Matthäus 19,27-30

Matthäus 19,27-30

Liebe Gemeinde –

der letzte Platz ist nicht der schlechteste. In meiner Schulzeit jedenfalls
war er sehr begehrt – ganz hinten, im Rücken und Schutz der
anderen, da gewährte er fast so etwas wie Privatsphäre im Klassenzimmer,
man musste nicht ganz so eifrig wirken wie die in den vorderen Reihen
und schon gar kein Leistungsträger sein. Sogar hier, in unserer Kirche,
sind die hinteren Reihen stets ein wenig besser besetzt als die weiter
vorne.

Früher, so habe ich mir sagen lassen, war das anders: Da wurde die
Reihenfolge der Plätze festgelegt, richtete sich nach der Leistung,
nach den Noten der zuletzt absolvierten Klassenarbeit, und wer Klassenprimus
war, der saß auch auf der ersten Bank, ganz vorne, und musste sich
abmühen, diesen Platz zu halten. Vorne – daran mögen sich
die Älteren unter Ihnen vielleicht noch erinnern – da war immer
etwas in Bewegung, da „ging“ noch was, konnte man sich durch
gute Leistungen verbessern oder bei nachlassendem Eifer zurückfallen.
Hinten blieb meist alles ruhig. Die von der letzten Bank blieben die Letzten,
oft die ganze Schulzeit hindurch, und meist auch noch danach. Die hatten
nichts und die wurden auch nichts mehr.

„Den Letzten beißen die Hunde“, das sagt nicht nur
das Sprichwort, das können wir auch beobachten: Das schwächste
Tier bleibt auf der Flucht zurück und wird leichte Beute für
seine Verfolger; wer zu langsam oder zu ungeschickt ist, um die sichere
Deckung zu erreichen, dem droht der Tod vor seiner Zeit. Nein, der letzte
Platz ist kein sicherer Ort; Letzte oder Letzter zu sein, ist riskant.

Mit den Letzten im Gleichnis ist es nicht anders. Wir wissen nicht, warum
sie so spät erst auf dem Markt auftauchen und um Arbeit bitten. Waren
sie wirklich faul? Haben sie irgendwo herumgetrödelt? Vielleicht
standen sie an der falschen Ecke, an einer unbelebten Stelle, und haben
deshalb erst viel später mitbekommen, wo sie sich aufstellen mussten,
um beschäftigt zu werden. Drei, sechs, neun, ja, elf Stunden weniger
als die anderen arbeiten sie im Weinberg. Noch bevor sie richtig ins Schwitzen
kommen, wird es dunkel und es geht an die Auszahlung des Lohnes.

Ob sie selbst damit gerechnet haben, so großzügig bezahlt
zu werden? Wohl kaum. Das war damals nicht anders als heute, wo wir nur
den Kopf schütteln können über einen Unternehmer, der sich
so viel Profit entgehen läßt. Und wir suchen nach Erklärungen,
die die Geschichte nicht hergibt: „Vielleicht war die Arbeit der
Letzten ganz besonders anstrengend.“ – „Vielleicht sind
besondere Umstände eingetreten.“ – „Vielleicht
hing für den Weinbergsbesitzer unendlich viel davon ab, die Arbeit
noch an diesem Tag zu beenden.“ Solche Gründe suchen wir dann,
weil wir nicht damit zurechtkommen, daß einer so gütig ist,
so verschwenderisch, so ohne jedes Maß. Solche Gründe suchen
wir, weil wir gerne hätten, daß Gott berechenbar ist, den wir
im Besitzer des Weinbergs erkennen, weil wir unsere Freiräume austesten
möchten, wissen möchten, wie weit wir gehen können. Schon
die Allerkleinsten versuchen das, indem sie die Geduld der Eltern auf
die Probe stellen, die Kinder, die ihre Spielräume ausloten, die
Jugendlichen, die nach ihren Grenzen suchen. Aber der Weinbergsbesitzer
läßt sich nicht von uns festlegen: Es ist sein Weinberg und
es ist sein Geld. Er hat Macht, zu tun, was er will, mit dem, was sein
ist. Wenn er statt eines gerechten Lohns großzügige Geschenke
verteilt – was geht’s uns an? Er lässt sich nichts vorrechnen,
auch nicht von den Fleissigsten unter seinen Leuten.

