Predigt über Markus 7,31–37

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Predigt über Markus 7,31–37

Sie loben Gott mit entfesselten Zungen | Predigt über Markus 7,31–37 | 12. So. n. Trinitatis 22.8.21 | von Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

dem freundlichen Kellner, der uns vor dem Frühstück zunickt, sagen wir spontan: „Ja, Kaffee!“ Er serviert ihn uns und legt zwei Befragungskarten daneben. Ich schaue irritiert drauf, er sagt was Unverständliches. Da sehe ich, dass das eine Liste mit Wahlmöglichkeiten ist, darunter: gekochtes Ei, Spiegelei, Omelette oder Rührei. Mir fällt es wie Schuppen von den Augen: Der Kellner ist gehörlos; dass wir unsere Wünsche ankreuzen, hilft ihm und uns. (Übrigens war das Frühstück vorzüglich, ein guter Start für die nächste Fahrradetappe.)

Jesu Begegnung mit einem Gehörlosen gestaltete sich allerdings erheblich anders. Der Evangelist Markus berichtet: Jesus ging fort von Tyrus, durchquerte das Dorf Sidon am Ufer des Galiläischen Meeres und zog weiter, mitten hinein in die Dekapolis, die Region der „Zehn Städte“. Dort brachten sie zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Jesus nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel. Er sah auf zum Himmel und seufzte und sprach dann zu ihm: „Hefata!“, das heißt: „Tu dich auf!“ Sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Jesus gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. (Markus 7,31–37)

Da begegnen sich zwei, die sich vorher nicht kannten. Beide kommen sich näher. Die Heilung selbst geschieht abseits, dennoch gehören viele Menschen drumherum, ja eine ganze Region. Markus berichtet davon mit weitem Blickwinkel, aber er nimmt uns auch mit hinein in die abgeschirmte Situation der beiden. Der taubstumme Mann lässt sich von seinen Nachbarn zu Jesus bringen. Bisher werden seine Ohren und sein Mund viele erfolglose Heilungsversuche erlitten haben. Mit Gestocher und Gezerre, mit heißem Öl und aggressiven Kräutern (1), mit Beschwörungen und Verwünschungen. In der Antike zeigte sich im Sprechen, dass der Mensch eine begabte Seele hat, deswegen galten Gehörlose als geistlose, lethargische Existenzen. Der Apostel Paulus schrieb ja: „Der Glaube kommt aus der Predigt.“ Daraus folgerte der Kirchenvater Augustinus: „Wer nicht hören kann, kann auch nicht glauben.“ Er änderte seine Meinung aber, nachdem er auf dem Marktplatz in Mailand einen Taubstummen in Gebärdensprache (2) beobachtet hatte. (Bestimmt servierte der dem Kirchenvater danach ein leckeres Rührei, aber das ist nicht überliefert.)

Der Taubstumme, den sie zu Jesus brachten, war zwar taub, aber nicht stumm. Markus hört ihn „nur mit Mühe redend“, das ist positiv formuliert. Die Bibel hält fest: Der Mann ist gehörlos, aber nicht lautlos. Luthers (3) Übersetzung „taubstumm“ (4) spricht ihm sowohl das Hören wie auch das Sprechen ab. Das brandmarkt die Betroffenen und verleitet oft ihre Mitmenschen, passiv zu bleiben. (Es ist wie zwischen uns und dem Kellner. Als wir dann normal sprachen, verstanden wir seine Laut.ma.le.rei erheblich besser.)

Der Gehörlose und Jesus, beide kannten sich aus. Jesus mehr in den Mose-Geboten zur Vorbeugung und Reinheit, der Gehörlose mehr in Hausmitteln und heidnischen Ritualen. Es gab in Kleinasien hochbegabte Wanderärzte, aber auch Quacksalber, und jeder, der Karriere machen wollte (5), verwies auf originelle Wundertaten. Die Nachbarn des Sprachbehinderten wollen, dass sich bei ihm und auch für sie etwas ändert. Sie ergreifen die Initiative und erbitten zumindest eine Handauflegung von Jesus. Wie wird sich Jesus in diesem antiken Therapeuten-Sortiment aufstellen? Er lässt sich von den Bittstellern in Pflicht nehmen, aber er handelt nicht wie ein Marktschreier. Nach der Heilung befiehlt er allen das Stillschweigen, vor der Heilung nimmt er ihn beiseite; in beidem nimmt sich Jesus zurück. Er will keine weiteren Kunden gewinnen, er sucht und arrangiert die Einzelbegegnung.

