Predigt zu Markus 7,31-37

Home / Bibel / Neues Testament / 02) Markus / Mark / Predigt zu Markus 7,31-37
Predigt zu Markus 7,31-37

Körpersprache der Liebe | 12. Sonntag nach Trinitatis | 22.08.2021 | Gemeindegottesdienst mit Taufe | Predigt zu Mk 7,31-37 |verfasst von Sabine Handrick |

Jesus verließ die Gegend von Tyrus wieder und ging über Sidon an den See von Galiläa,

mitten in das Zehnstädtegebiet.

Dort wurde ein Mann zu ihm gebracht, der taub war und kaum reden konnte;

man bat Jesus, ihm die Hand aufzulegen.

Jesus führte ihn beiseite, weg von der Menge.

Er legte seine Finger in die Ohren des Mannes, berührte dann dessen Zunge mit Speichel,

blickte zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Mann: »Effatá!«

Das bedeutet: »Öffne dich!«                                       

Im selben Augenblick öffneten sich seine Ohren,

seine Zunge war gelöst, und er konnte normal reden.

Jesus verbot den Leuten, jemand etwas davon zu sagen.

Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt.

Die Menschen waren vor Staunen ganz außer sich.

»Wie gut ist alles, was er getan hat!«, sagten sie.         

»Er gibt sogar den Tauben das Gehör und den Stummen die Sprache wieder.«

(Neue Genfer Übersetzung)

Liebe Gemeinde, liebe Tauffamilie!

Wenn ein Kind gesund auf die Welt kommt, ist das Glück gross. Alle freuen sich, die Eltern, bei Euch auch besonders der grössere Bruder D., die Geschwister, Grosseltern und Urgrosseltern, die ganze Familie. Und wir freuen uns mit Euch, dass Jonas da ist – dieses aufmerksame und neugierige Kind, das so gern lacht.  Wie zufrieden ist Jonas, wenn er all diejenigen um sich hat, die zu ihm gehören: Mama, Papa, D.! Dann ist seine kleine Welt in Ordnung.

Für uns als Gemeinde ist es ebenfalls eine grosse Freude, wieder ein Kind aus Eurer Familie in unserer Mitte zu begrüssen. Ihr, liebe Eltern, habt einen Vers aus Psalm 13 als Taufspruch für Jonas ausgesucht. Er klingt wie ein überschwänglicher Freudenruf:

«Doch ich will auf deine Güte vertrauen, von ganzem Herzen will ich jubeln über deine Rettung!

Mit meinem Lied will ich dem Herrn danken, weil er mir Gutes erwiesen hat.» (Psalm 13,6 NGÜ)

Da fliesst einem das Herz über, wenn man am eigenen Leib spürt: Gott hat mir geholfen. Gott hat mich gerettet. – Und diese Erfahrung bleibt, auch wenn die Gefahr längst vorbei ist: Ich bin nie allein, was auch immer geschieht. Ich habe ein liebevolles Gegenüber, das zu mir schaut und mich behütet … Mit diesem warmen, dankbaren Gefühl wächst der Glauben. … Das möchtet Ihr für Euren Sohn: Jonas soll die Liebe Gottes erleben und lernen, auf Gott zu vertrauen.

Meine Lieben, ich weiss nicht, ob jener Mann, von dem wir heute aus dem Markus-Evangelium gehört haben, ähnlich dankbar war, als ihm die Ohren aufgingen. Ob er jubelte und lauthals ein Loblied anstimmte, als er auf einmal normal reden konnte? Das wird leider nicht erzählt.

Schade eigentlich, aber das Markus-Evangelium bleibt mitunter sehr knapp. Dann müssen wir also zwischen den Zeilen lesen und das Ungesagte mit unseren Gedanken füllen.

Ich will versuchen, diese kleine, biblische Geschichte für uns zum Sprechen zu bringen.

