Markus 16, 1-8

Markus 16, 1-8

Liebe Schwestern und Brüder,
liebe Leserin und lieber Leser,

ob Sie Zeit und Kraft haben, an einem Gründonnerstag-Gottesdienst
teilzunehmen und ihn mitzufeiern? Oder ob gerade das Lesen dieser Predigt
im Internet für Sie der Zugang zu diesem Tag ist, die Kommunikation
mit diesem Fest, die Ihnen möglich wird? Ich glaube, daß es
nicht meine Aufgabe ist, Sie auf etwas anderes zu verweisen – auf einen
Abendmahlsgottesdienst in der Kirchengemeinde etwa -, sondern daß es
meine Aufgabe ist, Ihnen mit dieser Predigt die Kommunikation zu ermöglichen
mit der Wahrheit, mit dem Angebot, das uns am Gründonnerstag verheißen
wird. Dies will ich versuchen.

Vielleicht haben Sie schon einmal in einer orthodoxen Kirche oder in
einer römisch-katholische Kirche einen Gründonnerstag-Gottesdienst
mit dieser Zeichenhandlung, der Fußwaschung aus dem Evangelium,
miterlebt. Ich weiß das nur aus Berichten und von Photos: Dort
wird im Gottesdienst am Gründonnerstag symbolisch versucht, das
zu tun, was Jesus getan hat, so zu handeln, wie Jesus gehandelt hat.
Wir glauben, daß wir diese Zeichenhandlung nicht nachzumachen brauchen,
weil wir hoffen, daß es uns im Alltag des Gemeindelebens und der
christlichen Existenz gelingt, die „Sache“ von Gründonnerstag
wirklich werden zu lassen. Was aber – liebe Leserin, lieber Leser – ist
diese „Sache“ von Gründonnerstag? Was ist gemeint?

Jesus sagt zu Petrus: „Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht;
du wirst es aber hernach erfahren.“ Damit wird der Bogen zu Karfreitag
geschlagen – zu morgen. Die Fußwaschung nimmt zeichenhaft das Opfer
vorweg, das Jesus zu bringen bereit ist.

Wie kann die Aufopferung für andere Menschen zeichenhaft dargestellt
werden? In jeder Zeit und in jeder Gesellschaft werden Menschen eigenständige
Formen und Wege finden – Menschen, die bereit sind, sich zu opfern. Was
sage ich da? Es muß heißen: Werden Opferbereiten immer wieder
eigenständige Wege und Formen aufgezwungen werden! Über einen
solchen Weg möchte ich später mit Ihnen besonders nachdenken.
Soviel sei schon jetzt festgehalten: Keiner aber wird mutwillig und darf
mutwillig den Weg des Opfers gehen. Aber auf ihn sich zwingen lassen,
ihn annehmen – das kann möglich werden.

Jesus wählt hier das „Bild“ der Sklavenexistenz: Indem
er die Füße wäscht, tut er den Dienst, der Aufgabe des
niedrigsten Sklaven in einer Hausgemeinschaft war: den Gästen, die
aus dem Straßenstaub und Straßenschmutz kommen, die Füße
waschen und pflegen und ihnen so zu zeigen, daß sie willkommen
sind – jedenfalls dem Herrn des Hauses willkommen sind; die Meinung des
Sklaven spielt gar keine Rolle!

Das alles versteht Petrus: „Herr, nicht die Füße allein,
sondern auch die Hände und das Haupt!“ Er will als ganzer
Mensch, mit seiner gesamten Existenz erneuert werden: die Füße
als Bild für den Leib, für sein biologisches Leben, der Kopf
als Bild für seine Entscheidungen, für sein Wollen, die Hände
als Bild für seine Taten, für sein Handeln. Einfach alles neu
machen lassen – durch Jesus.

Das zeigt diese Handlung zuerst: Jesus opfert sich ganz für uns.
Alles, was wir tun können, können wir nur, weil wir auf dieses
Opfer bauen.

Dann aber sagt Jesus noch etwas: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben,
damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ Wir haben sein Opfer angenommen
– wir werden sein Opfer von Karfreitag annehmen – und können nun
in gleicher – nein: in ähnlicher! – Weise leben. Auch uns für
andere opfern?! Auch Sklavin und Sklave werden?! Wenn überhaupt,
dann sicher ganz eigenständig und zurückhaltender. Aber gewiß nicht
nur in Form dieser Symbolhandlung, sondern ganz praktisch bezogen auf
Nöte und Herausforderungen unserer Welt: uns einbringen mit unserem
Dienst, mit unseren Kräften, mit unserer Zeit, mit unserem Geld
– für andere; und so Christus ähnlich werden.

