Lukas 24,50-53

Lukas 24,50-53

„Wie zwischen Himmelfahrt und Pfingsten“ | Himmelfahrt | 18.05.2023 | Lukas 24,50-53 | Sven Keppler |

I.

„Ich fühle mich, wie zwischen Himmelfahrt und Pfingsten.“ Das ist eine stehende Wendung der alten Dame. Immer wieder bringt sie diesen Spruch, der ein ganz bestimmtes Gefühl bei ihr ausdrückt.

Sie ist eine besonnene, kluge Frau. Mit Mitte zwanzig hatte sie ihren Mann kennen gelernt. Er hatte gerade sein erstes Staatsexamen abgelegt. Nach dem Referendariat hatten sie geheiratet. Bald darauf war er in eine Kanzlei eingestiegen.

Es hatte sich vieles nach ihren Wünschen entwickelt. Zwei Kinder waren gesund zur Welt gekommen. Später war sie wieder in ihren Beruf als Grundschullehrerin eingestiegen. In ihrem Haus hatten sie eine Hilfe gehabt, so dass die vielen Aufgaben gut bewältigt wurden. Mit den vielen Gästen, die regelmäßig ins Haus kamen, erlebten sie angeregte Abende.

Dann hatte ihr Mann sie verlassen. Morgens war er aus dem Haus gegangen. War zum Bahnhof gefahren, zu einem auswärtigen Termin. Am Schalter war er zusammengebrochen. Ein Hirnschlag. Zwei Wochen später war er tot. Anfang vierzig war sie, die Kinder zehn und zwölf Jahre alt.

Heute blickt sie mit großer Gefasstheit auf diese Zeit zurück. Beschreibt die zwei Wochen zwischen Hoffnung und Resignation. Ist ein wenig stolz, dass sie all die Jahre bewältigt hat, obwohl er sie verlassen hat. Etwas seltsam wirkt dieses Wort in ihrem Mund. Im ersten Moment denkt man, er sei ihr untreu geworden. Und ein bisschen empfindet sie das auch so.

Noch heute beschleicht sie immer wieder dieses Gefühl, verlassen worden zu sein. Von ihrem Mann. Von den Kindern, die irgendwann selbst studiert haben und heute in der Ferne leben. Von den Freunden, die sie nur hin und wieder sieht. Und auch von ihrer Lebensenergie. Von den Gewissheiten, die ihr Halt und Trost geben.

Sie weiß dann, dass diese Stimmungen vorübergehen. Depressive Verstimmungen, in denen sie sich vom Leben abgeschnitten fühlt. Sie weiß, dass das nach ein paar Tagen vorbeigehen und ihre Lebensgeister zurückkehren werden. Für diese Tage der Einsamkeit hat sie das Wort geprägt: „Ich fühle mich, wie zwischen Himmelfahrt und Pfingsten.“

Die Jünger sind von Jesus verlassen worden, der nun beim Vater ist. Ihnen bleiben die Erinnerungen. Aber den trostvollen Geist haben sie noch nicht bekommen. Verlassen sind sie und müssen nun wieder alleine in der Welt zurechtkommen. Wie früher, bevor sie Jesus kennen gelernt hatten. Aber im Rückblick wissen wir, dass sie bald darauf von einem neuen, einem lebendigen Geist ergriffen wurden.

II.

Liebe Gemeinde, im Grunde verhält sich Himmelfahrt zu Pfingsten wie Karfreitag zu Ostern. Himmelfahrt ist der Tag des Verlustes. Des Abschieds. Der Trauer. Der Vereinsamung. Die Jüngerinnen und Jünger mussten Jesus loslassen. Karfreitag ins Grab. Ins Reich des Todes. Himmelfahrt endgültig in Gottes andere Wirklichkeit.

Ostern und Pfingsten sind dagegen die Tage der Wiederbegegnung. Des Trostes. Und doch ist es nicht einfach so, wie vorher. Ostern zeigt sich, dass Jesus lebendig ist. Dass das Grab ihn nicht halten kann. Aber er ist nicht einfach reanimiert. Er ist auf eine veränderte Weise gegenwärtig. Nur in besonderen Augenblicken gesteigerter Aufmerksamkeit.