Für die Jünger muß das eine bittere Einsicht gewesen
sein, das können wir an dem Zusammenhang erkennen, in dem Matthäus
dieses Gleichnis von Jesus erzählen läßt. Petrus, stets
der Wortführer der Zwölf, hatte nach dem Lohn der Nachfolge
gefragt: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt;
was wird uns dafür gegeben?“ Und Jesus antwortet mit dem Hinweis
auf das Weltende: „Wenn der Menschensohn sitzen wird auf dem Thron
seiner Herrlichkeit, werdet ihr auch sitzen auf zwölf Thronen und
richten die zwölf Stämme Israels.…Und wer Häuser
oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder
Äcker verlässt um meines Namens willen, der wird’s hundertfach
empfangen und das ewige Leben ererben. Aber viele, die die Ersten sind,
werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.“ (Mt
19,27-30)

Da hören sie sie zum ersten Mal, diese merkwürdige Einschränkung,
die so ganz gegen die Erfahrung geht, und die alle kränken muß,
die von Anfang an dabei waren. Und die Bildsprache des Gleichnisses setzt
die Kränkung fort, indem sie an Jesaja 5 erinnert: Dort steht der
Weinberg Gottes für das Haus Israel, und die Früchte, die er
tragen soll, heißen Recht und Gerechtigkeit. 12 Stämme –
12 Jünger: aus dieser Gleichung nährt sich das Selbstbewusstsein
des engsten Kreises um Jesus. Aber als nach Ostern die Gemeinde wächst
und das Evangelium weiter getragen wird, da kommen andere hinzu, Menschen
aus anderen Völkern, Fremde, solche „von der letzten Bank“,
die in den Augen des Gottesvolkes immer ganz hinten saßen, nichts
hatten und nichts werden konnten. Sicher, auch ihre Mithilfe war willkommen.
Aber werden sie dadurch auch „zu Miterben und Hausgenossen“?
Aber ja! Gott gibt großzügigen Lohn, läßt die Treue
der einen so viel gelten wie die Begeisterung der anderen. Er entzieht
sich in seinem Handeln unserer Verfügbarkeit, ist im besten Sinn
unberechenbar. Für die ersten HörerInnen des Gleichnisses eine
sehr demütigende Erkenntnis, schwer zu akzeptieren und noch schwerer
weiterzusagen.

Deshalb lesen wir in manchen Bibelausgaben noch einen Zusatz unter der
Geschichte: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“
Aus Mt 22,14 stammt dieses Wort, aus dem Gleichnis vom großen Festmahl.
Diejenigen, die es unserer Geschichte anhängen, tun dies der guten
Ordnung willen, für den Gedeih der Gemeinde. Wo käme man denn
hin, wenn sich das herumspräche, daß der Lohn der Ersten gerade
so groß sei wie der der Letzten? Wer würde sich da noch engagieren
für andere? Wer würde eine Aufgabe übernehmen, ein Ehrenamt
bekleiden, Jahre und Jahrzehnte treu dabei bleiben, wenn man es auch viel
einfacher haben kann? Da geht es uns wie den Leuten damals, da möchten
wir um der Arbeit im Weinberg willen schon ein wenig differenzieren, unser
kleines „Aber“ dazusetzen.

