Predigt über Markus 7, 31-37

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Predigt über Markus 7, 31-37

Gebärden-Sprache | Predigt über Mk 7,31-37 | 23. August 2021 | verfaßt von Jochen Riepe |

‚Gebärden-Sprache‘

I

Die Arme schließen und dann langsam öffnen, immer weiter: ‚Der Himmel geht über allen auf…‘ Wir Alten mögen uns dabei etwas schwertun, aber ohne Gebärden kann man diesen Kanon nicht singen. Er will simultan in Körpersprache übersetzt und so lebendig werden.

‚Und Jesus sah auf zum Himmel und atmete tief und sprach zu ihm: Hephata.‘

II

Henry kann nicht hören. Von Geburt an. Die Mutter erzählt eindringlich von ihrem gehörlosen Sohn und seiner und ihrer Geschichte. Es dauerte, bis die Diagnose feststand. Sie bangten, sie hofften, aber irgendwann mußten sie die harten Worte akzeptieren: ‚Frau G., ihr Kind ist taub‘.*

Henry war bei ihnen, er lebte mit ihnen. Sie liebten, pflegten ihn, sangen und spielten mit ihm…  Aber da war eine Mauer, als wären sie in verschiedenen Welten. Oder bildeten sie sich das nur ein? Dieser Stich im Herzen, diese Sorgen, dieses Grübeln… Er hörte doch gar nicht, wenn die Eltern mit ihm sprachen. Er bekam nicht mit, wenn sie mit dem älteren Bruder über Erlebtes lachten … Würde er je richtig bei ihnen zu Hause sein?

III

Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war. Und sie baten Jesus, daß er ihm seine Hand auflegte‘.

Handauflegung bei einem Leidenden. Heilung durch Berührung, Salbung und Besprechung… Nicht wahr, das klingt esoterisch, mirakelhaft. Uns ‚modernen Menschen‘ ist fern, was Markus in dieser Geschichte erzählt. Ein Historiker hat die Heilungswunder Jesu darum ‚fremde Gäste‘** in unserer Welt genannt. Aber Fremde, die, läßt man sie ein, inspirierende Brücken bauen und trotz der Erfolge von Naturwissenschaft und Medizin lehrreich sind. Etwa so:

Wenn die Ohren verschlossen und der Mund nicht artikulieren kann, wenn das Wort den anderen nicht erreicht, ist eine neue Sprache nötig. Mit Händen und Blicken… mit Zeichen und Berührungen. Eine Sprache, die ‚die Augen hören‘ können und die Haut spüren kann, eine soz. ‚exotische Wahrnehmungsweise‘ (F. Ehrhardt). Der ‚Menge‘ der Umstehenden ist das nicht zugänglich. Die Leute werden lachen oder ‚Igitt!‘ rufen! Jesus nimmt darum den – vielleicht verstörten, ängstlichen, zitternden – Kranken ‚beiseite‘. In einen Schutzraum. Und dann praktiziert er das, was wir die Sprache der Hand oder der Gebärden nennen. Eine Sprache wohl intimer noch als unsere Wortsprache. Sie bringt den Heiler und den Kranken nahe zusammen.

IV

Die Hand, die Hände Jesu… Das Markusevangelium stellt diese gleichsam manuelle Seite seiner Heilungen, seine ‚handwerkliche Fähigkeit‘***, heraus. Er, der Wort-Therapeut, der ‚gebietet‘(1,27) und vollmächtig zuspricht, der den Glauben der Kranken ‚hervor-ruft‘ oder ‚auf-stört‘, kennt als Heiler auch dieses: Beziehungsarbeit der Leiber. Er baut das Vertrauen zwischen  Arzt und Patient buchstäblich mit  berührenden Händen. Und vergessen wir nicht die Spucke, das wohltuende Wasser unseres Mundes! ‚Er legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel‘.

Jeder, der medizinisch untersucht wurde, nein, ich meine jetzt nicht mit Apparaten oder Ultraschall, der wirklich das ‚Anfassen‘(1,31), das Tasten, das Drücken und Abklopfen,  gespürt hat, weiß um das Besondere und eben auch Intime und Prekäre dieses Vorgangs. Er kann völlig danebengehen, ich werde zum ‚Ding‘ und empfinde die Hand des anderen, seine Griffe, als grob und seine ‚Spucke‘ als ekelhaft. Sie kann aber auch wunderbar gelingen und schon in der sensiblen Untersuchung  Ängste lindern und Zutrauen wecken. Ich bin lebendiger Leib, der sich bewegt, der aufnimmt und erwidert… Wir so oft voneinander Getrennten, Arzt und Patient, Kranke und Gesunde, diese unsichtbare Mauer, wir gehören doch zu einer Welt.

