Lukas 7, 36-50

Lukas 7, 36-50

 

Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


 

11. Sonntag nach Trinitatis,
26. August 2001
Predigt über Lukas 7, 36-50, verfaßt von Wilhelm von der
Recke


Was hat sie dazu geführt, Pfarrer zu werden? Dieser Frage
ist eine evangelische Zeitung in Frankreich in diesem Sommer nachgegangen.
Sie hat dabei einige ungewöhnliche Lebensläufe zutage gebracht:
Ein Pastor kam aus einem völlig unkirchlichem Kleinstadtmilieu
in Belgien. Doch die Gestalt Jesu hatte ihn fasziniert, und er war dem
auf den Grund gegangen. Eine junge Frau war als marokkanische Muslime
in Marseille aufgewachsen und mit einer lebendigen christlichen Gemeinschaft
in Kontakt gekommen.
Ein anderer wiederum war als Schüler und Student ein verbohrter
Trotzkist gewesen; ein weiterer hatte erhebliche Konflikte mit dem Gesetz
gehabt. Ihnen beiden war irgendwann klar geworden, dass sie in ausweglose
Sackgassen geraten waren. Die Bibel öffnete ihnen die Augen.
Ein anderer Pastor schließlich war in seiner Jugend ein eifriger
Katholik gewesen. Später konnte er das ständige Liebegottgerede
nicht mehr aushalten und war völlig auf Distanz zur Kirche gegangen.
In der Bretagne arbeitete er als Zahnarzt. Doch die Sehnsucht nach einem
tragfähigen Glauben ließ ihn nicht los. Eines Tages schloss
er seine Praxis, ging mit seiner fünfköpfigen Familie nach
Montpellier in Südfrankreich und begann mit dem Studium der evangelischen
Theologie. Er wollte endlich wissen, was am christlichen Glauben dran
war. Für ihn war Luther die große Entdeckung. Seine Schriften
sprachen ihn an, weil er bei Luther seinen eigenen inneren Weg vorgezeichnet
fand.
Sie alle sind schließlich Pfarrer geworden. Was für sie selber
eine große Entdeckung gewesen war, das wollten sie anderen weitergeben.
Sie waren also nicht mehr oder weniger selbstverständlich in diesen
Beruf hineingewachsen. Gerade nach vielen Irrwegen und Umwegen hatten
sie um so deutlicher empfunden, welche befreiende Kraft vom Evangelium
ausgeht. – Ähnlich ist es wohl einer Frau gegangen, von der Lukas
berichtet. Eines Tages war sie mit Jesus zusammengetroffen. Diese Begegnung
hatte schlagartig ihr Leben verändert. Im 7. Kapitel hören
wir davon. – (Verlesung des Predigttextes. Empfohlen wird die Übersetzung
nach der Guten Nachricht, die diese Begegnung gut verständlich
und anschaulich wiedergibt
.)

