Lukas 7, 36-50

Lukas 7, 36-50

 

Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


 

11. Sonntag nach Trinitatis,
26. August 2001
Predigt über Lukas 7, 36-50, verfaßt von Rolf Wischnath


Evangeliumslesung und Predigttext

Wir hören als Evangeliumslesung die Erzählung von „der
Großen Sünderin“ und dem Pharisäer Simon und ihrer
großen Rechtfertigung. Sie steht im siebten Kapitel des Lukasevangeliums.
Dies ist zugleich der Predigttext:

36 Einer der Pharisäer aber bat Jesus, bei ihm zu essen. Und Jesus
ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch.

37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin.
Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers,
brachte sie ein Glas mit Salböl
38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an,
seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren
ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und
salbte sie mit Salböl.
39 Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach
er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so
wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt;
denn sie ist eine Sünderin.
40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu
sagen. Er aber sprach: Meister, sag es!
41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert
Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig.
42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von
ihnen wird ihn am meisten lieben?
43 Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt
hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.
44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese
Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für
meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße
mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet.
45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen
bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen.
46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine
Füße mit Salböl gesalbt.
47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, darum
hat so viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.
48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben.
49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei
sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?
50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin
in Frieden!

Predigt

I

Liebe Gemeinde, an einem Tisch passiert die Geschichte mit „der
Großen Sünderin“. Nicht mit allen setze ich mich an
einen Tisch. Nicht mit allen gehe ich Essen, nur mit denen, deren Gemeinschaft
ich suche. Und wer an meinen Tisch kommt, von dem erwarte ich etwas.
Das war damals in Israel zur Zeit Jesu noch bedeutsamer als heute: Wer
jemanden zum Essen an seinen Tisch lud, der bezeugte ihm hohe Ehre.
Zugleich stellte er den Gast unter seinen persönlichen Schutz.
Tischgemeinschaft war somit Zeichen menschlicher Verbundenheit und Gewährung
des Friedens, Ausdruck des Vertrauens und der Geschwisterlichkeit. Ja,
noch mehr:

Wenn die Mahlteilnehmer sich zu Tisch begeben hatten, nahm der Hausvater
in Israel das Brot und sprach darüber stellvertretend für
alle das Dankgebet. So wurde die Tischgemeinschaft zum Verbund aller
miteinander vor Gott und mit Gott.

Es ist darum etwas besonderes, wenn es heißt: „Ein Pharisäer
bat Jesus, bei ihm zu essen.“ Es ist die Besonderheit der Bitte
um Tischgemeinschaft, die Jesus angetragen wird. Mit dieser Bitte bringt
der Pharisäer dem Mann aus Nazareth einen Vertrauensvorschuß
entgegen. Er will mit ihm seinen Tisch – und d.h. ein Hauptstück
seines Lebens – teilen. Er möchte ihn hineinnehmen in seine Lebens-
und Gottesgemeinschaft.

„Und Jesus ging in das Haus des Pharisäers und setzte sich
zu Tisch.“ Jesus nimmt die Einladung an und lässt sich so
ein auf die Bitte des Pharisäers nach Gemeinschaft. Jesus in der
Lebens- und Gottesgemeinschaft mit einem Pharisäer? Ist das nicht
ein Gegensatz wie Feuer und Wasser? Es ist eine schlimme Sache, dass
auch unter Christen das Wort „Pharisäer“ zum Schimpfwort
werden konnte, mit dem man Menschen abkanzelt, die man für unerträglich
selbstgerecht hält. Dadurch ist für uns „der Pharisäer“
zur Karikatur eines Heuchlers geworden. Die Pharisäer aber waren
in Israel Ehrenmänner:

Sie bildeten eine Bruderschaft von Männern verschiedener Berufen.
Sie hatten sich aus Protest zusammengeschlossen, weil in der gesellschaftlichen
Verwirrung im Volk die Gebote Gottes nicht genug beachtet wurden. Dagegen
wollten sie auch im Alltag, auch in den kleinen Begebenheiten streng
nach den alten Werten anständig leben. Sie wollten die Welt, mindestens
ihre Welt, in Disziplin und Ordnung halten. Deshalb stützten sie
sich auf die bewährten Gebote Gottes, deren Sinn sie in den verschiedensten
Lebenslagen festzulegen wussten.