V

Hörende – Gehörlose… ‚daß er seine Hand auflege‘. Die Eltern waren von Anfang an mit der Frage konfrontiert: Wie können wir dafür sorgen, daß Henrys Kontakt zu den sog. Normalen erhalten bleibt? Ihr Kind- ein Ausgeschlossener, ein ‚Un-verstandener‘? Die Ärzte hatten zu einer Operation geraten, bei der dem Kleinen ein Implantat eingesetzt worden wäre. Es sollte helfen, die gänzliche Gehörlosigkeit zu verhindern. Die Eltern entschieden anders.

Seht ihr, und hier kommen wieder die exotischen, die ‚fremden Gäste‘ ins Spiel und mit ihnen die Heilkraft von Händen und Armen, Gesicht und Kopf: Sie lernten die Gebärdensprache. Mit ihrem Kind zusammen und seinem Bruder dazu. Widerstände gab es – von außen, was die Finanzierung der häuslichen Frühförderung betraf. Aber auch von innen: Schafft Henry das, und schaffen wir das? Eine neue Sprache erlernen, die ihre eigenen Zeichen und ihre eigene Struktur hat? Wird sie die Brücke sein oder eine der Brücken, die zwischen Henrys Welt und unserer Welt besteht?

Und vor allem: Werden wir die Energie und die Geduld aufbringen, selbst zu Brücken zu werden? Anders gesagt: zu Übersetzern, die sich die Mühe machen, nicht nur ‚beiseite‘, im Schutzraum, auch ‚dazwischen‘, mittendrin, ihm mit Gesten Teilhabe zu gewähren? Am Kaffeetisch zum Beispiel, wo alles wild durcheinander redet, und wo Opa schon Schwierigkeiten hat, einem Gespräch zu folgen…

VI

Jesus hat den Gehörlosen ‚beiseite‘ genommen. Er hat ihn beruhigt. Er hat ihn ‚be-hand-elt‘ und sich auf den Leib des Mannes konzentriert. Schließlich aber heißt es bei Markus: ‚Er sah auf zum Himmel, er atmete tief und sprach zu ihm: Hephata!‘

Was für ein Finale in der Therapie, gleichsam eine Krönung, die alles erleuchtet und den Heiler selbst als Empfangenden und der Zuwendung bedürftig zeigt. Wie gut, wenn ein Arzt weiß, daß auch er nur ein Werkzeug ist.  ‚Tat sich‘ nicht über Jesus, dem Getauften, eben selbst noch ‚der Himmel auf‘ (1,10)? War dies nicht sein im Jordanwasser bezeugtes messianisches Geheimnis: Tief atmend den ‚Willen Gottes‘(3,35) in sich aufzunehmen, ihn zu verleiblichen und zu ‚erleiden‘ (8,31), und darin die Fülle des ‚Geistes‘  weiterzugeben? ‚Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt‘(9,23). Das ist ja sein Auftrag oder sein Werk ‚zwischen den Welten‘: Das Getrennte zusammenzuhalten, Gottes verletzte Schöpfung in ihrer Vielheit und Andersartigkeit, in ihrer ‚Bedrängnis‘ (13,19), in ihren ‚Wehen‘(13,8), in ihrer Verlassenheit doch unter einem Himmel zu versammeln und den Ausgeschlossenen, denjenigen, der uns Mühe macht und uns Integrationsarbeit abverlangt, aufzunehmen.

Lehrer und Erzieher waren zu Gast bei uns. Sie berichteten vom Ziel der sog. Inklusionspädagogik, die Gesunde und Behinderte gemeinsam unterrichtet. Wir waren neugierig: Wie läuft eine Stunde ab? Welche Methoden finden Anwendung? Wie hält man alle Kinder  zusammen? Sie haben erzählt, wie arbeitsaufwendig eine Unterrichtsstunde sein kann, und wie sehr sie angewiesen sind auf konkrete Unterstützung, Zeit und Personal. Die großen Worte der Politik wollen im Alltag bewährt sein.

