Lukas 9, 57-62

Lukas 9, 57-62

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


3. Sonntag der
Passionszeit, Okuli, 18. März 2001

Predigt über Lukas 9, 57-62,
verfaßt von Dietz Lange


Liebe Gemeinde!

„Ach wie war in Köln es doch vordem mit
den Heinzelmännchen so bequem!“ Ich weiß nicht, ob Ihnen das
alte Kinderbuch bekannt ist, aus dem dieser Vers stammt. Es geht darum, dass in
grauer Vorzeit eine geheimnisvolle Gruppe von Heinzelmännchen bei Nacht
geräuschlos und sauber alle lästigen Arbeiten in der Stadt erledigte.
Das ging so lange gut, bis ein neugieriger Mensch das ungeschriebene Gesetz der
Heimlichkeit durchbrach und Licht anmachte. Daraufhin verschwanden die
Heinzelmännchen auf Nimmerwiedersehen.

An dieses Märchen erinnern mich manche
Gespräche mit Menschen, die so alt sind wie ich oder noch älter. Da
kommt oft die Rede auf die „gute alte Zeit“, als das Fernsehen noch
Niveau hatte, als einen im Zug noch keine handy-Unterhaltung wildfremder
Menschen störte, und nicht zuletzt als die Kirche noch eine Heimat
für die Menschen war. Damit Sie jetzt gar nicht erst versuchen, mich
misszuverstehen, indem Sie anfangen zu raten, wen ich wohl gemeint habe,
füge ich gleich hinzu: Ich ertappe mich auch selbst manchmal bei solchen
Gedanken. Das muss wohl so eine Art Pensionärskrankheit sein. Das stellt
sich schnell heraus, wenn man einmal nachfragt, wann das denn wohl gewesen sein
soll, die „gute alte Zeit“. Vielleicht die ersten Jahre nach dem II.
Weltkrieg, die meine Generation in der Jugend geprägt haben? Da gab es
einen wenn auch kurzen kirchlichen Aufbruch, der verlässliche Orientierung
versprach nach dem riesigen ideologischen Betrug des Dritten Reiches. Aber gute
alte Zeit? Zerstörte Städte, Hunger und schlecht geheizte Wohnungen,
keine absehbaren Zukunftschancen: Wer wollte sich das wohl
zurückwünschen? Und die Kirche hat damals wohl allzu sehr versucht,
in der Vergangenheit wieder anzuknüpfen, vor 1933, so wie die Gesellschaft
in jener Zeit überhaupt. Das konnte nicht von Dauer sein.

Es ist also nichts mit dem sentimentalen
Rückblick von uns älteren Damen und Herren. Bloß eine optische
Täuschung, bedingt durch die wachsende Unfähigkeit, mit den neuen
Entwicklungen Schritt zu halten. Es sieht so aus, als ob auch Jesus das meint.
In der biblischen Erzählung, die wir gerade gehört haben, geht es um
Menschen, die ihn auf seinen missionarischen Wanderungen durch Palästina
begleiten sollen. Auch sie sollen nicht an der Vergangenheit kleben: „Wer
seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geeignet
für das Reich Gottes“, heißt es da zum Schluss. Ist das aber
nicht doch zu pauschal? Kommt es nicht heute sehr darauf an, die Vergangenheit
im Blick zu behalten und aufzuarbeiten? Und wenn die Alten sich vielleicht
manchmal zu sehr in ihren Erinnerungen verlieren – ihre Erfahrung könnte
doch nützlich sein, gerade in einer Kultur, die wie die unsrige sich
völlig auf einen Kult der Jugendlichkeit verlegt hat und die Alten als
Zivilisationsmüll in die Heime abschiebt. Aber Jesus geht noch viel
weiter. Das sieht man an der Art, wie er einen anderen abfertigt, der erst noch
seinen Vater beerdigen will. „Lass die Toten ihre Toten begraben und komm
mit“, bekommt er zu hören. Das klingt brutal, fast unmenschlich.
Verbietet Jesus da nicht etwas, was selbstverständliche Pflicht ist? Diese
Abfuhr ruft den spontanen Protest wohl nicht nur von uns Älteren hervor.
Immer wieder einmal hören wir heute von Beerdigungen, bei denen niemand
dem Toten das letzte Geleit gegeben hat. Solche Nachrichten verstärken in
uns das Gefühl einer letzten Ungeborgenheit, das der Gedanke an den Tod in
uns auslöst. Ist es da nicht herzlos von Jesus, wenn er jemanden, der
für eine richtige Beerdigung eines lieben Angehörigen sorgen will,
kurzerhand selber zu den Toten rechnet?