Zu Pfingsten zeigt sich schließlich, wie Jesus, wie Gott von da an gegenwärtig sein will: In Worten, die jeder Mensch verstehen kann. In Gefühlen der Begeisterung und der Gewissheit. Im Erlebnis von Gemeinschaft. Im Trost und in der Gewissheit, zu denen Menschen finden. Das Wort der Tradition dafür ist: im Heiligen Geist.

Liebe Gemeinde: Die Zeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten ist also eine Übergangszeit. Eine Zeit zwischen Verlassenheit und Neuanfang. Zwischen Verzweiflung und neuer Hoffnung. Ich stelle mir vor, dass die Jünger sie als Anfechtung erlebt haben. Orientierungslos, kraftlos, depressiv verstimmt.

Umso erstaunlicher ist es, den Bericht des Lukas zu lesen. Er bildet den Abschluss seines Evangeliums. Ich lese diese vier Verse [Lk 24,50-53].

III.

Ist das nicht erstaunlich? Jesus segnet die Seinen zum Abschied, scheidet von ihnen und verlässt die Welt hin zu Gott. Und die Jüngerinnen und Jünger kehren voller Freude zurück nach Jerusalem. Sind beständig im Gotteshaus und preisen Gott.

Es klingt, als wolle Lukas seinen Kollegen Markus korrigieren. Dessen Evangelium hatte ursprünglich am leeren Grab geendet. Bei den verwirrten Frauen. Die letzten Worte waren: „denn sie fürchteten sich“. Bei Lukas dagegen große Freude und die Schlussworte: „sie priesen Gott“.

Was ist der Grund dieses Umschwungs? Woher die unerwartete Freude, die angesichts des Abschiedes eigentlich nicht zu erwarten wäre? Für mich hat sie etwas Rätselhaftes. Vielleicht geht es Ihnen ja auch so. Lassen Sie uns versuchen, ihren Grund zu verstehen. Es wird ja wohl mehr dahinter stecken, als dass Lukas seinen Lesern bloß ein Happy End schenken wollte. Dass er den Ernst des Markus nicht ausgehalten hätte.

Zwischen dem Schluss nach Markus und dem nach Lukas liegen vierzig Tage. Tage voller Ereignisse. Den Frauen war am Grab erklärt worden, warum Jesus sterben musste. Sie waren zu den Elfen gegangen und hatten es ihnen berichtet. Petrus war selbst zum Grab gegangen und hatte sich überzeugt.

Dann war Jesus den beiden Emmausjüngern erschienen. Sie hatten ihn nicht erkannt. Aber er hatte ihnen ebenfalls in aller Breite erklärt, warum Jesus sterben musste, um sich und den Seinen ein neues Leben zu eröffnen. Bei Mose hatte er begonnen und ihnen die Propheten und die ganze Heilige Schrift ausgelegt.

Und er war den Jüngern mehrfach erschienen. Er hatte mit ihnen gegessen und auch ihnen den Sinn von Tod und Auferstehung erläutert. Bei allen diesen Begegnungen steht im Vordergrund, dass Jesus das Unbegreifliche erklärt und deutet. Und diesmal wird er verstanden. Ganz anders als vor seinem Tod, als er sein Leiden angekündigt hatte, aber niemand es begriff.

Jesus tut also das, was nach ihm die Evangelienschreiber getan haben. Und die anderen Autoren des Neuen Testaments. Und all die Apostel, Missionare und Verkündiger des Glaubens: Sie haben erklärt, was Tod und Auferstehung für einen Sinn haben. Und was das mit uns zu tun hat. Wenn sie Glauben gefunden haben, dann haben sie damit Freude und Jubel ausgelöst. Lobpreis statt Furcht.

IV.

Lag die alte Dame also falsch? Für sie war das Gefühl „zwischen Himmelfahrt und Pfingsten“ Verlassenheit und Bedrückung. Für die Jünger dagegen Freude und Glück. Fehlte den Jüngern denn gar nichts? Brauchten sie Pfingsten eigentlich gar nicht? Wozu der Heilige Geist, wenn alles schon im Reinen schien.

Man könnte vielleicht sagen: Nach Ostern war die Erkenntnis nur in den Köpfen angekommen. Es gab Erklärungen, aber sie mussten noch mit dem Herzen begriffen werden. Und das geschah erst zu Pfingsten.