VII

Hephata‘. Der Evangelist übersetzt diesen lösenden, befreienden ‚Befehl‘ Jesu mit den Worten: ‚Tu dich auf!‘  Wir wissen aber nicht, aus welcher Sprache dieser Ruf stammt***, und was er genau bedeutet. Aus dem Aramäischen, aus dem Hebräischen? Oder ist er ein ‚Zwischen-‘ oder  Brückenwort, das dem Gehörlosen nun klangvoll mit dem Mund vor Augen malt, daß er, ja, er und kein anderer, willkommen ist: ‚Du bist mein lieber Sohn‘ (1,11)? Ist es gar ein lautmalerischer Vorgriff auf jenen Tag, an dem im Licht der aufgehenden ‚Ostersonne‘ (16,2) Gott alle ‚Verstehens-Schranken‘ überwinden wird? Ein Wort der Engelsprache?

Gottes Gemeinde sein: Dieses Ziel aller Therapien im Namen Jesu hat die  ‚Menge‘ am Ende verstanden und damit gezeigt, daß der Geheilte auf eine Gemeinschaft trifft, die der Bewegung des Himmels folgt und ihr im Lobpreis entspricht: ‚Er hat alles wohl gemacht‘. Das Himmels-Tor öffnet sich da am weitesten, wo Menschen ein Lied anstimmen, begleitet von Gebärden und der Gestik des Leibes: Ja, ‚der Himmel geht über allen auf‘. Wie gut, daß wir unsere ‚fremden Gäste’ eingelassen haben!

VIII

Henry geht heute in eine ‚Hörende KITA‘. Mitarbeiter und Kinder ‚gebärden‘ mit ihm. Besonders das gemeinsame Singen von Bewegungsliedern begeistert ihn. Seine Mutter betont: Er muß lernen, ‚daß die Leute um ihn herum seine Sprache leider zum größten Teil nicht kennen‘, und sie meint: Damit kann er ‚ganz gut‘ umgehen. Er wird einen Platz ‚zwischen den Welten‘ einnehmen und dieses ‚Dazwischen-Sein‘ schöpferisch, eben: heilsam, nutzen können. Um wie vieles gelöster und fröhlicher ist ein Zusammenkommen, in dem wir beide Sprachen miteinander gebrauchen, und die Hörenden sehen, wie die Nichthörenden ‚gebärden‘, und beide einander ‚die Hände auflegen‘(16,18).

Hephata – wir öffnen die Arme, weiter, immer weiter… Wir preisen den Gott, den Vater Jesu Christi, der den Himmel auftat und uns im Wort und Wasser der Taufe heilte. Ihn will ich loben, ‚solange ich lebe‘.

(Gebet nach der Predigt:) Lieber Vater im Himmel, wir danken für dein Wort. Wir bitten:  Laß uns teilhaben am Geist und der Vollmacht deines lieben Sohnes. Daß wir mit guten Worten, sanften Händen und freundlichen Gesten im Leiden einander beistehen. Möge deine Gemeinde der Ort sein, an dem Kinder und Erwachsene, Gesunde und Kranke, einander begegnen, miteinander sprechen und im Lobgesang heilwerden. Herr, öffne uns die Herzenstür.

Lieder: ‚Der Himmel geht über allen auf‘ (eg 611) https://www.youtube.com/watch?v=AdF-hnk83To (mit Gebärden) , ‚Herr, öffne mir die Herzenstür‘(eg 197) ‚Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen‘ (eg 669)

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*‘Jetzt finde ich es gar nicht mehr schlimm, daß er nicht hören kann‘. Interview mit Luise G.  in : Deutscher Gehörlosenbund (Hg.), Mein Kind. Ein Ratgeber für Eltern mit einem hörbehinderten Kind, 2011,  S. 28-33 **F. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (1903), 1963, S.52 ***M. Josuttis, Religion als Handwerk Zur Handlungslogik spiritueller Methoden, 2002, S. 182****J.Gnilka, Das Evangelium nach Markus EKK NT II/1,  1978,S. 297


Pfr. i. R. J. Riepe  Dortmund   email: Jochen.Riepe@gmx.net

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