Markus 12, 28-34

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Markus 12, 28-34

Du sollst Gott, deinen Herrn lieben von ganzem
Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und all deinen Kräften,
und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Dieses doppelte Liebesgebot ist wohl die Summe des Christentums. Darum
geht es in unserem Leben, wie es Jesus dem Schriftgelehrten gegenüber
ausdrückt.

Aber dieses Sowohl als auch: Gott lieben von ganzem Herzen, ganzer
Seele und ganzem Gemüt und den Nächsten wie sich selbst – da
werden viele sagen, daß für sie das Christentum nur im zweiten
Gebot enthalten ist, dem Gebot der Nächstenliebe. Das ist das Entscheidende,
sagen sie, daran müssen wir heute festhalten. Der Glaube an Gott
aber ist eher als ein mythologischer Rest zu betrachten oder eine religiöse
Auffassung, die wir nicht mehr in der gleichen Weise teilen können.
Also: Wir sollen einander ordentlich behandeln. Wir sollen unserm Mitmenschen
Respekt entgegenbringen. Aber die Sache mit Gott ist Privatsache. Das
ist ein Wort, mit dem wir möglicherweise etwas anfangen können,
vielleicht aber auch nicht.

Dieses humanistische, wenn auch vom Christentum geprägte Denken
ist mir oft begegnet – bei Konfirmanden, Taufeltern, Brautleuten und
vielen anderen, denen ich begegnet bin.

Aber ich glaube, und darüber möchte ich heute etwas sagen,
daß die beiden Gebote eng miteinander zusammenhängen. Ich
glaube, daß unsere Auffassung vom Menschen ganz von unserem Gottesbild
abhängt. Und deshalb ist es auch nicht möglich, das Verhältnis
zu Gott vom Verhältnis zum Nächsten zu trennen.

Zunächst: Können wir überhaupt verstehen, wer unser
Mitmensch ist – ohne Gott? Es ist ja klar, daß wir heute viele
biologische und psychologische Theorien haben, die je in ihrer Weise
den Menschen beschreiben. Aber verstehen wir deshalb, was der Mensch
für ein Wesen ist? Sind das nicht eben nur Theorien, Beschreibungen,
bei denen es uns nie in den Sinn kommt, sie auf Menschen anzuwenden,
die wir liebhaben? Wir werden in einer biologischen Theorie nie etwas
Entscheidendes darüber sagen können, wer der ist, den wir lieben.
Da müssen wir uns einer Sprache bedienen, die in irgendeiner Weise
religiös ist.

Und man könnte sich ja auch die Frage stellen: Wie würden
wir einander sehen, wenn wir uns nun vorstellten, daß wir kein
Christentum hätten oder eine andere Religion? Wenn alle Kirchtürme
verschwunden wären und alle religiöse Traditionen, auch die
Kritik an ihnen, nicht mehr da wären?

Der verstorbene dänische Theologe Helmut Friis hat einmal ein
Essay mit dem Titel „Gott“ geschrieben, und dort stellt er
sich vor, daß einige Menschen auf dem Mond sitzen, ohne von Gott
zu wissen oder ohne zu wissen, was Glaube oder Atheismus ist. Er fragt:
Wie würden sie die Erde sehen? Da würden, sagt er, Untertöne
auftauchen. Wenn sie eines Tages mit ihrem Fernglas den blauen Planeten
sehen würden, die Erde, würden sie sich wundern. Sie würden
damit anfangen, die Erde zu verehren. Sie würden allmählich
ihr Leben im Lichte des blauen Planeten sehen, mit Augen, die gefärbt
sind von seinen gesättigten, auratischen Nuancen. Die Erde würde
ihnen als ein lebendiges Wesen erscheinen im Verhältnis zum toten
Mond, wie ein Auge im Gegensatz zur Blindheit des Mondes, das sie ansieht.
Jeden Abend, wenn die Sonne untergegangen war und der blaue Planet den
leeren Raum erleuchtete, würden sie Loblieder auf ihn singen, ja
ihre Hoffnung auf ihn richten. Und sie würden allmählich ihren
Mond als den Ort erleben, der nur ein wenig von dem blaugrünen Wesen
in sich hat. Er würde ein schwacher Abglanz dessen sein, was auf
dem blauen Planeten ist, wo ein Stein nicht nur ein Stein ist und ein
Gesicht nicht nur ein hautbedeckter Schädel, sondern ein Bild von
etwas, was anderswo noch blauer und lebendiger ist. Sie würden jede
Freude, die sie spürten, als Vorfreude zur eigentlichen Freude draußen
im Raum erfahren. Sie würden sich fühlen, als hebe sich die
Schwerkraft auf, die Haare erheben sich, sie werden leichter, durchsichtig,
bläulich. Und als sich einer von ihnen verliebt, stellt sich Helmut
Friis schließlich vor, flimmert es athmosphärisch vor seinen
Augen, er sieht das Blau in ihren Augen und sagt: „Du kommst von
dem blauen Planeten“.

