken, wenn es geht auch Eis und Schnee. Alles ist Magie. Wie wunderbar, meine Schritte auf frisch gefallenen Schnee zu setzen – wie ein Tanz auf Zuckerguss einer riesengroßen weißen Torte. Das Morgenlicht flirrt himbeerfarben und schmeckt nach Sehnsucht. Alles knirscht, glitzert und funkelt. Ich sehe mich satt am Wunder und staune. Eine Nuss ist nicht nur eine Schließfrucht und Zimt nicht nur ein Gewürz, Lebkuchen sind mehr als raffiniert verpackte Kalorien und ein Mistelzweig ist nicht nur ein Häufchen grünes Blatt mit weißen Kugeln. Alles ist mehr als es auf den ersten Blick zu sein scheint, der Mond, die Mistel, der kühle Abendwind, alles leuchtet, liebt und singt. Das ganz Alltägliche ist überzogen von Glanz und Schimmer. So als hätte Gott eine Hand voll Zauberstaub auf diese Welt gehaucht und sie verwandelt in ein friedliches und frohlockendes Märchenland, in dem hinter jeder Wegbiegung ein Geheimnis wartet.

II

Ein rabbinisches Sprichwort lautet: „Wehe, die Welt ist voll gewaltiger Lichter und Geheimnisse, und der Mensch verstellt sie sich mit seiner kleinen Hand.“ So macht es nicht, sondern: Öffnet die Augen, spitzt die Ohren, lüftet das Geheimnis, kommt ganz nah an das Wunder heran. Gott will sich zeigen. Staunt und seht. Da ist noch so viel mehr als Weihnachtsmagie, Kindheitserinnerungen und ein weißes Märchenwunderland. Gott ist da. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Alles an diesem Zeichen ist wichtig, auf jedes Detail kommt es an. Das kleine Kind aus Fleisch und Blut, zusammengepfercht mit Ochs und Esel im Stall, die Windeln, zusammengewebt aus rauem Stoff mit klammer Hand, die Krippe, zusammengezimmert aus Holz, Mangel und Not. Kein Kind auf Wolken gebettet, hoch oben im himmlischen Glanz, umhüllt vom Engelhaar und Harfenklang. So ist es nicht. Denn dann bliebe Gott ja unter sich und wir allein, dann bliebe ja alles beim Alten, oben im Himmel und unten auf der Erde. So geht die Geschichte nicht. Gott ist in unsere Welt gekommen, in unser Leben geboren, in unser Dunkel gewoben. Gott ist unter uns, in jedem Winkel und sei er noch so versteckt, in jeder Träne und sei sie noch so bitter, in jeder Nacht und sei sie noch so kalt. Das verändert alles, jeden Tag, jede Stunde, jedes Herz. Die Erde ist angefüllt mit Himmel. Fürchtet euch nicht.

III

Wir brauchen Zeichen, die auf jene Geheimnisse zeigen, die Kopf und Verstand nicht fassen können, für all die Lichter, die tief im Inneren des Dunkel schlummern, für all die Wahrheiten, die unsere Worte übersteigen. Unser Leben ist voll davon. Denken wir nur die Sprache der Liebe: eine Rose, ein Ring, eine Hand. Das alles ist mehr als es auf den ersten Blick zu sein scheint: Ein Ring ist nicht nur gebogenes Edelmetall, eine Rose ist nicht nur eine dornige Blume, eine Hand ist nicht nur Fleisch und Blut mit fünf Fingern dran. Alles ist angefüllt mit Bedeutung: Unfassbares zum Anfassen, Unbegreifbares zum Greifen nah, das Undenkbare fällt in unsere Gedanken, fährt uns durch Mark und Bein, mitten ins Herz hinein: Ich liebe dich.

IV

Gott zeigt sich uns. Die Welt ist voll von seinen Zeichen. Weihnachten ist die Zeit, dafür die Augen zu öffnen, das Dunkle wird hell, das Kleine groß, das Harte weich. Jede Stunde atmet Tannenduft und Wunderluft, auf dem Alltäglichen liegt stiller Glanz, unsere Herzen stehen offen für das, was möglich wäre, aber noch nicht ist. In Nächten und Tagen wie diesen kommen die Geheimnisse leichter ans Licht. Wer staunt, entdeckt sie – heilige Zeichen, Spuren Gottes. Wie die Hirten auf dem Felde. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Kommt und seht. Da ist sein Leib. Mitten in unserer Welt. Kommt und seht: Gott – für euch geboren. Die Hirten verstellen das Licht und Geheimnis nicht mit kleiner Hand. Sie machen sich auf, nehmen die Beine in die Hand. „Steht auf, erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung naht“ (Lk 21,18b). Staunt, geht und seht. Sie sind da, all die Lichter und Geheimnisse, gerade da, wo man sie nicht erwartet. Seht euren Gott, in der Krippe, in der Nacht, in Fleisch und Blut. „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“ (Jes 9,5) Ein offenes Geheimnis für den, der staunt und sieht.