Wenn ich den Pharisäer vergleichen wollte mit Menschen unserer
Tage, so denke ich an den Konservativen im besten Sinne des Wortes.
Es gibt sie noch – in allen demokratischen, wertorientierten Parteien
und Gruppierungen, – auch in der Kirche. Der „Konservative“,
der Bewahrer der Werte und Ordnungen ist kein Reaktionär und kein
Spießbürger, zu dem ihn die Propaganda oft macht, erst recht
kein selbstgerechter Heuchler, sondern der aufrechte und geradlinige
Bürger, der Respekt hat z. B. vor den preußischen Tugenden
unserer Vorfahren, der Disziplin- und Zuchtlosigkeit nicht ertragen
kann, der ehrlich bleibt in den Geschäften und Alltagsdingen, der
aus Idealismus, aus humanistischer oder christlicher Verantwortung die
Dinge beurteilt und der sich auch in seinem privaten Leben nach diesen
Normen ausrichtet. In unserem Land haben wir eher zu wenig als zu viele
dieser Wertkonservativen, dieser Ehrenmänner und -frauen.

In das Haus eines solch anständigen Menschen – Simon heißt
er in unserer Geschichte – tritt Jesus ein. Und indem er eintritt und
sich an dessen Tisch setzt, bringt Jesus zum Ausdruck, dass auch er
ihn anerkennt in seinem Wertebewußtsein und seiner Ehrenhaftigkeit.

II

„Und siehe, in der Stadt war eine Frau, die war eine Sünderin.“-
„Und siehe . . . . .“ – wo es Anstand und Zucht, Tugend und
Ehre gibt, da gibt es auch das Gegenteil. Hier in der Erzählung
ist es eine Frau. Sie ist stadtbekannt und ein Wort genügt für
sie -„eine Sünderin“. „Die Große Sünderin“
hat man sie dann in der Geschichte der Auslegung dieser Geschichte genannt
und dabei genau gewusst, worin ihre Sünde bestand: Ein Mensch,
so heruntergekommen, dass er seinen Körper für Geld zur Verfügung
stellte; eine Prostituierte, eine Hure, Angehörige eines „Berufsstandes“,
den viele „das älteste Gewerbe der Welt“ nennen, von
dem der anständige Bürger nur hinter vorgehaltener Hand oder
im zotigen Witz spricht und der doch keinen Tag existieren könnte,
wenn nicht unzählige mehr oder weniger finanzkräftige männliche
Bürger dessen Berufsausübung verlangten und bar bezahlten.

Die Erzählung im Lukasevangelium allerdings sagt uns nichts darüber.
Keine Sex- und Skandalgeschichte gibt’s zu hören. Worin konkret
die „Sünde“ dieser Frau bestanden hat, wissen wir nicht.
Im Dunkeln bleibt, was ihre „Sünde“ war. „Die war
eine Sünderin“, heißt es nur“ – und das meint,
sie war ein Mensch, dem durch seine Taten die Gottesbeziehung verloren
und dem das Wohlgefallen entzogen war. Unter der Sünde, in ihrer
Trennung von Gott, hatte sie ihren Glanz verloren. Angst und Hoffnungslosigkeit
beherrschten sie. Und die Zukunft war ihr verschlossen. So war sie sich
selbst und den Mitmenschen nichtswürdig geworden. Und von daher
schlug ihr auch die ganze Verachtung des anständigen Simon entgegen.

Um so unfasslicher aber ist nun, was diese Frau sich dennoch getraut
hat, zu welcher ungewöhnlichen Handlung die Frau trotz ihrer Sünde
und trotz dieser Verachtung die Freiheit hatte:

„Als die nämlich erfuhr, dass Jesus im Hause des Pharisäers
zu Tisch saß, brachte sie ein Fläschchen mit Salböl,
trat von hinten an ihn heran und fing an, seine Füße mit
ihren Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen,
und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl.“
Dieses überschwängliche Tun der Frau ist schlechterdings ungewöhnlich.
Sie vergisst, scheint es, ihre Umgebung völlig und gerät außer
sich. Die peinlich betretenen Blicke der von ihr abrückenden „besseren
Gesellschaft“ können sie nicht hindern, sich in ihrer Zuneigung
und Dankbarkeit zu Jesus gehen zu lassen. Sie weint und überschüttet
die nackten Füße Jesu mit ihren Tränen und kostbarem
Salböl. Kühn und hemmungslos, leidenschaftlich und herzbewegend
ist ihre Zuneigung, die Jesus später ihre „viele Liebe“
nennen wird, deren Ursache ihr „Glaube“ sei. Ich brächte
das so nicht fertig. Zu solchen hinreißenden Liebesbezeugungen,
zu einer so tiefgreifenden Dankbarkeit treibt mich mein Glaube nicht.