So begegnen sich zwei, die nicht viel voneinander wissen. Der Mann bittet ihn nicht um Heilung „mühselig sprechend“ und auch Jesus befragt ihn nicht anhand einer Checkliste. Schon im gemeinsamen Zur-Seite-Gehen entsteht Vertrauen, das weiter anwächst. „Jesus nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel.“ Wortlos fühlt Jesus mit seinen Fingern die Stille in seiner Taubheit und gibt symbolisch den Gehörgang frei. Damit erfasst Jesus das tiefsitzende Leid des Mannes und entmachtet die Dämonen, die damals als Verursacher galten. Vertrauensvoll öffnet daraufhin der Gehörlose seinen Mund und lässt zu, dass Jesus Speichel auf seine Zunge tupfen kann. Dafür hatte Jesus zuerst seinen Mund aufgemacht. Das Vertrauen zwischen beiden wächst hin und her. Der Mann fühlt sich ganzheitlich berührt, aber noch nicht wirklich geheilt. Normal wäre, dass der fremde Heiler ihm etwas verordnet, doch Jesus nimmt sich für etwas anderes Zeit. „Er sah auf zum Himmel und seufzte.“ Ein Heiler, der seufzt? Ich erlebte zu Beginn der Pandemie, wie meine Ärztin mitten im Gespräch seufzte. Aber nicht über mich, sondern über die Liste der wartenden Patienten, die sie nebenbei auf ihrem Monitor sah. Mit einem Scherz holte ich sie wieder ab.

Jesus seufzt auch – allerdings in einem Gebet. Ich denke mir dieses Gebet als Jesu Fallbesprechung mit Gott; und im Seufzen schwingt er mit ein in die Schwingungen seines Gegenübers. (6) Seufzen war bisher dessen seelische Muttersprache. Jetzt aber hört er mit seinen Augen und spürt, was er alsbald selber kann: Seufzen und dabei beten. Jesus schließt an sein Beten und Seufzen eine Aufforderung an. „Jesus sah auf zum Himmel und seufzte und sprach dann zu ihm in seiner Muttersprache: „Hefata!“, das heißt: „Tu dich auf!“ (7) Er sagt das zu ihm als Menschen: „Tu dich auf!“ Er sagt nicht zu seinen behinderten Organen: „Tut euch auf!“ Zuerst heilt Jesus den ganzen Menschen, der öffnet sich und seine Sinnesorgane werden neu. „Sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.“ Was für ein Durchbruch, was für eine Entfesselung! Raus aus dem Stummfilm und hinein in die Wörter und Sätze. Er hört sich selber reden, und alle attestieren: Das ist korrekt, das macht Sinn, wir verstehen. (8) Er beginnt Melodien zu singen, deren Vibrationen er schon immer spürte. Was für eine neue Frische in den Familienbeziehungen und der Nachbarschaft! Er kann jeden mit Namen ansprechen und allen von seiner Heilung erzählen. (9) Doch dazu baut Jesus eine Nachrichtensperre ein – für ihn und für alle Nachbarn. „Er gebot allen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie gerieten völlig außer sich und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“

Markus lässt Jesu Schweige-Befehl so stehen, berichtet aber auch umgehend vom zivilen Ungehorsam der Bevölkerung. Sie halten sich den Mund zu für eigene Formulierungen, jedoch behelfen sie sich mit Zitaten aus dem Alten Testament. „Er hat alles wohl gemacht“ – das steht im Schöpfungsbericht. „Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend“ – das ist Jesajas Utopie für die Heilszeit. (10) Jesus will keinen persönlichen Ruhm, doch kennen in der quirligen Region (11) einige die Hebräische Bibel. Mit diesen zwei Bibel-Zitaten idolisieren sie nicht Jesus, sondern betten sein Handeln ein in Gottes Schöpferkraft und Heilszeit. Ihr Bekenntnis macht ihnen die Heilung zugänglich, deren direkte Augen- und Ohrenzeugen sie ja nicht waren. (12) Hier bestätigt sich, was wir auch bei uns wissen: Wunder bewirken nicht den Glauben, aber der Glaube führt uns zu Wundern.