Markus erwähnt die Reiseroute von Jesus: von Tyrus über Sidon an den See Genezareth in das Gebiet der sogenannten 10 Städte. Er ist in einer Region unterwegs, die heute zu Syrien und Jordanien gehört. Irgendwo dort geschieht die Begegnung zwischen Jesus und jenem Mann, der nicht hören und kaum sprechen kann. Wir, die Leser/innen sollen uns konkrete Orte und Gegenden vorstellen.

Es gibt dort offensichtlich Menschen, die bereits etwas von Jesus gehört haben.

Die Nachrichten über den jungen Mann aus Nazareth verbreiten sich von Mund zu Mund: «Weisst du schon das Neueste? In Kapernaum soll er einen Gelähmten gesund gemacht haben. Und einen, der von einem bösen Geist besessen war, hat er geheilt. So wie er hat noch nie jemand über Gott gesprochen. Ob er ein neuer Prophet ist?»

Jesus geht ein Ruf voraus. Wenn er an einen neuen Ort kommt, trifft er auf Menschen, die sich von ihm etwas erhoffen. So ist es auch bei jenen, die den Gehörlosen zu Jesus bringen.

Der aber kann die ganze Aufregung nicht recht nachvollziehen. Er sieht, wie die Übrigen diskutieren. Doch keiner erklärt ihm, was los ist. Und überhaupt – was haben die Leute nur immer zu reden?

Er lebt in seiner Welt, in der die Kommunikation aufs Nötigste beschränkt ist. Manches hat er sich abgeschaut und bewegt die Lippen wie die anderen. Er kann Brot kaufen. Er wird verstanden, wenn er auf dem Markt auf die Dinge zeigt, die er haben will. Doch so wie die anderen es tun, zusammen zu sitzen und zu palavern – das ist nicht seine Sache. Er zieht sich lieber in seine Werkstatt zurück, arbeitet vor sich hin und bleibt allein.

Am jenem Tag als Jesus in die Stadt kommt, bedrängen ihn die Nachbarn. Sie zerren ihn aus dem Haus, gestikulieren aufgeregt und schieben ihn durch die Menschenmenge.

Plötzlich steht er vor einem jungen Mann. Der schaut ihn aus grossen dunklen Augen an.

Unser gehörloser Mann erwidert den Blick.

Das geht eine Weile – schweigend sehen sie einander an.

Die Umstehenden reden durcheinander, Neugier liegt in der Luft: «Was ist los? Kannst du was sehen? Was macht Jesus? Lass mich doch auch mal durch! Gleich legt er ihm die Hände auf … Ich will auch was mitkriegen!» Es ist ein einziges Gedränge und Geschubse.

Inmitten der Leute stehen Zwei, als ob sie das alles nichts angeht. Die Beiden sind ein einziges Schauen, sie nehmen einander wahr:

Der Gehörlose sieht einen galiläischen jungen Mann. Kräftige Hände hat er. Der ist sicher ein guter Arbeiter, aber wie ein wandernder Geselle sieht er nicht aus. Er trägt kein Werkzeug bei sich, kein Gepäck. Aber diese Augen – er kann sich dem Blick nicht entziehen: Klug sehen sie aus, wissend, weise – alt und jung zugleich. Und während er so schaut, fällt ihm auf, was ihn von den anderen Menschen unterscheidet. Er redet nicht. Sein Mund bewegt sich nicht…

Schweigend lässt Jesus den Blick auf jenem Mann ruhen und blendet den Schwall der Worte aus, die auf ihn einprasseln. All die Geräusche der Umgebung erreichen ihn nicht. Er lässt sich völlig auf den Mann ein, der all das Drumherum nicht hört.