Und nicht nur daran wird mir deutlich, wie ich selber und wie vermutlich
viele von uns im Blick auf diese Geschichte eher dem Pharisäer
Simon gleichen – und nicht der Frau:

III

Schauen Sie hin, liebe Gemeinde, dieser Mann ist ja kein offenkundig
schlechter Mensch, so wie wir uns selber kaum für einen schlechten
Menschen halten. Er lebt wertorientiert und aufrichtig, wie wir hörten.
Und darin gleichen ihm bis heute viele Christen. Aber warum hat ein
solcher Mensch es im Unterschied zur stadtbekannten Sünderin mit
Jesus so schwer? Eben darum, weil er sich selber so gut und vortrefflich
einschätzt. Simon ist der Mensch, der auf sich selbst baut, der
sich aus sich selbst heraus verstehen und in sich selbst gründen
und bestimmen will. Er vertraut auf den eigenen Wert. Er weiß,
was er wert ist. Er geht aufrecht, weil er sich selbst für aufrichtig
hält. Er zelebriert den Selbstwert: „Ich bin ich. Ich bin
wer.“ Im Grunde seiner Existenz kennt Simon nichts als sich selbst.
Selbst die Tischgemeinschaft mit Jesus gerät ihm zu einer Unternehmung
der Selbstbestätigung..

Achten wir darauf: Der anständige Simon redet wenig in dieser
Erzählung. Und wenn er es tut, spricht er hauptsächlich mit
sich selbst. Die Frau, die plötzlich an seinem Tisch erscheint,
ignoriert er. Er nimmt sie zwar wahr, aber er ist viel zu vornehm, er
hebt sich viel zu sehr ab von den „Unwerten“, um sich mit
so einer Person auseinanderzusetzen. Darum wirft er sie auch nicht hinaus.
Er will kein Aufsehen. In seinen Augen zählt die „Dame“
nicht. Er weiß, dass sie eine Sünderin ist. Das genügt
ihm.

Sein Interesse gilt ganz Jesus. Von ihm erwartet er noch etwas. Und
er setzt offenbar voraus, dass auch Jesus grundsätzlich nicht anders
denkt als er, dass auch er der Frau gegenüber auf Distanz geht
und ihn, Simon, so in seinem Selbstwertgefühl, in seinen Ansichten
bestätigt. Als dies nicht geschieht, als Jesus die Frau nicht wegweist,
sich nicht vor ihr zurückzieht, ja nicht einmal die Füße
anzieht, um sie zu unterbrechen bei ihrem peinlich-eigenartigen Tun,
da ist Simon auch schon fertig mit Jesus. Er fällt sein Urteil:
„Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, was für
eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin“,
so denkt er bei sich. Es ist bemerkenswert, dass Simon Jesus nicht zur
Rede stellt und ihm sagt, was ihn stört. Aber dann müsste
er ja auch sich selbst befragen lassen, und das könnte ihn in Frage
stellen. So verzichtet er darauf, eben weil er seine Selbstbegründung,
seine Selbstgewissheit nicht gefährden will, weil er sein Urteil
schon gefällt und sich sein Bild über Jesus schon gemacht
hat:

Er verurteilt ihn, weil Jesus sich mit „der da“, mit der
Sünderin abgibt und so deutlich wird, dass er sie annimmt und ihr
das Leben neu schenkt. Mit anderen Worten: Simon verurteilt Jesus, weil
Jesus „die Große Sünderin“ aufrichtet – auch vor
Simon – und sie in ihrer Würde wieder ins Recht setzt. Noch kürzer
gesagt: Simon will nicht, dass Jesus der Frau die Sünden vergibt,
ihre Gottesbeziehung wieder in Ordnung bringt und ihrem Leben neues
Recht gibt, Lebensrecht. Und darum verschließt er sich – vor Jesus
und vor der Frau.

IV

Ich finde es bewegend zu sehen, wie Jesus sich um den sich verschließenden
Pharisäer Simon weiterhin bemüht. Er will diese Mauer der
Überheblichkeit und Selbstbezogenheit durchbrechen. Er will den
auf sich selbst bezogenen, den in sich selbst verkrümmten Simon
befreien aus seiner Ich-Bezogenheit, seiner Egomanie. Er will auch ihm
die Sünden vergeben, will auch ihn rechtfertigen. Und er tut das
auf eine einfache Weise:

„Da wandte sich Jesus zu ihm und sagte: Simon, ich habe dir etwas
zu sagen. Er antwortete: Meister sprich! Ein Gläubiger hatte zwei
Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere
fünfzig. Da sie es nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden.
Wer von beiden wird ihn nun am meisten lieben?“