Wir möchten es auch den Kindern einschärfen, die wir nachher
taufen wollen – daß der Platz ganz hinten bei den Letzten
eben kein guter Ort für sie ist, daß man dort nichts hat und
nichts wird, im Gegenteil, daß es dort gefährlich für
sie ist. Wir wünschen uns ja für sie, daß sie einmal erfolgreich
und geachtet sein werden, es zu etwas bringen, sich für andere einsetzen,
am besten in der Gemeinde. Schön wäre es, wenn sie, wie schon
ihre Mütter, einmal Heimat finden würden in einer der Gruppen
und Kreise oder in der Kantorei oder wo sonst sie in Gottes Weinberg gebraucht
werden. Aber nur Gott weiß, wie sie mit seinem Geschenk umgehen
werden und was es einmal für sie bedeuten wird, daß sie als
Getaufte leben. Für uns bleibt das unverfügbar. Und wenn wir
sie jetzt ansehen, so klein und schutzbedürftig, dann möchten
wir auch gar nicht so recht daran denken, daß ihr Leben einmal ein
Ende haben wird. Doch die Geschichte vom überaus großzügigen
Weinbergbesitzer nährt unsere Hoffnung, daß Gott es mit ihnen
gut machen wird. Wir vertrauen darauf, daß sie dabei sein werden,
wenn er so reichlich beschenkt, daß man vom Lohn nicht mehr reden
kann. Und wir staunen, weil auch für uns noch genug übrig bleibt
zum Leben vor Gott.

Ein Silbergroschen, das ist gerade so viel, wie man zum Leben brauchte,
seinerzeit. Den sollen alle haben. Das Leben sollen alle haben, ewiges
Leben vor Gott, die Ersten gerade so wie die Letzten. Das Gleichnis kehrt
die Verhältnisse nicht um, sondern es hebt die Unterschiede auf zwischen
den Ersten und den Letzten, zwischen den Engagierten, Tüchtigen auf
der einen Seite und denen, die kurz vor Toresschluß erst den Anschluß
finden. Wer da mit Neid und Missgunst reagiert, muß sich hinten
einreihen, weil er (oder sie) noch nicht verstanden hat, was uns in Gottes
Ewigkeit erwartet.

Es müssen schon besondere Umstände sein, die den Gutsbesitzer
immer wieder neue Arbeitskräfte in seinen Weinberg holen lassen.
Wenn früher, als die Ernte noch von Hand eingebracht wurde, plötzlich
das Wetter umschlug, ein Gewitter aufzog, beispielsweise, und alles zu
vernichten drohte, da wurden auch in unserem Dorf alle mobilisiert, die
einen Rechen oder eine Heugabel halten konnten. Selbst die kleinen Kinder,
so wurde mir erzählt, mussten da mit helfen, auch wenn sie lange
nicht so viel ausrichten konnten wie die Großen. Und wenn es mit
vereinter Kraft gelungen war, die Ernte rechtzeitig unter Dach und Fach
zu bekommen, dann versammelten sich alle, groß und klein, zum gemeinsamen
Essen in der Stube, stolz auf das, was sie geleistet hatten. Der Hausvater
persönlich übernahm es dann, die Wurst aufzuschneiden, die es
zum Vesper gab. Scheibe für Scheibe teilte er auf, jeder und jedem
genau so viel, wie er selbst für sich nahm. Auch die Kinder, die
doch keine vollwertigen Arbeitskräfte waren und erst ganz am Schluß
zum Helfen gerufen wurden, bekamen eine vollwertige Portion. Denn das
Fest sollte für alle gleich schön sein, für die auf den
vorderen Rängen ebenso wie für den, der den letzten Platz für
sich gepachtet hatte. So manches Mal mag die Vorfreude auf das gemeinsame
Feiern diejenigen beflügelt haben, die in der Mittagshitze arbeiten
mussten. Und der gemeinsame Erfolg, die eingebrachte Ernte, die den Unterhalt
aller sichern half, ließ es nicht zu, einander den jeweiligen Anteil
daran vorzurechnen.

Ein großes Fest am Ende des Tages – ein Festmahl für
alle am Ende des Lebens in Gottes großem Saal: Dieses Bild, von
Jesus immer wieder gebraucht für das kommende Gottesreich, beschreibt
den „Lohn“ der Arbeit in Gottes Weinberg. Dort ist reichlich
gedeckt für alle. Und der, der uns einlädt, gibt uns nicht weniger,
als er selbst hat. Der letzte Platz an dieser Tafel wird nicht der schlechteste
sein. Amen.

Gerlinde Feine
Rohrgasse 4
D-72131 Ofterdingen
Tel. 07473 – 6334
e-mail: gerlinde.feine@cityinfonetz.de

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