Jesus sieht einen Menschen, der sich zurückgezogen hat, der einsam ist, der Mühe hat, mit anderen in Kontakt zu treten. «Lässt Du mich hinein in deine kleine Welt?», fragt stumm der Blick Jesu. Er schaut ihn aufmerksam an. Zwischen den beiden Männern haben die Übrigen keinen Platz mehr. Jesus nimmt ihn beim Arm und bedeutet ihm mitzukommen. Sie suchen sich einen geschützten Ort, weg von den Menschen.

Meine Lieben! Stellen wir uns irgendein Zimmer vor. Was jetzt geschieht, passiert sozusagen hinter verschlossenen Türen, ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Wir kennen das auch: Therapeutische Prozesse benötigen einen geschützten Raum. Bei der Ärztin, beim Therapeuten befindet man sich in einem Vertrauensraum der ärztlichen Schweigepflicht. Das ist entscheidend, damit Veränderungen möglich werden und Heilung geschehen kann. Ähnlich ist es auch in der Seelsorge. Da gilt das Seelsorgegeheimnis.

Jesus und der Gehörlose ziehen sich zurück.

Eigentlich kann niemand genau sagen, was zwischen den Beiden geschieht. Aber die Leserschaft des Evangeliums soll eine Idee davon bekommen, wie die Begegnung zwischen Jesus und dem Gehörlosen gewesen sein könnte. Dahinter steckt natürlich theologisches Interesse, eine Absicht, mit der er es erzählt wird. Der Evangelist möchte Jesus hier als den Heiland zeichnen. Ich verwende bewusst dieses antiquierte, aber auch poetische Wort «Heiland». Hier passt es. Denn es geht um Heilung und Heilwerden im umfassenden Sinne, für jenen Mann, aber auch für alle Menschen, die ganze Schöpfung. Die Welt hört eben nicht an den Grenzen Galiläas auf. Die Botschaft Jesu ist grenzüberschreitend, global und individuell. So soll das Wort Gottes soll auch den Mann erreichen, dass ihm die Ohren aufgehen …

Stellen wir uns also die Begegnung zwischen Jesus und jenem Mann vor. Die Beiden sind allein, niemand stört mehr oder redet auf sie ein.

Schweigen und Sein. Die Gesten sprechen für sich. Worte verlieren ihre Wichtigkeit. Der Gehörlose empfindet Nähe zu jenem geheimnisvollen Fremden. Er kann es sich nicht erklären, aber so sicher hat er sich noch nie mit einem anderen Menschen gefühlt. Was ist das, was ihn ergreift? Eine warme Welle durchströmt seinen Körper.

Jesus macht einen Schritt auf ihn zu – langsam, behutsam. So stehen sie nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Jesus nimmt den Kopf des anderen in beide Hände. Der Mann spürt die Wärme seiner Hände, den kraftvollen Druck auf beiden Seiten des Kopfes.

Wann hat ihn jemals jemand so berührt? Obwohl – Mutter hat ihn gestreichelt, als er noch Kind war. Er merkt, wie sich eine Spannung löst und überlässt sich diesen starken Händen. Nicht mehr denken – einfach nur sein. Das tut gut, bitte nicht aufhören!

Jesus schaut ihm in die Augen und begreift all seine Bedrängnisse – seine Einsamkeit, seine Wut, seine Isolation, seinen seelischen Schmerz. Er spürt, wie er sich leicht in seine Hand hineinneigt. Jesu Fingerspitzen vibrieren. Es ist ein sehr intimer Augenblick. Jesus schliesst die Augen.

Jetzt braucht es Gottes Macht! Vater im Himmel hilf!

Er seufzt schwer, stöhnt laut auf. Jesus wagt, sich dem Anderen noch weiter zu nähern.

Mund an Mund, ich und du, Leben und Heil.

Er berührt seine Zunge mit Speichel, erzählt uns Markus. …

Gut formuliert – denke ich. So kann man einen Kuss auch umschreiben.