Das ist natürlich ein kurioses Gedankenspiel, sich denkende Bewußtsein
auf dem Mond vorzustellen, die unser Leben hier auf Erden nicht kennen.
Aber das, was Helmut Friis damit sagen will, ist ja, daß wir uns
selbst und einander ganz natürlich als Spiegelungen von etwas erleben,
das größer ist. Auf dem Mond sind wir gleichsam von blauen
Planeten gesandt. Hier auf Erden sind wir himmlische Wesen, Kinder unseres
himmlischen Vaters, oder wir sind im Bilde Gottes geschaffen – alles
Formulierungen, die zeigen, daß wir an einer Wirklichkeit teilhaben,
die größer ist als wir. Nur auf einem sehr intellektuellen
und theoretischen Niveau, sagt Helmuth Friis, können wir den Menschen
auf einen biologischen Organismus reduzieren, ganz gleich wie kompliziert
dieser Organismus auch sein mag. Denn von Angesicht zu Angesicht erleben
wir im anderen Menschen stets eine Heiligkeit, etwas, was uns göttlich
gegeben ist. Schon in unserer Wahrnehmung erhält der Andere eine
Bedeutung, die nicht von uns stammt.

Wir können den Menschen von unten betrachten, mit reduzierten
biologischen Theorien. Wir können den Menschen andererseits als
ein sehr hoch entwickeltes Bewußtsein sehen. Aber wir erfassen
so nicht das Entscheidende, das, was der Andere in mir sieht.

Aber wir können den Menschen auch von oben betrachten, als Gottes
Geschöpf, und dann ist Raum da, um das Rätselhafte, das Unerklärliche
zu verstehen, daß der Mensch Ansätze aufweist, die über
uns hinausreichen. Dann verstehen wir die Würde des Menschen auch
in einem kleinen Kind.

Wenn wir mit einem neugeborenen Kind in den Armen dastehen, dann wissen
wir: Wir stehen mit einem himmlischen Wunder da, nicht weniger. Es ist
uns gegeben, aber es ist nicht unser Eigentum. Es ist etwas ganz Besonderes.
Es gehört Gott. Und das kommt u.a. auch in der Taufe zum Ausdruck.

Und wenn wir in das Gesicht eines anderen Menschen schauen, wissen
wir: Der Mensch ist ein Rätsel, eine Tiefe, die wir nicht ergründen
können, ein Spiegel der unerklärlichen Welt Gottes.

Der andere Mensch gehört Gott, so wie ich auch. Und das Gebot:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, bedeutet also:
Du sollst den von Gott geschaffenen Menschen lieben! Du hast etwas vor
dir, das größer ist als wir, etwas Heiliges, etwas, worüber
wir nicht bloß verfügen können oder mit dem wir machen
können, was wir wollen. Das heißt Gott im Anderen sehen und
so dem Anderen Raum geben, so zu sein wie er ist.

In dieser Weise hängen die Gebote unlösbar zusammen. Du sollst
den Herrn deinen Gott lieben, und du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst. Trotz aller Schwächen und Unvollkommenheiten, die
wir natürlich bei einander sehen können, haben wir die wunderbare
Wirklichkeit Gottes im Anderen wie in uns selbst vor uns. Und deshalb
geht es eigentlich auch nicht in erster Linie darum, nur den Schwachen
Gutes zu tun, die in den Augen vieler nichts wert sind, sondern darum,
den Anderen, wer es auch immer sein mag, als ein Wunder Gottes zu sehen,
das ich, so gut wie möglich, schützen soll und dem ich Raum
geben soll.