In diesem knappen Bild ist die ganze Botschaft Jesu wie in einem Brennglas
gebündelt. Jesus zeigt hier, wie es um Gott und den Menschen und
um ihr Verhältnis bestellt ist. Was der Mensch hat und kann, ist
ihm geliehen und von Gott anvertraut. Was wir sind und haben, sind wir
nicht aus uns selbst, sondern aus der Schöpferkraft und Zuwendung
Gottes: wir leben „aus Gnade“. Das ist der Grund unserer Existenz,
das ist die Gabe des Lebens. Im Umgang mit dieser Gabe aber ist jeder
und jede von uns in unbezahlbare Schulden geraten. Warum? Weil jeder
und jede im Herzen zunächst auf sich selbst baut und sich letztlich
nur auf sich selbst verlässt. Das Herz – unser Herz – ist das Personzentrum,
die Götzenfabrik, in der der in sich selbst verliebte Mensch am
Selbstbildnis und am Selbstwert bastelt und Gott, seinem gnädigen
Schöpfer, keinen Raum gibt. Das ist die Sünde, die Ur-Sünde.
Und in Folge dieser Sünde sind wir alle in unbezahlbare Schulden
gekommen. Der Mensch, der sich von Gott löst, wird an Gott schuldig
(und an seinen Mitmenschen) – so sehr, dass er davon aus eigener Kraft
nicht loskommt.

Gewiss, es gibt unter Menschen einen Unterschied in der Größe
der Verschuldung: „fünfhundert“ und „fünfzig
Silbergroschen“, das ist der Unterschied – wie eins zu zehn. Und
der ist für den Pharisäer Simon und für uns so wichtig.
Und er wird von Jesus auch nicht bestritten. Aber dieser Unterschied
wird belanglos: in der Gemeinsamkeit, die Schulden nicht mehr bezahlen
zu können: in der Gemeinsamkeit ihrer Angewiesenheit auf die Gnade.
Ja, dieser Unterschied kehrt sich um, wenn man auf die Liebe als die
dankbare Antwort der beiden Schuldner auf den gnädigen Schuldenerlass
blickt: „Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben; darum hat sie
viel Liebe erwiesen. Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“,
sagt Jesus.

Ich will das noch einmal unterstreichen: Das Gleichnis Jesu verbreitet
keinen Nebel, in dem alle Katzen grau sind nach dem Motto: „Wir
sind alle allzumal Sünder ….“. Nein, Schuld und Schuld bleiben
unterschieden. Es ist nicht gleichgültig, ob man z.B. als geradliniger,
aufrichtiger Mensch lebt oder verlottert und haltlos, unmoralisch und
durchtrieben. So hat der Pharisäer Simon vor jener Frau den Vorzug
eines durch die Gebote Gottes bewahrten und vor der schreienden, öffentlich-offensichtlichen
Schuld behüteten Lebens. Aber genau dieser Vorzug kann für
ihn, wie für jeden von uns, zur höchsten Gefährdung werden:
nämlich dann, wenn man meint, man könnte von diesem Vorzug
leben und durch ihn zu einem Vorsprung vor anderen Sündern kommen
und dadurch vor Gott bestehen. Niemals! Wir leben allein und einzig
von der Vergebung unserer in allen Fällen unbezahlbaren Schuld.
Und darum stehen wir in der Gemeinschaft und der Solidarität, die
alle Schuldner, alle Menschen vor Gott miteinander verbindet.

„Die große Sünderin“ aber ist dem anständigen
Simon darin voraus: Sie weiß eindeutig, dass sie angesichts ihrer
allseits offenkundigen großen Schuld nur von der Vergebung Gottes
leben kann, während Simon im Zwielicht der Anmaßung steht,
die sich auf seine eigene Leistung meint verlassen zu können. So
lebt Simon im Irrtum: in der Scheinwelt seines Ansehens, seiner eigenen,
der menschlichen, der aktiven, der moralischen, der gesellschaftlichen
„Gerechtigkeit“. Die Frau aber lebt im Ansehen Gottes, in
der Rechtsetzung Gottes, in der Rechtfertigung aus Gnade, wie sie durch
Jesus für sie erschlossen ist. Gerade der „fromme“ Pharisäer
exerziert ihr vor, dass für sie in jener anständigen Welt
der Wert-vollen und Wertkonservativen kein Raum ist: er lässt sie
fallen. Dort hat sie keine Existenzmöglichkeit. Das Einzige, was
die Frau hält, ist die Zuwendung Gottes, wie sie sie im Zuspruch
Jesu wahrnimmt: „Dir sind deine Sünden vergeben! Dein Glaube
hat dir geholfen! (Nämlich jener Glaube, der von sich selber gar
nichts mehr, dafür aber von Gott alles erwartet.) Geh hin in Frieden!“
Und so geht sie hin „im Frieden“. Wie und wohin geht Simon?
Es wird nicht berichtet. Darum nicht, damit Du und ich die-Frage stellen
und die Antwort gelten lassen, die Jesus der Frau sagt, – diese Antwort
auch für uns gelten lassen -: „Dein Glaube hat Dir geholfen!
Geh hin in Frieden!“ Amen.

Generalsuperintendent Dr. Rolf Wischnath (Cottbus)
E-Mail:
generalsuperintendent.cottbus@t-online.de

 

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