Lukas 6, 36-38

Lukas 6, 36-38

Bemerkung zur Predigt

„Jesus sprach: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht,
so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes
und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben;
denn eben mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird man euch wieder
messen.“

Liebe Gemeinde,
hier geht es zunächst einmal um Kritik. Die hört bekanntlich
niemand gern. Denn wenn kritisiert wird, meinen wir gleich: da sagt einer „Nein!“ zu
uns. Unser „Ja“, was wir dagegen setzen, soll offenbar auf
einmal nicht mehr gelten. Wir werden unsicher und ärgerlich. Den
bösen Kritiker möchten wir am liebsten vor die Tür setzen.

Wenn Sie jetzt an das Evangelium, an Jesu Wort denken, liebe Gemeinde,
dann liegt es nahe zu sagen: Jawohl, wir sollen ja auch gar nicht kritisieren,
nicht richten und urteilen. Jesus sagt es ausdrücklich: richtet
nicht, verurteilt nicht!

Das stimmt, und Christenmenschen tun gut daran, es zu hören und
zu beachten. Sie tun aber auch gut daran, sorgfältig hinzuhören
und genau zu beachten, was er denn nun wirklich gesagt hat. Er hat gesagt: »Richtet
nicht!« Das heißt: Verurteilt nicht! Aber er hat nicht gesagt:
Kritisiert nicht!

Die Sache ist ein bißchen verwirrend, weil von dem griechischen
Wort für richten – krinein – auch unsere Begriffe »kritisieren« und »Kritik« abgeleitet
sind. Ganz allgemein meint das griechische Wort zunächst nur unterscheiden,
sorgfältig auseinander halten, auswählen, auch meinen, beurteilen,
erklären. Spezieller wird es dann freilich für das Urteil des
Richters auch verwendet.

Wenn Jesus hier sagt: »Richtet nicht!«, dann will er sagen:
Fällt doch nicht immer sofort ein Urteil über euren Mitmenschen!
Und wenn ihr ihn beurteilt, dann verdammt ihn nicht gleich! Macht einen
deutlichen Unterschied zwischen Beurteilen und Verurteilen! Jesus warnt
also davor, einen Menschen mit unserem Urteil schlankweg fertigzumachen.
Nein, wir sollen barmherzig sein!

In der Tat haben manche Leute förmlich ein Talent dazu, mit ihrem
Kritisieren zugleich Nein zu sagen. Stets reißen sie gleich alles
ein, machen sofort reinen Tisch. Aber von einem leeren Tisch kann man
nicht essen. Total verurteilende, nichts gelten lassende Kritik hilft überhaupt
nicht. Sie zerstört nur. Nicht Gottes guter Geist ist da am Werk,
sondern ein diabolischer Geist, ein Richtgeist. Man könnte ihn geradezu
einen gefallenen Engel Gottes nennen. Leider geistert der aber überall
bei uns herum und macht uns das Leben miteinander oft so schwer. Wir
sollen aber doch barmherzig miteinander sein!

Und das ist auch möglich, wenn wir Kritik üben. Denn Kritik
ist notwendig für unser Zusammenleben. Jede Gemeinschaft von Menschen
braucht kritisches Urteilsvermögen, Urteile, die sorgfältig
und genau unterscheiden, die abwägen, zurechtrücken und ins
Lot bringen, Urteile, die Fehler benennen und zugleich helfen, sie gutzumachen
und künftig zu vermeiden.

Wir könnten nicht Kirche für die Menschen sein, wenn das kritische
Urteil darin keinen Platz haben dürfte. Denn wo Kritik unterdrückt
wird, da herrscht nur noch müde Anpassung. »Man kann ja doch
nichts machen!« heißt es da, und in der Regel müssen
dann etliche Menschen weiterhin unter kritikwürdigen Bedingungen
leiden, obwohl man die ändern könnte. Nicht selten kommt es
dabei am Ende zu Aggressionen und zu Streit, und dabei wird dann völlig
unnötigerweise viel Porzellan zerschlagen. Kritik, helfend und aufbauend,
muß also unter uns erlaubt sein. Sie ist notwendig.