Das eine Ziel also ist die Befreiung für uns: Wir erkennen, daß Christus
für uns handelt.
Das andere Ziel ist die Verpflichtung (?) – nein! -, besser: die Befähigung
für die Zeit der Not, für die Zeit der Herausforderung: Wir
können wohl auch einmal anderen zum „Christus“ werden.

„Heute bin ich meines Heilands Gast
zu Brot und Wein und Osterlamm.
Im Garten draußen bricht ein Ast.
Fällt einer schon des Kreuzes Stamm?
Kyrie eleison! [- Herr, erbarme dich!]

Der Heiland ist mein Knecht und Wirt,
dient mir und seiner Jünger Schar.
Der aller Himmel Herr sein wird,
macht sich der Gotteshoheit bar.
Kyrie eleison!

Er salbt und badet uns den Fuß,
reicht uns den Kelch und bricht den Laib
und harrt schon auf den Judaskuß,
damit ich ohne Strafe bleib’.
Kyrie eleison!

Mit Pilgerhut und Wanderstab
hält er, der Hirt’, das Passamahl.
Und als er aufbricht, ist’s zum Grab,
zu Kreuzesmarter, Spott und Qal.
Kyrie eleison!

Der Kelch ist nun mein Eigentum
und Brot und Wein mein reichstes Teil.
Den Kelch ergreift zu seinem Ruhm,
verkündiget der Sünder Heil!
Kyrie eleison!

Verkündiget den Namen sein,
sooft ihr dessen nun gedenkt,
bis er nach Geißlung, Fluch und Pein
uns seine Siegesfahne schenkt.
Kyrie eleison!

Er kommt, er kommt, des sei gewiß,
zu seiner Jünger Freudenmahl.
Am Ende aller Finsternis
grünt ewig auch des Kreuzes Pfahl!
Hosianna! [- Rette doch!]“

Mit diesen Versen hat Jochen Klepper in seinem Gründonnerstag-Kyrie
vom April 1938 die beiden Schwerpunkte unseres Textes ebenfalls aufgegriffen
und festgehalten:

„Er salbt und badet uns den Fuß,
reicht uns den Kelch und bricht den Laib
und harrt schon auf den Judaskuß,
damit ich ohne Strafe bleib’.

Verkündiget den Namen sein,
sooft ihr dessen nun gedenkt,
bis er nach Geißlung, Fluch und Pein
uns seine Siegesfahne schenkt.“

Das Handeln Christi hat die Zielrichtung, uns – jede und jeden von uns,
liebe Schwestern und Brüder – zu befreien, aus den Schuldfolgen
unseres Redens und Schwätzens, unseres Handelns und Verstricktwerdens
herauszureißen, „damit ich ohne Strafe bleib’“.
Wir aber haben seinen Namen zu verkündigen, von ihm Zeugnis zu geben,
auch in „Geißlung, Fluch und Pein“ – hier redet Jochen
Klepper wie mit Worten über Christus eigentlich von uns, von denen
unter uns, die Christus ähnlich werden.

Nicht nur hat er beide Schwerpunkte in seinem Text benannt, sondern
auch in seinem Lebensweg, bei seinen Entscheidungen beide Seiten durchleben
müssen. 1931 hat er eine Witwe geheiratet und gestaltete nun mit
ihr und ihren beiden Töchtern aus erster Ehe seine Familie. Diese
Witwe und ihre Töchter waren deutsche Staatsbürgerinnen wie
auch Jochen Klepper selbst. Ganz normal. Nur nach den Wertmaßstäben
und Klassifikationen der nationalsozialistischen Verbrecher waren diese
Menschen gebrandmarkt – als Jüdinnen. Ich lehne es ab, diese Kennzeichnung
immer wieder wie selbstverständlich neu aufleben zu lassen. Das
wäre eine Art eines späten Sieges der Nazis. Nein! Ich sage
nur: 1931 hat er geheiratet und eine Familie gefunden, die ihm Heimat
geworden ist.