Jetzt zeigt sich, mit welcher Absicht Markus erzählt. Jesus reist auf einer „höchst merkwürdigen Zickzacklinie“ (13) in das Gebiet, in dem es einen üppigen Religionsmix gibt. Dort heilt er sozusagen im Außendienst und verbittet sich dennoch Publicity. Aber die Menschen feiern, indem sie sich in überbordender Ausgelassenheit Bibelverse zurufen – sozusagen mit entfesselten Zungen. (Bestimmt hat Jesus das mit einem resignierenden Seufzer zugelassen, aber der ist nicht überliefert.)

Markus erzählt uns das so, weil er uns mitnehmen will in die Ausbreitung des Heils, des Jubels, der Genesung. Die Heilung erzählt er kurz und intim, das Schweigebot und den erfindungsreichen Jubel zitiert er wörtlich und wegweisend. Was die können, hilft auch uns. Gegen ein immer hektischeres Verdrehen von Fakten und gegen eine naive Gläubigkeit in Fake News stellen wir uns zunehmend taub und blind und stumm. Aber wir beherrschen auch jenes heilsame Schweigen, das wir unter uns intuitiv vereinbaren. Und wir beteiligen uns beim Ausrufen unverfälschter Wahrheiten, das wir neu lernen. (14) So tut es gut, wenn in den aktuellen Flut- und Feuergebieten Helferinnen und Helfer andere trösten, indem sie zuhörend schweigen und mit geliehener Sprache trösten. Mit einer Liedzeile, einem Segenswunsch, einem Psalmvers. Auch mit einem Seufzen, eingebettet in ein Gebet. Und oft hilft eine Gebärde, die berührt.

Die Heilung mitsamt des Jubelausbruchs ist für uns und für alle Helfenden eine anschauliche Ermutigung, dass wir uns in ähnliche Situationen hineinwagen. Und wenn wir den Blickwinkel weiten auf alle Momente, in denen wir trösten und Genesung begleiten, dann zeigen Jesu Maßnahmen eine interessante Abfolge auf. Er nimmt den Gehörlos-Stammelnden beiseite, er berührt mit seinen Fingerkuppen seine wunden Punkte, er gewinnt sein Zutrauen, er betet und seufzt und spricht seinem Patienten zu, sich zu öffnen. „Das Ineinander von therapeutischem Handeln, Gebet und Zuspruch hat für (uns als) … Gemeinde modellhafte Bedeutung.“ (15) Mit allen, die daran mitarbeiten und es an sich erfahren haben, singen wir: Dank für deinen Trost, o Herr, Dank selbst für die schlimmen Stunden, da im aufgewühlten Meer sinkend schon ich Halt gefunden. Du hörst auch den stummen Schrei, gehst im Dunkeln nicht vorbei.“ (16) Amen

(1) Kranken Rindern wurde Falscher Nieswurz in die Ohren gesteckt; vgl Wikipedia: Geschichte der Gehörlosen; vgl auch Tina Turner als „Acid Queen“ im Film der Rockoper „Tommy“. (2) vgl. Wikipedia Geschichte; ebd: Gebärdensprechende werden „als stumm wahrgenommen, wenn das Gegenüber die Gebärdensprache nicht versteht.“ ebd: „Die Kirche gewährte Gehörlosen zwar im 5. Jahrhundert die Taufe, jedoch erst im 11. Jahrhundert die Heirat, im 13. Jahrhundert die Beichte und im 16. Jahrhundert die Möglichkeit, das Mönchsgelübde abzulegen.“ Nach Aude de Saint Loup: „Darstellungen Tauber im westeuropäischen Mittelalter“, 1993; (3) Luther predigte am 6.8.1545 in Merseberg: Das Reich Gottes ist „ein Hör-Reich, nicht ein Seh-Reich“ bei Bernd Janowski: Konfliktgespräche S.86 Anm.133; (4) „Der Begriff taubstumm beinhaltet also einen nicht vorhandenen Mangel.“ Wikipedia; (5) Auch Vespasian heilte einen Blinden „oris excremento“ vgl. Joachim Gnilka EKK-Kommentar S.297; (6) anders M. Schewe in evangelisch.de am 23.8.2015: „Oft genügte ihm ein einziger Satz, ein bloßer Befehl, und der Kranke war gesund. Bei dem Taubstummen dagegen muss sich Jesus richtig anstrengen.“  (7) Es klingt wie ein Mantra; „bei Markus verliert es diese Bedeutung, indem es übersetzt wird“ Gnilka S.298; (8) „Ich begann, die deutsche Sprache zu dehnen, ohne um Erlaubnis zu bitten. Sie ist keine Leihgabe, sie gehört zu mir.“ Kübra Gümüsay: Sprache und Sein, S.30; (9) Israel war eine „Erzählgemeinschaft“ Janowski Anthropologie S.276; (10) Gen 12,31 LXX und Jes 35,5 – worauf Vers 6 folgt: „Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken.“ (11) Der sog. Jüdische Krieg (66-70 nChr.) zwang viele zur Flucht in die überwiegend griechisch/„arabische“ Dekapolis; vgl Claus Humbert, Predigtmeditationen S.339; (12) Th. Bomann meint, dass „die Griechen das Dasein sehend, die Hebräer hörend und empfindend erlebten“ nach Janowski Anthropologie S.287; (13) Gnilka S.296; (14) Politikerbücher sind meist „Lull-und-lall-Bücher“; Volker Rieble, zur Plagiatsdiskussion, zitiert im Spiegel Nr 32, 7.8.2021, S.20; (15) W. Klaiber, dBNT-Kommentar S.143; (16) Jürgen Henkys EG 383,2