Aber – und darauf kommt es Jesus an – es soll Kritik sein,
die sich von Gottes Barmherzigkeit leiten läßt, sich an ihm
mißt und weiß: der Mensch, den ich da kritisiere, gehört
Gott, dem Herrn, und steht unter seinem Recht, nicht unter meinem. Darum
habe ich nicht über ihn zu richten und kein endgültiges Urteil über
ihn abzugeben.

Und weil Gott der Vater ist, darum ist der andere Mensch, sei er Mann
oder Frau, Deutscher oder Ausländer, stets auch mein Bruder oder
meine Schwester. Mögen seine Fehler noch so schwerwiegend sein – ich
bleibe ihm verbunden, weil wir doch beide denselben Vater haben. Richte
ich ihn, so verleugne ich unseren gemeinsamen Vater.

Liebe Gemeinde, wenn ich mir diese Zusammenhänge vor Augen halte,
nämlich Gott, den Herrn und den Vater, und in dem anderen Menschen
meinen Bruder, meine Schwester, dann wird der Maßstab für
meine Barmherzigkeit erkennbar.

Nun möchten Sie freilich gern wissen: Wenn die Dinge so liegen,
was hat es dann mit unseren staatlichen Gerichten und deren Urteilen
auf sich? Darf es die nach Gottes Willen nicht geben? Sie sprechen doch
ständig Urteile aus, verhängen Strafen und entziehen Menschen
ihre Freiheit. Ist das recht?

Es ist recht. Vor Gericht geht es nicht um Verdammung von Menschen,
sondern um die Würdigung und Beurteilung menschlichen Verhaltens,
menschlicher Handlungen und Unterlassungen. Denn durch sie wird unser
Zusammenleben teilweise erheblich beschwert, gestört und nicht selten
gefährdet. Wir möchten aber doch möglichst in Frieden
miteinander leben können.

Darum brauchen wir Gerichte, die menschliches Recht sprechen – nach
streng geordnetem Verfahren und sorgfältiger Untersuchung, wobei
alles zu tun und bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen ist,
was dazu dient, dem Angeklagten bzw. den streitenden Parteien gerecht
zu werden. So soll es sein. So ist es nach den Gesetzen unseres Landes
geordnet.

Freilich wissen wir, daß jede menschliche Rechtsordnung unvollkommen
und vorläufig ist. Die größte Gerechtigkeit kann gleichzeitig
die größte Ungerechtigkeit sein. Juristen wissen das nur zu
gut. Und nicht selten bekommt nach dieser Rechtsordnung ein Mensch sein
Recht nur gegen das Recht eines anderen.

In Gottes Ordnung der Barmherzigkeit gilt dagegen eine andere Regel:
weil Gott barmherzig ist, darum können wir auch barmherzig sein.
Gottes Ordnung der Barmherzigkeit ist jedenfalls etwas durchaus anderes
als eine Regel dafür, wie wir, ohne anzuecken, durch’s Leben kommen
könnten. Barmherzigkeit ist Gottes Maß für die Art und
Weise, wie wir Menschen miteinander umgehen sollten.

Und an diesem Maß werden wir auch gemessen: Richtet nicht, so
werdet ihr auch nicht gerichtet. Verurteilt nicht, so werdet ihr nicht
verurteilt! Vergebt, so wird euch vergeben! Die Aufforderung zu vergeben
meint eigentlich: Laßt eure Schuldner frei, sprecht frei, laßt
Menschen heraus aus einer Zwangslage, in der sie stecken, dann werdet
ihr Freiheit gewinnen. Wer hat das nicht schon erlebt: ein freundliches,
verstehendes Wort nahm den ganzen Druck fort, der einem auf der Seele
gelastet hatte. Befreit und erleichtert konnte man wieder aufatmen – Vergebung!