So wie Lukas diese Begebenheit erzählt, denkt er nicht nur an
diese bestimmten Menschen aus der Zeit Jesu – den Pharisäer Simon
und die Frau, deren Name nicht überliefert wird. Lukas denkt offensichtlich
auch an die Christen seiner Zeit, etwa zwei Generationen nach Jesus.
Er denkt dabei an bestimmte typische Christen, an bestimmte Glaubenshaltungen:
Der eine ist ein guter, treuer Christ, der schon länger dazu gehört;
der das Richtige glaubt, das Notwendige tut und der sich nicht viel
vorzuwerfen hat. Ihm gegenüber steht eine Frau, die gerade den
ersten Kontakt zum christlichen Glauben gefunden hat. Die Begegnung
mit Jesus ist für sie überwältigend. Sie spürt:
da ist Gott am Werk. Gleichzeitig empfindet sie, wie weit sie von ihm
entfernt ist, wie sehr sie ihn braucht. Sie ist sicher: Er kann und
er wird ihr Leben verändern.
Diese Frau hat irgendwie von Jesus gehört. Sie weiß, dass
er in der Nähe ist und wo sie ihn finden kann. Es stört sie
nicht, dass sie eigentlich ungelegen kommt. Von hinten tritt sie auf
den zu Tische liegenden Jesus zu. Was eigentlich die Aufgabe des Haussklaven
gewesen wäre, nämlich dem Gast die staubigen Füße
zu waschen, das macht sie. Sie tut es mit ihren Tränen und trocknet
seine Füße mit ihrem Haar. Sie bedeckt seine Füße
mit Küssen; sie salbt sie schließlich ein mit kostbaren Parfüm.
Diese Frau redet nicht; wir erfahren nicht, was sie sich dabei denkt.
Sie handelt! Sie folgt dem spontanen Impuls ihres Herzens – mag es auch
noch so unsinnig erscheinen.
Der Mann, der Pharisäer, sagt ebenfalls nichts. Schweigend macht
er sich so seine Gedanken: Über dieses alberne, verschwendungssüchtige
Geschöpf und über den ach so klugen und frommen Jesus, der
sich von ihr einwickeln lässt und nicht merkt, was das für
eine ist. Aber der weiß genau, was da läuft und was sein
Gastgeber denkt. Mit einem Gleichnis versucht Jesus es dem eingebildeten
Mann klar zu machen: Beide Schuldner können nicht zurückzahlen,
beiden wird ihre Schuld erlassen. Natürlich ist der eine, dem so
viel mehr geschenkt worden ist, auch weit mehr erleichtert als der andere,
bei dem es sich um eine eher geringfügige Summe handelte.
Jesus redet in Bildern. Er sagt dem Mann nicht auf den Kopf zu, wo es
bei ihm fehlt. Er macht ihm keine Vorwürfe, er redet ihm nicht
persönlich gut zu. So führen sie ein eher indirektes Gespräch.
Vielleicht liegt das an Simon, der Jesus nicht so nahe an sich heran
lässt. Jedenfalls reden beide nur ü b e r das, was vorgeht.
Sie reden darüber hinweg.
Ganz anders mit der Frau. Jesus spricht sie direkt an. Er redet Klartext.
Was sie wortlos tut, das benennt er, das wertet und qualifiziert er:
Seht diese ungeheure Erwartung, die sie mir gegenüber hat. Seht
die Liebe, mit der sie mich überhäuft. Seht ihre überschwängliche
Dankbarkeit für das, was ich ihr im Namen Gottes zusage. Das nenn
ich Glauben!
Und dann wendet er sich der Frau unmittelbar zu und sagt mit großer
Bestimmtheit:
Womit auch immer Du Dich gegen Gott versündigt hast, das ist
Dir vergeben!
Diese Zusage ist so absolut und umfassend, dass er
nicht hinzufügen muss: Aber sündige hinfort nicht mehr. Das
wäre unangebracht; das wäre geradezu kleinlich und ein Zeichen
des Misstrauens. Das versteht sich von selbst. Stattdessen lässt
er sie mit der Friedenszusage gehen: Du bist nun heil. Gehe im Frieden!
– dem Frieden, den wir Menschen nicht machen und nicht einmal wirklich
begreifen können.
Nichts dergleichen wird dem Pharisäer gesagt. Er, der stirnrunzelnd
die ganze Szene beobachtet hatte, ist ins Abseits geraten. Eigentlich
will er ja auch nichts von Jesus, und Jesus drängt sich ihm nicht
auf. Simon fühlte sich auf der sicheren Seite, als er über
die Frau die Nase rümpfte, die vermutlich eine Prostituierte war
und gegen Geld Liebe gab. Nun aber ist sie es, die ohne Berechnung und
überschwänglich liebt. Und sie ist es, die unverfälschte
Liebe und Freundschaft erfährt. Der Pharisäer dagegen wird
unversehens als der erkennbar, der das ganze von der geschäftlichen
Seite aus ansieht; der meint, man könne seinen Glauben aufrechnen:
Ich bin ja soweit in Ordnung. Für den Rest bin ich natürlich
auch auf Vergebung angewiesen – wie alle Menschen. Aber dann reicht
es auch mit dem Glauben. Auch seinen Glauben muss man unter Kontrolle
haben. Mir liegt es nicht, soweit aus mir herauszugehen, wie es diese
Frau tut.

