Markus 7, 31-37

Markus 7, 31-37

Vorbemerkung: Die Predigt ist für eine der Göttinger Innenstadtgemeinden
gedacht. Die Lutherzitate sind folgendem Aufsatz entnommen: O.Bayer,
Tu dich auf! Verbum sanans et salvicans und das Problem der natürlichen
Theologie. In Ders., Schöpfung als Anrede, Tübingen 1986, S.62-79.

Gnade sei mit euch und Friede, von Gott unserem Vater und dem Herrn
Jesus Christus. Amen.

Leben heißt sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, die
Sonne auf der Haut, die Luft in den Lungen spüren, gehen und rennen,
und wieder: sehen, hören, riechen, schmecken. Mit den Augen in der
Freiheit des blauen Himmels sein. Eine Welt erfahren mit offenen Sinnen,
Menschen in die Augen sehen – Kindern, Eltern, Enkeln, Geliebten
und Fremden. Einstimmen in den vertrauten Klang ihrer Worte, Eintauchen
in den Fluß des Gespräches, in dem wir uns finden.

Totsein heißt: nicht sehen, nicht hören, nicht riechen, nicht
schmecken, nicht tasten. Nicht im freien Blau des Himmels sein, in der
Freiheit der Atemluft, in den Augen des Nächsten, sondern abgetrennt
sein, in sich abgeschlossen, allein. Taub und stumm sein.

Leben heißt für uns Menschen, daß wir hören und
reden. Wir sehen, riechen, schmecken nicht nur, sondern in alledem ist
es die Sprache, die uns die Welt aufschließt. In der Sprache findet
sie Sinn. In der Sprache bin ich Ich und du bist Du. Du sprichst mich
an in der Stille. Ich verstehe dich. Ich antworte dir. Das ist das Leben.
Wir Menschen leben im Gespräch, oder wir leben garnicht. Und auch
die Sonne, die Luft, das Blau des Himmels, die Blumen der Erde wären
sinnlos und tot, wenn sie ihren Sinn, ihre lebendige Wärme, nicht
im Wort hätten, das uns anspricht.

Leben wir wirklich – oder sind wir in Wahrheit schon tot? Hören
wir die Sprache des Lebens? Verstehen wir den Sinn der Dinge – den
Sinn des Himmels, der Erde, der Sonne? Hören wir, was das Sonnenlicht,
der Regen, die Bäume, die Sterne uns sagen wollen? Hörst du,
was der Säugling dir sagen will? Hörst du, was der Bettler
dir sagen will? Hörst du, was Matthäus, was Markus, Lukus und
Johannes dir sagen wollen?

„Die ganze Welt ist voller Sprache“ – aber wir „haben
Ohren und hören nicht“. Die ganze Welt ist voller Sprache – aber
wir verstehen nicht. Wir sind taub und stumm – allzu lange.

Lesung: Mk. , [31]32-37.

Es geht nicht nur um einen Taubstummen. Es geht um unser Leben. Es geht
darum, ob wir verstehen. „Die ganze Welt ist voller Sprache“ – aber
wir sind taub und stumm. „Schafe, Kühe, Bäume, wenn sie
blühen, sprechen: Hepetha! […] Alle Kreaturen rufen zu dir“ – aber
du bist taub. Mein Gott, „wir sind nicht würdig, einen Vogel
singen und eine Sau grunzen zu hören“. So predigt Martin Luther
diesen Text, heute vor 465 Jahren, am 8.September 1538 (WA 46,495,21-23.30) – und
es scheint nicht, daß wir heute mehr verstehen von der Sprache
des Lebens. „unser Haus, Hof, Acker, Garten und alles [ist] voll
Bibel. Da Gott durch seine Wunderwerk nicht allein predigt, sondern auch
an unsere Augen klopft, unsere Sinne rührt und uns gleich ins Herz
leuchtet“.Predigt 25.5.1544, WA 49, 434.

Gott spricht zu uns, in jedem Augenblick. Worte, die wir sehen könnten,
wenn wir die Sprache verstünden. Kühe, Bäume, Gräser,
die freie Luft, die Speise im Gaumen, das Licht in der Dunkelheit – das
ist Sprache Gottes. Er will unser Leben, unser Ohr; er bemüht sich
um uns, er rührt an uns. Aus dem Nichts unserer Angst und Einsamkeit
spricht er uns die Fülle des Lebens zu, gemeinsamen Lebens. Aber
wir verstehen es nicht. Es berührt uns nicht, allzulange schon.
So wenig wie unsere Zeit den einen Sinn der Bibel versteht, den einen
Sinn des Evangeliums, so wenig versteht sie die Sprache von Himmel und
Erde.

Unsere Welt ist taub, und weil sie taub ist, ist sie stumm. Sie ist
umso tauber und stummer, je lauter sie ist. Gerade im lauten und sicheren
Gerede ist sie taub und stumm. Ich meine das Gerede des Alltags, das
uns umhüllt wie Watte. Ich meine nicht das Gespräch mit den
Kindern am Abend, und auch nicht das abendliche Plaudern mit der Nachbarin über
das Wetter, am Zaun. Es gibt eine Heiterkeit und eine lächelnde
Leichtigkeit, von der ich mir vorstellen kann, daß Gott sie liebt.
Aber ich meine das Geschwätz der Tagessorgen, die sich so ernst
nehmen und doch vom Leben garnichts wissen. Das Geschwätz um die
Dinge, die du besitzt. Das Geschwätz um deine verletzte Eitelkeit.
Das Gerede um die Schuld der Anderen. Das Gerede, mit dem du dich schmückst
und putzt vor den Anderen. Das Gerede, in dem du nur ein Schatten bist.
Das Gerede des Alltags, das sich abends in den Fernsehshows noch einmal
spiegelt, in glitzernder, strotzender Blödigkeit. Das sich spiegelt
in der leeren Geschäftigkeit von Politikern, die jedem nach dem
Mund reden und nicht an die Wurzel rühren. Die Rufe der Börsenhändler.
Die Zahlensprache einer Technikwelt, in deren polierter Oberfläche
sich der Mensch als Gottesfratze spiegelt. Ein lautes, überlautes,
dröhnendes Gerede füllt die Welt, und es übertönt
die Lebenssprache Gottes.