In etwas anderer Perspektive gilt dieses Maß auch für Michel
Friedman, dessen Sache jüngst soviel Wirbel auslöste. Vor wenigen
Tagen hat er sich öffentlich zu seinem Fehler bekannt, um Entschuldigung
gebeten und sich von allen öffentlichen Ämtern zurückgezogen.
Ich meine, daß er sich jetzt sehr honorig verhalten hat, und bin
für meine Person gern bereit, hier nicht zu verurteilen, sondern
zu vergeben oder besser: ihn freizulassen aus der Zwangslage, in die
er sich gebracht hatte.

Vergebung brauchen wir übrigens auch im Zusammenleben der Völker,
z. B. zwischen uns Deutschen und den Menschen in Polen, die im kommenden
Jahr in die EU aufgenommen werden und uns dann sehr viel näher kommen
werden, als das in den vergangenen Jahrzehnten möglich war. Erst
Vergebung, die das Erinnern einschließt, macht Versöhnung
möglich und schenkt wirklich Freiheit.

Und noch etwas sagt Jesus in diesem Zusammenhang: »Gebt, so wird
euch gegeben!« In einem Bild schildert er, wie er das meint: Da
ist ein Meßgefäß für Getreide. Der Weizen wird
hineingeschüttet, hineingedrückt, damit sich auch die letzten
Ritzen füllen, und dann wird das Maß gerüttelt, bis die
Körner satt aufeinander liegen. Zum Schluß wird oben noch
solange Weizen aufgehäuft, bis die Körner an den Seiten des
Gefäßes herabrieseln. Erst dann wird alles dem Käufer
in den Bausch seines Gewandes geschüttet, der wie eine Tasche über
seinem Gürtel hängt.

Jesus beschreibt mit diesem Bild Gottes Art. So ist Gott, will er sagen:
mehr schenkt er, als es auch die beste menschliche Gerechtigkeit vermag.
Wer das erfährt, dem muß das kleinliche Nörgeln, das
gegenseitige Aufrechnen, das verurteilende Kritisieren vergehen. Wer
Gottes Großzügigkeit und Freundlichkeit erfahren hat, der
kann selber großzügig, freundlich, barmherzig sein.

Freilich ist Gott kein Rechenexempel, dem wir ohne Rest auf die Spur
kommen und das wir bis in den letzten Winkel analysieren könnten.
Ein erschöpfend darstellbarer Gott wäre zugleich ein ausgeschöpfter,
ein erschöpfter und darum hilfloser Gott.

Gott, der Vater Jesu Christi jedoch ist und bleibt ein unerforschliches
Geheimnis. Er ist unterwegs mitten in den Abgründen unseres Lebens.
Er ist so unterwegs, daß er aus dem zwielichtigen Dunkel doch immer
wieder neues Licht hell aufstrahlen läßt. Aus einem verhärteten,
verhärtenden Nein läßt er ein verbindliches und verbindendes
Ja werden. Und er lädt uns immer wieder auf’s neue ein, mit ihm
auf den Weg zu kommen und vom schroffen Nein zum barmherzigen Miteinander
zu finden – nach dem Maß seiner Barmherzigkeit.

Amen.

Bemerkung zur Predigt: Meine Predigt behandelt nur die ersten drei Verse
des Predigttextes, der als Sonntagsevangelium der lukanischen „Feldrede“ entnommen
ist und auch noch die Verse 39–42 umfaßt. Diese führen
Gedanken aus 36ff wohl im Blick auf Gemeindeleitung weiter aus und weisen
jene zurück, die mit dem Anspruch moralischer Überlegenheit
ihre Gemeinde kritisieren und belehren wollen. Die ersten drei Verse
enthalten die grundlegenden Aussagen.

Pastor i. R. Hans–Gottlieb Wesenick
Göttingen
E-Mail: H.-G.Wesenick@t-online.de

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