Solche und ähnliche Fragen werden die
Menschen damals auch auf den Lippen gehabt haben. Jesus hat sie provoziert, so
wie er uns heute auch provoziert. Das war bei ihm nicht einfach orientalische
Übertreibung, sondern er will uns damit zum Nachdenken zwingen. Lassen Sie
uns die Herausforderung annehmen und die drei Begegnungen in unserer kurzen
Erzählung näher betrachten.

Da spricht zuerst einer Jesus an, der spontan und
ohne jede Einschränkung bereit ist, mitzukommen und mitzuhelfen, um
Menschen für seine Sache zu gewinnen. Wir müssen uns diesen Mann wohl
sehr jung vorstellen. Er ist restlos begeistert von Jesus, ein Fan, wie wir
heute sagen würden. Der Gott, von dem Jesus spricht, der den Menschen ganz
fordert, den vollen Einsatz für Liebe und Gerechtigkeit, für
Menschenrechte und Frieden verlangt, sogar Liebe zu den Feinden, das ist ganz
nach dem Herzen dieses Mannes. Und dass dieser Gott zugleich den Menschen
verspricht, sie in seiner Liebe zu behüten, komme was mag, das hat ihm Mut
gemacht. Da will er dabei sein und mitmachen. Jesus müsste sich eigentlich
darüber freuen, sollte man meinen. Von solchen Leute müsste es mehr
geben, die sich mit so großer Energie ins Zeug legen. Jesus aber sagt
ihm: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel
haben Nester, aber der Menschensohn hat keinen Ort, an dem er sich
ungestört hinlegen kann.“ Er weist den jungen Mann nicht einfach ab.
Aber er gibt ihm zu bedenken: „Mach dir klar, worauf du dich da
einlässt. Jugendliche Begeisterung ist etwas Schönes, auch
Notwendiges. Aber sie verpufft auch leicht. Den Glauben an Gott zu bezeugen,
von dem ich spreche, mit Worten und Taten, das ist etwas anderes als ein
lustiges Abenteuer. In einer diesem Glauben immer fremderen Welt sind Konflikte
programmiert. Da kann man nicht jedes Wochenende nach Hause fahren und sich von
Mutti die schmutzige Wäsche waschen lassen. Für den christlichen
Glauben einstehen, das geht auch nicht in einer Kuschelkirche, in der man unter
sich ist und alle Problemfälle sorgfältig ausgesperrt hat.
Christlicher Glaube verlangt zwar die geradezu kindliche Ergebenheit
gegenüber Gott, aber er verlangt sie von Erwachsenen, die mit beiden
Beinen in der Welt stehen. Glauben heißt, sich auf Gedeih und Verderb der
Liebe Gottes ausliefern, aus ihr sein Leben gestalten, sich auf sie verlassen –
auch und gerade dann, wenn alle menschliche Unterstützung versagt. Da ist
man nicht selten allein und unverstanden. Willst du das auf dich nehmen?“
Es ist uns nicht überliefert, was der junge Mann geantwortet hat. So
reicht er die Frage an uns weiter: Sind wir bereit dazu?

Dann ist da der Zweite, von dem wir schon kurz
gesprochen haben, der noch seinen Vater begraben will, bevor er Jesus folgen
will. Auch ein Mensch, dem wir unsere Sympathie nicht versagen können. Es
ist ja wirklich keine billige Ausrede, was er vorbringt. Wieso weist Jesus ihn
trotzdem zurecht? Sicher will er nicht das Gebot außer Kraft setzen, dass
wir unsere Eltern ehren sollen. Würde er heute leben, so würde er
bestimmt auch harte Kritik daran üben, wie wir mit alten Menschen
umspringen. Aber er nimmt Stellung – sicher in überspitzter Form, um es
richtig klar zu machen – gegen eine rückwärts gerichtete
Frömmigkeit. Eine Religion, für die das Höchste die Pietät
und Traditionspflege ist, das ist das Christentum nicht. Gewiss hat Jesus die
Tradition seines Volkes geachtet. Aber kein Geschichtsbewusstsein und keine
Pietät darf die Aufgabe behindern, die Liebe Gottes den Menschen von
heute nahezubringen und sie heute durch Zuwendung und Zupacken zu
praktizieren. Damit wendet sich Jesus jetzt nicht so sehr an die Adresse
begeisterter junger Anhänger – obwohl es unter denen manchmal auch
verblüffend konservative Menschen gibt -, sondern mehr an uns Ältere,
die eher in der Vergangenheit verwurzelt sind. Hier ist Jesus von schneidender
Schärfe: Die sich in die Vergangenheit flüchten, gehören schon
zu den Toten; sie sind tot für Gott, dem sie sich versagen. Das gilt auch
dann, wenn es die christliche Tradition ist, an die sich jemand klammert. Wer
ein wenig bibelfest ist, den erinnert das an die Geschichte von Lot im Alten
Testament, wie der aus der Stadt Sodom herausgeführt wurde. Entgegen allen
Warnungen schaute seine Frau sich bei der Flucht um – und erstarrte zur
Salzsäule. Flucht in die Vergangenheit ist keine harmlose, verzeihliche
menschliche Schwäche, sondern Flucht vor Gottes Anspruch, der uns in der
Gegenwart für sich haben will. Zugleich ist es eine Absage an Gottes
Liebe, bei der allein wir geborgen sein können.