Lieder:

EG 383 Herr, Du hast mich angerührt

EG 236 Ohren gabst Du mir

EG 072 O Jesu Christe, wahres Licht

Kommt, atmet auf, ihr sollt leben (P. Strauch; Feiert Jesus 1)

Ich rede, wenn ich schweigen sollte (K. Rommel; Lebenslieder 228)

Hoffnung wider alle Hoffnung (tvd 229)

Fürbitten, ggf als Diakonisches Gebet:

 

Du Gott, der Du alles wohlgemacht,

wehre unseren Tendenzen, andere Menschen als Mängelwesen zu sehen und zu behandeln. Lass uns Fingerspitzengefühl entwickeln im Miteinander und uns zurücknehmen zugunsten ihrer Chancen.

Mit ihnen beten wir: Öffne unsre Ohren, dass wir dein Schöpferwort hören.

 

Du Gott, der Du alles wohlgemacht,

wir treten in Fürbitte ein für alle Langzeit-Erkrankten, die mit ihrer Situation schwer hadern; wir bitten Dich für die Toten in den Flutgebieten und für die verunsicherten Überlebenden.

Mit ihnen beten wir: Öffne unsre Ohren, dass wir dein Schöpferwort hören.

 

Du Gott, der Du alles wohlgemacht,

wir beten gegen die vielsagende (oder: ohrenbetäubende) Stummheit vieler Verantwortlicher. Wir beten gegen den Krach der Republik und der Marktschreier. Bewirke in allen Wahl-Kandidaten einen unerschrockenen Mut zur Zukunft.

Mit ihnen beten wir: Öffne unsre Ohren, dass wir dein Schöpferwort hören.

 

Du Gott, der Du alles wohlgemacht,

wir gefährden den Globus, den Du uns anvertraut hast. Wir brauchen Heilung, Innovationen und Bescheidenheit. Wir wollen nicht wahrhaben, wie viele Klimaflüchtlinge sich auf den Weg zu uns machen.

Mit ihnen beten wir: Öffne unsre Ohren, dass wir dein Schöpferwort hören.

 

Du Gott, der Du alles wohlgemacht,

wir beten für Israel, den Libanon und Palästina. Wir beten gegen die Kriegsgewinnler und die ideologischen Weltmächte, die dort sich austoben. Und für die, die sich friedlich engagieren, für „Salam“ und „Shalom“.

Mit ihnen beten wir: Öffne unsre Ohren, dass wir dein Schöpferwort hören.

 

Du Gott, der Du alles wohlgemacht,

lehre uns, Lügen totzuschweigen und diszipliniere uns, dass wir keine Fake News verbreiten. Lass uns unseren Mitmenschen im Kummer nahe sein und gib uns den Mut zu einer Gebärde, die berührt.

Mit ihnen beten wir: Öffne unsre Ohren, dass wir dein Schöpferwort hören. Amen

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn und Ruanda. Musiker und Arrangeur.

Mielke, Manfred, Pfarrer i.R.

Manfred.Mielke@ekir.de

Am Bosserhof 13 a

46519 Alpen

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