Manche von uns werden sich wiedererkennen in dem Pharisäer. Sie
werden sich hin und her gerissen fühlen: Ja, es ist schon beneidenswert,
wie spontan, wie bedingungslos sich diese Frau auf Jesus einlassen kann
– wie sie glaubt, wie sie liebt, wie froh und dankbar sie darüber
sein kann.
Aber ob wir das können, ob wir das wirklich wollen? Wir machen
uns schließlich so unsere Gedanken; wir haben unsere Fragen, unsere
Vorbehalte, unsere Erfahrungen. Natürlich wollen wir Christen sein,
aber daneben möchte man ja auch Mensch bleiben. Man hat seine Familie
und Freunde, seinen Beruf und seine Hobbies. Das passt nicht immer glatt
zusammen mit dem Glauben. Da muss man schon Kompromisse machen. Außerdem,
wir sind schon ziemlich gut, verglichen mit anderen. Ganz im Reinen
mit Gott – in Gedanken, Worten und Werken – das ist man natürlich
nie. Aber das ist auch nicht so schlimm. Das kriegen wir schließlich
geschenkt, aus Gnade. Wir müssen keine hundertprozentigen Christen
sein.
Ja, das ist wohl alles richtig. Aber wenn wir so reden und rechnen,
dann merken wir es selber: Es sind Ausreden. Wir wollen nicht, dass
uns Jesus zu sehr auf den Leib rückt. Uns ihm mit Haut und Haaren
verschreiben, das ist nicht unser Ding.
Vielleicht ist es ein bisschen so wie in einer langen Ehe. Man ist sich
ganz treu, man nimmt Rücksicht auf die Empfindlichkeiten des anderen,
ab und zu kommt es zu einer Geste der Aufmerksamkeit und Zuneigung –
einen Blumenstrauß, ein paar Zärtlichkeiten; Goldstaub über
dem Alltag. Soll man dies nun Liebe nennen? Ja und nein. Auf alle Fälle
ist es weit entfernt von dem beschwingten Verliebtsein, von der totalen,
der blinden Liebe, mit der alles einmal begonnen hat.
Muss man sich damit abfinden? Vielleicht gelingt es uns ja, – wenn wir
es denn wirklich wollen oder wenigstens doch zulassen, – vielleicht
gelingt es uns ja, ab und zu einmal wieder anzuknüpfen an das,
was uns damals bewegt hat und was wir selbst bewegt haben. In der ehelichen
Liebe. Aber auch im Glauben: Angestoßen vielleicht durch eine
Tagung, einen Kirchentag, ein Buch oder ein Bibelwort, einen Gottesdienst,
eine eindrucksvolle Begegnung oder auch durch eine schmerzhafte Erfahrung.
Denn es bleibt faszinierend und beneidenswert, wie selbstverständlich
manche Menschen ihren Glauben leben. Wie sie ganz darin aufgehen, wie
sie ungekünstelt darüber reden. Wie sie heiter und gelassen
einfach das tun, was getan werden muss, und manchmal noch einiges mehr.
Wie kommen sie dazu? Wie können sie dabei bleiben? Oft sind es
noch ganz junge Leute, andere sind alt und weise; manchmal sind es ganz
einfache Menschen, andere sind belesen und studiert; sie kommen aus
unseren Volkskirchen oder Freikirchen, nicht selten sind es Christen
aus der Dritten Welt, aus den sog. Jungen Kirchen. Fast immer leben
sie in sehr lebendigen Gemeinschaften. Sie stehen im Beruf und haben
Familie. Manche haben ihre eigene Berufung – als Bruder in Taizé,
als Schwester in einer Lebensgemeinschaft mitten in der Anonymität
der Großstadt, als Arbeiterpriester, als Entwicklungshelferin
… Sie gehen ihren Weg aus starker Überzeugung – wie jene Pastoren
aus Frankreich: Unverhofft sind sie auf Jesus gestoßen. Er hat
sie tief beeindruckt. Sie konnten, sie wollten nicht anders als ihm
folgen.
Nein, auch sie sind keine hundertprozentigen Christen. Aber sie feilschen
nicht mit Gott. Sie sind nicht auf einen gewissen Abstand bedacht. Sie
haben sich bedingungslos auf ihn eingelassen.

 

Wilhelm v. der Recke
Arno-Pötzsch-Platz 1
27472 Cuxhaven

 

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