V

Als Kind konnte ich staunen, jede Stunde, jede Sekunde: Hinter jeder Ecke wartet ein Geheimnis, unter der Oberfläche versteckt sich ein Schimmer, über allem schwebt ein Hauch Magie. Kinder, Propheten und Dichter sind Meister im Staunen. Alles ist mehr als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Wie schön schreibt es Günter Grass: „Alle stehen leergefegt, doch trägt ein Baum ohne Blatt Äpfel in den Dezember hinein. Nur wer nicht staunen kann, sieht einzig kahles Geäst.“ Nur wer nicht staunen kann, sieht gebogenes Edelmetall, ein Häufchen Grün mit weißen Kugeln, ein kleines Kind in einer Krippe. Wagt zu staunen, entdeckt das Wunder. Die Welt ist voll gewaltiger Lichter und Geheimnisse. Verstellt sie nicht mit eurer kleinen Hand, öffnet die Augen, spitzt die Ohren, kommt ganz nah heran. Neulich habe ich eins entdeckt, ein Licht, ein Geheimnis. Beim Spaziergehen ist er plötzlich da – ein Stern, hell und bunt, von ferne leuchtet er, zieht mich an, ich folge dem Licht, lasse mich ziehen, fernab der gepflegten Straßen, geschmückten Plätze und märchenhaften Gassen leuchtet der Stern, da, wo ihn niemand erwartet, zwischen Beton und Straßendreck, da wo die wohnen, die abgehängt sind, da hat ihn einer ins Fenster gehängt, hoch oben im Hochhaus, nun strahlt er, hell und weit, glitzert, blinkt und funkelt, taucht den grauen Beton in warmen Schimmer und lässt das achtlos auf die Straße geworfene Taschentuch leuchten wie einen goldenen Schatz, der ein Geheimnis in sich birgt. Nur wer nicht staunen kann, sieht Angst, Abfall und Asphalt. Staunt und seht. Die Erde ist angefüllt mit Himmel. Fürchtet euch nicht.

VI

Unsere Welt ist voll mit Zeichen. Was leitet unseren Blick? Welche Geheimnisse versuchen wir zu ergründen? Wovon lassen wir uns finden? Wie oft ist es die Angst, die unsere Blicke lenkt. In wie vielen Schlagzeilen blickt sie uns entgegen: „Klimakrise: Achtung, Untergang“ (SZ, 17.11.22), „Endzeitstimmung im Supermarkt“ (Luxemburger Wort, 10.12.22). Alles ist mehr als es zu sein scheint, in allem wohnt die Furcht, schlummert die Endzeit, lauert der Tod. Wir sehen das kahle Geäst, aus dem das Leben gewichen ist, die Rose, in schon im Blühen das Welken in sich trägt, den Traum, der beim Erwachen wie Sand durch die Hände rinnt. Weihnachtliches Sehen ist anders. Kein Blick in den Abgrund, sondern in Gottes Angesicht. Es beginnt mit dem Staunen und was bleibt ist Staunen. Gott lässt sich finden – trotz allem. Er ist im kahlen Geäst, das doch Frucht trägt, er ist der helle Schimmer auf dem Asphalt, er ist im Funkeln einer frostigen Winternacht. Staunt und steht, lüftet das Geheimnis, stellt euch ins Licht. Wo man hinblickt, das wächst. Lasst Gott groß werden. Fürchtet euch nicht. Er ist da. „Die Erde ist randvoll mit Himmel, und in jedem gewöhnlichen Dornenbusch brennt Gott, aber nur jene, die sehen können, ziehen ihre Schuhe aus; die anderen sitzen darum herum und pflücken Brombeeren.“ (Elizabeth Barrett-Browning).

VII

VII. Weihnachten war für mich als Kind immer zauberhaft, voller magischer Momente. Einen Moment möchte ich mit Ihnen teilen. Zieht die Schuhe aus, lasst die Hände ruhen, hört, staunt und seht. Ganz früh am Morgen des ersten Weihnachtstages gingen meine Eltern und ich in unser liebstes Zimmer. Der Ofen war noch aus, es war immer lausig kalt und fast ganz dunkel; nur ab und an drangen von draußen Lichter in unsere bescheidene Stube. Reiche Menschen waren wir nicht. Auf dem Tisch stand nichts außer einer weißen Kerze, die darauf wartete zu brennen. Auch ich war voller Erwartung und hielt die Hand meines Vaters ganz fest. Meine Mutter entzündete ein Streichholz, ein heller Schein blitzte in der Dunkelheit auf und unsere Kerze brannte. Eine kleine Bewegung, ein schlichtes Ritual, aber für mich als Kind war das immer wieder ein magischer Moment: Die kleine Kerzenflamme machte unsere Stube hell, ein ganz mildes Licht lang auf allem, und wenn man nah genug an die Kerze heranging, konnte man eine Wärme spüren, die tief unter die Haut fuhr und das Herz zum Brennen brachte.  Nur wer nicht staunen kann, sieht ein Stück Wachs, ein Streichholz, eine kleine Bewegung. Nur wer nicht staunen kann, sieht kahles Geäst, ein Häufchen Grün mit weißen Kugeln, einen Brombeerstrauch auf einem Feld. Nur wer nicht staunen kann, sieht ein kleines Kind in einer Krippe. Der, der staunt, entdeckt ein offenes Geheimnis. Die Erde ist mit Himmel angefüllt. Fürchtet euch nicht.

Amen


PD Dr. Martina Janßen

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