Ich vermute: Da die Körperlichkeit dieser Szene missverständlich ist und Anstoss erregen könnte, verwendet der Evangelist abschwächende Worte. Er vermeidet zu sagen, was ganz natürlich wäre. Wenn wir Menschen einander unsere innige Zuneigung zeigen, küssen wir uns. Ein Kuss gehört selbstverständlich zur Körpersprache der Liebe. Ich kann nur jemanden wirklich küssen, dem ich mich nah und verbunden fühle. Das gilt für Liebespaare wie für Familienangehörige und Freunde. Wir geben einander gern einen herzhaften Schmatz.

Könnt Ihr es euch bildlich vorstellen? Jesus hat den Kopf des andern in den Händen und gibt ihm einen Kuss auf die Lippen, sicher und handfest, ohne Zweifel, energisch, wie unter Brüdern.

In diesem Moment beginnt die Heilung. Der Gehörlose öffnet sich und lässt sich diese Behandlung gefallen. Es ist ein Augenblick völligen Verstehens und bedingungsloser Zuneigung.

Jesus schaut zum Himmel auf: Effatá (lautlos sprechen) – Der andere kann es ihm von den Lippen ablesen: «Effatá – Öffne dich!», so bricht das wirkmächtige Wort aus Jesus heraus.

Es klingt fast wie ein Nachhall des Schöpferworts, das diese Welt ins Leben rief…

von der Macht, die Sonne, Mond und Sterne machte,

die Zeit ordnete, Himmel und Erde schuf,

Tiere und Pflanzen gedeihen liess

und den Menschen als geliebtes Gegenüber in diese Welt setzte:

«Und siehe es, war sehr gut.»

Fünfmal kommt dieses zufriedene Fazit in der Schöpfungsgeschichte vor.

Und auch wir können diese gedankliche Verbindung durchaus herstellen.

Seht – hier wird alles wieder gut!

So gut, wie Gott es für diese Welt und für uns will.

«Ich will auf deine Güte vertrauen, von ganzem Herzen will ich jubeln über deine Rettung» – ob ein ähnlicher Psalmvers unserem Mann über die Lippen kam, weiss ich nicht. Aber, dass er nun nicht mehr gehörlos, nicht mehr sprachbehindert war und normal reden konnte … das erzählt das Evangelium. Wer kann den Jubel ermessen?

Das pure Glück, Freude am Leben!

Meine Lieben, ich wünsche uns, dass wir die Augenblicke des Glücks wahrnehmen, wenn sie geschehen. – Wie sehr haben wir in den zurückliegenden Monaten Nähe und Kontakte vermisst, Abstand gehalten, Distanz gewahrt. Oft war die Kommunikation untereinander erschwert.

Ach Gott, vieles liegt uns auf der Seele. Bitten wir darum, dass auch wir angerührt, berührt werden, so dass uns Herz und Sinne aufgehen. Wie heisst es so schön in Bonhoeffers Lied: «Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das Du uns geschaffen hast.»

Liebe Tauffamilie, dieses Lied ging Euch durch den Sinn.

Möge Jonas jederzeit Gottes Zuwendung spüren und sich von den guten Mächten begleitet wissen.

Du bist ein geliebtes Kind Gottes, Jonas.

Jesus sieht dich und ist für dich da.

Immer darfst Du zu ihm kommen.

Seine heilsame Nähe behüte und bewahre dich. Amen

Lieder zur Auswahl:

Bi de Tauffi chömed miir, RG 181

Herr du hast mich angerührt, RG 733,1,3,4

Ich singe Dir mit Herz und Mund, RG 723,1-2,13

Von guten Mächten, RG 353

Da wohnt ein Sehnen tief in uns, vgl. https://www.tritonus.eu/Chorsaetze/DawohnteinSehnen.pdf

Gott gab uns Atem, RG 841,1-3

Sabine Handrick, geb. 1965, Pfarrerin der Reformierten Kirchgemeinde Düdingen

pfarramt@refdue.ch

www.refdue.ch

de_DEDeutsch