Und noch nicht einmal auf sich selber hören sie. Auf den inneren
Schrei der Angst. Auf die Stimme einer großen Sehnsucht. Jeder
Mensch wacht doch einmal auf, auch im Land der Satten. Jeder ahnt doch
einmal, was es heißen könnte, die Sprache des Lebens zu verstehen.
Vielleicht am Grab. Vielleicht, als dir ein Mensch seine Liebe erklärte.
Aber das reicht nicht. Es einmal ahnen, was es heißen könnte,
die Sprache des Lebens zu verstehen, reicht nicht.

Und die Stummheit und Leere, weil keiner sie aushält, schlägt
um in den Lärm dieser Welt: In den Lärm der Kriege, der Bomben,
in das Geschrei der Fanatiker, in das Schnarren des Hasses. Wer würde
den Lügen der Kriegsherren glauben, wenn er die Lebenssprache Gottes
verstünde?

Das alles ist unsere Erbsünde. Der Mensch kreist um sich selbst.
Er ist gefangen in seinen Lebenslügen, nicht erst seit heute und
nicht erst seit 1933. Der Kampf um die Wahrheit ist viel älter.
Der Mensch hat die Angst nicht ausgehalten, mit der er einsam vor Gott
steht in der Nacht, wenn er erwachsen ist und den Tod kennt. Er hat die
Angst nicht ausgehalten, daß Gott nicht spricht und ihm den Sinn
des Lebens sagt. Lieber wie ein Tier sein als in dieser Angst ein Mensch.

Und zugleich mit der Angst kam die Lust, selbst der Gott der Welt zu
sein, selbst das Leben zu bestimmen, sich selbst die Welt zu denken wie
es mir paßt und in ihrer Mitte zu sitzen wie die Spinne im Netz.
Aber es ist eine Lüge. Der Mensch ist nicht Gott. Unser Stolz und
unsere Macht sind erbärmlich, und im Grund wissen wir das auch.
Gäbe es nicht die kleinen Kinder, gäbe es nicht die Trauer,
gäbe es nicht die Sekunde erschütternder Liebe – dann wäre
allein die Lüge das Gesetz unserer Sprache, die große Lebenslüge.
In Wahrheit ist der Mensch taub und stumm. – –

Aber er nahm ihn aus der Menge beiseite.

Uns hat er beiseite genommen. Deswegen sind wir hier. Deswegen sind
wir Christen. Es ist etwas geschehen.

Auch wir haben taube Ohren geerbt, auch wir leben noch im Geschwätz
der Welt – aber er hat uns doch auch schon beiseitegenommen. Er
hat das Geschwätz unterbrochen. Wir haben es erlebt, einmal und
noch einmal und immer wieder: Er hat uns herausgezogen aus dem Geschwätz
der Welt und seine Wahrheit hat uns erschüttert.

Und er sah auf zum Himmel und seufzte.

Dieses Seufzen reicht bis heute. Hört ihr es? Dieser Mensch seufzt,
weil wir taub sind und stumm. Er seufzt mit der verstummten Kreatur,
die endlich auf Sinn und Leben wartet. In diesem Menschen seufzt Gott,
und das Seufzen ist der Wiederklang unserer Stummheit. Und es ist schon
das Seufzen seines Todes, das unsern Tod birgt. Erst wenn Gott ganz zu
uns kommt, wenn er selbst unsere stumme Einsamkeit auf sich nimmt, sind
wir erlöst.

Und er legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge
und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hephatha, Öffne
dich!

Wie berührt uns Gott? Es schmerzt, wenn er die Finger in die Ohren
legt. Unsere Angst, die wir verleugnen, ist ein Abgrund, ein Grauen.
Aber dieser Mensch spricht in der Vollmacht dessen, der uns näher
ist, als wir uns selbst. Er spricht in der Vollmacht des Schöpfers.
Tu dich auf! Und indem er es sagt, geschiehts. In einem Augenblick spricht
Gott zu dir und alle Lügen, deine Engherzigkeit, deine Blindheit,
die verschenkten Jahre sind dir verziehen. Das Wort Gottes. Und du verstehst
den Sinn der Erde und du hörst den Ruf der Schreienden, die dich
brauchen.

In diesem Augenblick tauchst du auf aus dem Ozean der Stummheit wie
der Täufling aus der Taufe. Und du bist frei. Und nimmst teil am
wahren Leben.

Die Angst und die Lebenslügen mögen wiederkommen – es
ist unser Erbe, und es verstrickt uns täglich. Aber in dem Augenblick,
wo du das Wort verstehst: Öffne dich!, und es geschieht, weil er
es spricht – da wirst du neu geschaffen. Du wirst Teil eines Gespräches,
was von Ewigkeit zu Ewigkeit reicht; ein Gespräch zu dem auch die
Sterne und die Bäume und die Kühe gehören. Du kennst seinen
Sinn!

Er hat alles wohl gemacht: die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen
redend.

Sein Friede, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere
Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

PD Dr. Tom Kleffmann, Göttingen
tkleffm@gwdg.de

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