Du sollst deinen Nächsten lieben: Das heißt den Menschen
lieben, in dem dir Gott begegnet und den Gott dir begegnen läßt.
Und du sollst den Herrn deinen Gott lieben: Das bedeutet, daß du
dich getragen weißt von seiner Liebe wie auch dein Nächster.
Der Gott, den du liebst, begegnet dir eben im Gegenwärtigen, in
dieser Welt, in den Menschen, mit denen du nun einmal lebst. Gott lieben,
ohne den Menschen zu lieben, das wäre luftige Träumerei und
oft auch Gefühlsduselei.

Deshalb kann es nie um ein Entweder oder gehen, so als liebe man entweder
Gott oder den Menschen. Es ist ein Sowohl als auch. Wenn wir Gott im
Nächsten lieben, wenn wir unseren Nächsten als den geheiligten,
von Gott geschaffenen Menschen lieben, der er stets ist, dann handelt
es sich um dieselbe Liebe. Gott und meinen Nächsten lieben, das
heißt sich einer Nähe und Gegenwart hingeben, einer Wirklichkeit,
die größer ist als wir und wo man eigentlich nicht trennen
kann zwischen Gott und Mensch.

Und nirgendwo wird das deutlicher als in Christus, in Jesus von Nazareth,
der in den Evangelien als der eingeborene Sohn Gottes verkündigt
wird. Wer ist er? Was denkt ihr von dem Christus? So lauten die Fragen
im Matthäusevangelium. Ist er der Sohn Davids, ist er aus dem Geschlecht
Davids und in diesem Sinne ein Mensch wie wir? Oder ist er der Herr König
Davids, also Gott? Ist er die Manifestation Gottes, der Sohn Gottes?

Er ist nicht nur himmlischer Herkunft wie wir, nicht nur im Bilde Gottes
geschaffen, wie wir. Er ist das leuchtende und klare Bild Gottes, all
das, was Gott wohl als Möglichkeit in uns allen sieht, was aber
nur in Christus voll und ganz da ist. Er ist Offenbarung Gottes, Angesicht
Gottes und zugleich Mensch, mehr menschlich als wir.

Deshalb geschieht es auch, daß die Gegenwart Gottes, die Liebe
Gottes deutlicher wird als irgendwo sonst. Und man sieht, wie die Menschen,
denen er begegnet, zu sich selber kommen und zu lebendigen Personen werden,
die sie zuvor nicht gewesen sind. Man sieht, daß geplagte, niedergedrückte
Menschen sich erheben mit Würde, frei und himmlisch wie nie zuvor.
So als hätten sie nicht gewußt, wer sie sind – nun aber wissen
sie es.

Jesus umgibt sich vor allem mit Menschen, die in irgendeiner Weise
unterdrückt sind und ausgeschlossen. Im Licht von oben, im Licht
der Liebe aber wachsen sie zu ihrer wahren Größe. Sie können
nun leben und sein als die, die sie sind. Nun wissen sie durch die Begegnung
mit ihm, daß ihr Leben kostbar ist, wunderbar geschenkt von Gott.
Nun wissen sie, trotz allem anderen, trotz Sünde und Schande und
Elend, daß sie jeden Tag in der Liebe Gottes leben und Großes
vor Augen haben. In der Liebe Gottes sehen sie mehr als vorher. Sie sehen,
daß sie und jeder von uns Gott gehören.

Gott lieben oder den Nächsten lieben – wo Christus ist, ist das
niemals eine Alternative oder eine Frage, ob man das eine soll oder das
andere. Den der Andere erscheint stets im Lichte Gottes, und man Gott
im anderen Menschen. Das Reich Gottes ist darum auch nicht so, sagt Jesus,
daß man es zeigen kann und sagen kann: Hier ist es! Das Reich Gottes
ist mitten unter euch. In dem Reich, hier unter all den anderen Menschen,
sollt ihr im Lichte der göttlichen Liebe leben und sein, lieben
und sehen.

Also: Liebe deinen Nächsten, und dann bist du bei Gott! Und liebe
deinen Gott, alles, was er dir in seiner Liebe gibt, und du bist bei
deinem Nächsten. An diesem doppelten Gebot hängt, sagt Jesus,
das ganze Gesetz und die Propheten. Alles, was in Wahrheit gesagt und
geschrieben ist, beruht darauf. Amen.

 

Pfarrer Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
DK-2820 Gentofte
Tel. ++ 45 – 39 65 43 87
e.mail: erha@km.dk

 

 

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