Wegen der Politik der Nationalsozialisten bestand immer stärker
die Gefahr der Zwangsscheidung und, daß Frau und Tochter (eine
lebte seit 1939 in London und war so außer Gefahr) wie so viele
auch auf die Deportation geschickt werden würden. Jochen Klepper
hat die Möglichkeit, mit Innenminister Frick zu sprechen – am 8.
Dezember 1942. Am nächsten Tag hat er Termin im Staatssicherheitsdienst
bei Adolf Eichmann. Nach dem Tagebucheintrag von Jochen Klepper hat dieser
gesagt: „Ich habe noch nicht mein endgültiges Ja gesagt.“ Aber
am 10. Dezember dann wird die Ausreise abgelehnt.

Damit ist deutlich – und das Schicksal anderer konnte keinerlei Illusion
aufkommen lassen -, daß die Deportation von Frau und Tochter unmittelbar
droht. Im Falle dieser Deportation – das müssen wir Nachgeborenen
mit großartigen demokratischen Erfahrungen, die wir uns Diktaturen
und besonders auch die nationalsozialistische kaum wirklich vorstellen
können, uns ganz klar machen: -, im Falle dieser Deportation wäre
es für Jochen Klepper völlig unmöglich gewesen, den Weg
mit seiner Frau und Tochter mitzugehen. Er wäre bei diesem Versuch
gewaltsam von ihnen getrennt worden. Es war also klar – allen dreien
war das klar -, daß sie getrennt werden würden, daß Frau
und Tochter allein nach Osten verschickt werden würden.

Welches Opfer – liebe Leserin und lieber Leser – könnte Jochen
Klepper in solcher Situation für die geliebten Menschen bringen?
Ich weiß es nicht. Ich kann diese Frage nicht neu und eigenständig
beantworten. Eines aber weiß ich: Jochen Klepper hat diese Frage
dahingehend beantwortet, daß er gemeinsam mit seiner Familie, daß sie
drei gemeinsam als Familie in den Tod gegangen sind. Seine letzte Tagebucheintragung
enthält den Hinweis:

„Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott –
Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod.“

Selbst in dieser Entscheidung, bei diesem Weg, ja besser: auch und gerade
bei diesem Weg verläßt sich Jochen Klepper auf Christus, auf
das, was Christus für uns alle – auch für ihn und seine Frau
und seine Tochter! – getan hat:

„Über uns steht in den letzten Stunden das Bild
des Segnenden Christus, der um uns ringt.“

„… und harrt schon auf den Judaskuß,
damit ich ohne Strafe bleib’.“

Jochen Klepper gibt durch seine Tagebuchnotizen das Zeugnis – und das
haben wir erst einmal wahrzunehmen, nicht gleich in Frage zu stellen
oder zu problematisieren! -, er gibt das Zeugnis, daß er und seine
Familie sich auf Christus verlassen haben:

„… das Bild des Segnenden Christus,
der um uns ringt.
In dessen Anblick endet unser Leben.“

„Den Kelch ergreift zu seinem Ruhm,
verkündiget der Sünder Heil!“

Ich glaube, daß für uns – für mich, für Sie – im
Vordergrund stehen sollte die Dankbarkeit, wenn bisher ein ähnliches
Opfer auf dem Weg des Christus nicht von uns gefordert war!

Sodann gibt uns dieser Tag auf wahrzunehmen, daß solch ein Opfer
möglich sein kann, daß Gott uns durchaus einen solchen Weg
des Opfers führen könnte.

So ist es mein Wunsch zu diesem Gründonnerstagfest, daß wir
– nicht wahr: ich schließe mich hier immer ein; ich kann nicht
einfach nur Sie anreden und mich dahinter verbergen! -, daß wir
eine solche Situation, wenn wir denn in sie geraten werden, glaubend
durchstehen. Daß wir nicht – wie es leider so oft geschieht! –
in der Krise den Glauben wegwerfen. Sondern, daß wir selbst in
der Krise, selbst in Zweifeln, selbst in Ratlosigkeit, selbst in Ausweglosigkeit
den Glauben festhalten, im „Anblick“ des Christus bleiben,
des sklavenhaft dienenden Christus, des sich selbst opfernden Christus
– diesen im Blick, diesen in den Augen behaltend. Das ist mein Wunsch
für Sie und für mich.

Denn: „Er kommt, er kommt, des sei gewiß,
zu seiner Jünger Freudenmahl.
Am Ende aller Finsternis
grünt ewig auch des Kreuzes Pfahl!
Hosianna! [- Rette doch!]“ Amen.

Dr. Rainer Stahl
Generalsekretaer des Martin-Luther-Bundes
E-Mail: gensek@martin-luther-bund.de

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