Schließlich ist noch von einem dritten
Menschen die Rede. Der bietet Jesus aus freien Stücken an, ihm zu folgen
und ihm behilflich zu sein. Er will sich nur noch schnell von seiner Familie
verabschieden. Nicht einmal das will Jesus zulassen: „Wer seine Hand an
den Pflug legt und sieht zurück, der ist für das Reich Gottes nicht
geeignet.“ Jesus will die Anhänglichkeit dieses Mannes an seine
Familie nicht einfach abwerten. Aber es gibt Berufungen Gottes, denen selbst
die eigene Familie nicht im Wege stehen darf. Im Bild gesprochen: Das
Stück Furche, das der Pflügende schon gezogen hat, ist nicht
unwichtig – im Gegenteil. Jesus will nicht eine Eintagsfliegenexistenz von uns,
kein süchtiges Haschen nach Augenblickserfüllung oder ein Zeit und
Stunde vergessendes Versinken in virtuellen Welten. Denn dabei ginge nicht nur
die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft verloren. Aber: es geht darum, die
Furche, an der wir arbeiten, mit ganzer Konzentration zu ziehen. Unser Leben im
Auftrag Gottes zu gestalten, dazu gehört, dass wir hingucken, was wir tun.
Blicken wir zurück – oder auch in die Luft -, so wird die Furche schief
und krumm; das Leben misslingt. Das ist eine sehr nüchterne Anweisung zum
Ende der drei Begegnungen. Glaube ist keine kopflose Begeisterung, die
irgendwelchen Utopien nachläuft und sie mit dem Reich Gottes verwechselt.
Das hat Jesus dem jungen Anhänger klar gemacht. Glaube ist auch keine
Traditionspflege und sich Klammern an hergebrachte Formen des Christlichen. Das
gilt uns Älteren. Glauben heißt, in jeder Lage fest auf Gott
vertrauen – und dann das tun, was die Liebe an ganz alltäglichen Dingen
von uns fordert. So wichtig auch die menschlichen Bindungen sind, in denen wir
stehen – das letzte und tiefste Vertrauen kann nur Gott gehören.

Der Jesus, der uns in den geschilderten drei
Begegnungen entgegentritt, macht auf Sie vielleicht einen ungeheuer strengen
Eindruck. Er scheint gar nicht in unsere Zeit zu passen, die viel eher ein
sanftes und freundliches Bild von ihm hat. Aber dann werden wir dieses Bild
wohl korrigieren müssen. Im Übrigen ist es gar nicht so sehr seine
persönliche Strenge, sondern die Strenge Gottes selbst, der den Menschen
unerbittlich fordert. Gott will uns ganz für sich haben, ohne Flucht in
jugendliche Schwärmerei und ohne Ausweichen in eine angeblich
schönere Vergangenheit. Das passte schon damals nicht in die Zeit. Aber es
gehört zu Gottes Recht auf unser Leben.

Daran gibt es nichts abzumarkten, so sehr wir in
unserer Alltagspraxis immer wieder zu Kompromissen gezwungen sind. Und doch ist
das nur die eine Seite. Wichtiger noch ist die andere. Der Verzicht auf ideale
Zukunftsbilder, auf vergoldete Vergangenheit und auf die Sicherung durch
gesellschaftliche Konventionen bedeutet auch eine Befreiung. Denn damit sind
wir ganz offen für Gottes Zuwendung. Durch die Strenge Gottes und durch
seine Fremdheit scheint seine Freundlichkeit hindurch. Darum sind wir nicht
mehr gezwungen, uns an der Weltverbesserung zu übernehmen oder uns in der
Tradition zu verbarrikadieren. Im Vertrauen auf Gottes schützende
Gegenwart können wir in aller Ruhe unsere Furche ziehen, ohne uns
zwanghaft umgucken zu müssen. Das ist Gottes Werk, nicht unseres. Durch
den Ruf Jesu macht er uns selbst geeignet für sein Reich.

Amen.

Prof. Dr. Dietz Lange
Platz der
Göttinger Sieben 2
37073 Göttingen
Tel. 0551 / 75455


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