Aber das ist Unsinn. Große Freude und Lobpreis gibt es nur dort, wo der ganze Mensch ergriffen ist. Mit Herz und Verstand. Was war es dann sonst, was noch fehlte?

Das Entscheidende war, glaube ich, die Zeit. Jesus hatte den Seinen Orientierung gegeben. Er hatte ihnen geholfen, die geheimnisvollen Ereignisse zu begreifen. Und diese Orientierung war angekommen, in Herz und Verstand. Dann hatte er sie verlassen. Hatte sie nicht einfach alleingelassen, so wie die alte Dame damals von ihrem Mann zurückgelassen worden war. Sondern er hatte sie zugerüstet für die Zeit ohne ihn.

Aber wie lange würde diese Zurüstung halten? Wie lange tragen Erklärungen über die Einsamkeit hinaus? Es gibt lauter Fragezeichen, ob die Freude der Jünger von Dauer gewesen wäre.

Erstens die Zweifel, die sich mit der Zeit einschleichen. War es wirklich so, wie wir uns zu erinnern meinen? Haben wir ihn wirklich gesehen? Und wie war es noch mit seinen Erklärungen?

Wahrscheinlich hätten sich die Erinnerungen sehr schnell auseinander entwickelt. Es wäre zu Wiedersprüchen gekommen, mit denen sich die Jünger gegenseitig in Frage gestellt hätten. Die Gewissheit wäre dabei langsam, aber sicher über Bord gegangen.

Und drittens hätten die Anhängerinnen und Anhänger Jesu nach und nach unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht. Verluste erlebt. Verfolgungen erlitten. Hätte die Erinnerung an die Worte Jesu sie auch darüber hinweggetragen?

Und viertens schließlich der Alltag. Das Leben ging weiter und weiter und weiter. Würde da nicht zwangsläufig das Außerordentliche verblassen, dass sich vor vielen Jahren mit Jesus ereignet hatte?

Liebe Gemeinde, auch die stärksten Gefühle bedürfen der Pflege. Auch die tiefsten Einsichten müssen immer wieder aufgefrischt und aktualisiert werden. Wie ein Haus, das ohne beständige Renovierungen langsam verfällt.

Das ist die Aufgabe des Heiligen Geistes von Pfingsten an: Lebendig zu halten, was in Vergessenheit gerät. Aufzufrischen, was verblasst. Neue Kraft und Einsicht, neuen Mut und neue Zuversicht zu schenken. Nicht ein für allemal, sondern immer wieder neu.

V.

Und deshalb gibt es das doch, dieses Gefühl zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Genau genommen ist es das Gefühl des Verblassens. Das, was einen Menschen sonst durchs Leben trägt, wird kraftlos. Was sonst Mut gibt, hilft nicht mehr. Erklärungen werden fraglich. Und Gefühle schwach.

Das ist genau die Situation unserer alten Dame. Es ist ja nicht so, dass sie völlig ratlos wäre. Sie hat ihren Umgang mit dem Tod ihres Mannes gefunden. Sie weiß, dass ihre Kinder sich nicht von ihr abgewendet haben. Dass sie in dem Maße Kontakt halten, wie es auf die Entfernung möglich ist.

Sie weiß auch, dass es Menschen gibt, die ihre Gegenwart schätzen. Und sie hat ihren Glauben, der ihr immer wieder Orientierung und Trost gibt. Aber es gibt diese Momente, wo all das seine Kraft verliert. Wo Verzagtheit und Zweifel die Oberhand gewinnen. Wo zwar die Erinnerung an bessere Zeiten noch da ist. Und das Vertrauen auf ihre Rückkehr nie ganz fort ist.

Aber wo doch vor allem die Sehnsucht da ist, dass Gott wieder neue Lebenskraft schenkt. Neue Orientierung und neue Zuversicht. Dass das Gefühl, verlassen zu sein, wieder ersetzt wird durch das Vertrauen, getragen zu sein. Genau das sind die Momente zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Amen.


Pfarrer Dr. Sven Keppler

Versmold

sven.keppler@kk-ekvw.de


Sven Keppler, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Seit 2010 Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold. Vorsitzender des Versmolder Kunstvereins. Autor von Rundfunkandachten im WDR.

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