Markus 8,22-26

Markus 8,22-26

 

Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


 

12. Sonntag nach Trinitatis,
2. September 2001
Predigt über Markus 8,22-26, verfaßt von Klaus Schwarzwäller


Liebe Gemeinde!

Diese kleine Wundergeschichte kommt schlicht und einfach daher. Alles
klingt ganz selbstverständlich, ja geradezu harmlos. Man führt
in Bethsaida – es liegt am nördlichsten Zipfel des Sees Genezareth
– einen Blinden zu Jesus mit der Bitte, „daß er ihn anrührte“;
also man bittet Jesus in höflicher Zurückhaltung, er möge
den Mann heilen. Jesus läßt sich nicht weiter nötigen:
Er nimmt ihn bei der Hand, führt ihn vor den Ortsrand, spuckt ihm
in die Augen und massiert eine Weile. Dann läßt er ab und
heißt den Mann sich umgucken. Und siehe da, er kann bereits wahrnehmen,
allerdings nur verschwommen. Jesus massiert abermals einige Zeit; als
der Mann dann guckt, sieht er wieder klar. Jesus schickt ihn daraufhin
heim, gibt ihm jedoch die uns verblüffende Anweisung, nicht in
den Ort zurückzukehren und auch niemand im Ort vom Geschehen etwas
zu sagen. Damit endet die Geschichte – und läßt uns mit der
etwas befremdeten Frage zurück, wohin um alles in der Welt hätte
dieser Mann denn sonst gehen sollen?

Die Frage bleibt offen, störend offen – als ob hier kein Problem
läge! Wie überhaupt alles so beiläufig geschildert wird,
als ginge es um ein paar Feigen oder Weintrauben. Das fordert heraus;
ich gestehe: Je länger ich diesem Wunderbericht nachgedacht habe,
umso mehr habe ich mich hieran, überhaupt an dem ganzen Geschehen
gerieben. Dreierlei hat mich besonders stutzen lassen:

Zum einen meidet Jesus die Öffentlichkeit und will am Ende ausdrücklich
nicht, daß der Geheilte in seine normale Umwelt, also seine Lebenswelt
zurückkehrt. Was Jesus an ihm getan hat, das soll nicht – ja, was
soll es eigentlich nicht? Jesus kann doch nicht so naiv gewesen sein
zu meinen, es werde sich nicht herumsprechen!
Zum anderen wird der Vorgang der Heilung relativ ausführlich beschrieben.
Es ist, als sollte alle Aufmerksamkeit beim Tun Jesu festgehalten werden.
Das aber ist, vorsichtig gesagt, wirklich nicht aufregend.
Und zum dritten überhaupt die Art des Heilens selbst: Sie ist einerseits
nicht besonders appetitlich, und andererseits muß sich Jesus hier
– um es einmal flapsig auszudrücken – schon ein wenig anstrengen.

Lassen Sie uns diesen drei Auffälligkeiten nachgehen. Ich beginne
mit der letzten:

Jesus muß schon einiges tun, damit der Mann wieder sehen kann,
und das läßt sich wenig appetitlich an. Gut, in der damaligen
Welt war man bei weitem nicht so etepetete wie wir heute. Doch damals
wie bei uns ist das Anspucken eine besonders erniedrigende Beleidigung.
Sie drückt aus: Was ich um keinen Preis bei und in mir behalten
mag, das soll auf dir liegen, für das bist du gerade gut oder vielmehr:
schlecht genug; pfui Deubel! Aber es gab auch eine andere Weise; für
sie mögen wir heute – wieder – Verständnis haben. Wir wissen
nämlich aus der Arbeit der Kripo, daß Spucke – selbst Spucke!
– die für den jeweiligen Menschen typische Desoxyribonukleinsäure
enthält, so daß durch Speichelproben ein Mensch eindeutig
identifiziert werden kann. Sagen wir es allgemein: Der Speichel, also
schlicht: unsere Spucke enthält das, was uns ausmacht, transportiert
also in einer gewissen Weise mich selbst. Indem hier Jesus dem Blinden
in die Augen spuckt, bespuckt er ihn gerade nicht, sondern legt mit
dem Speichel gleichsam sich selbst auf seine Augen, so daß er
nunmehr ganz und gar bei dem Blinden ist – eine Bedeutung, die den Alten
geläufig war und uns verloren ging.

Jesus also legt sich gleichsam selber auf die Augen des Blinden. Warum
er es in diesem Fall so hält und in anderen Fällen nicht,
darüber mag man mutmaßen – eine Antwort haben wir nicht.
Grübeln wir also nicht darüber, sondern sehen wir näher
zu, was hier geschieht. Das ist dies, daß Jesus es in diesem Fall
für gut und richtig hält, seinen Einsatz, seine Fürsorge,
seine Beteiligung spürbar, sichtbar, merklich werden zu lassen.
Warum auch immer, jedenfalls ist dieser Blinde es ihm wert, um seinetwillen
und zu seiner Heilung Aufwand zu treiben. Ein Aufwand, um’s zu wiederholen,
der uns Heutige nicht sonderlich appetitlich anmutet. Wo Jesus wirkt
und heilt und hilft, geht es offensichtlich nicht nach unseren Auffassungen
und Maßstäben von Hygiene und Ästhetik und Gehörigkeit
zu. Gottes Handeln hat seine eigenen Maßstäbe. Sie mögen
uns erfreuen oder befremden: Nicht er hat sich uns anzupassen, sondern
umgekehrt wir uns ihm, es falle uns leicht oder schwer. Wenn ich’s noch
einmal etwas flapsig ausdrücken darf: Wer mit Gott zu tun hat und
von ihm Hilfe und Heil erwartet, darf nicht zimperlich sein. Und wo
Gott sich für uns einsetzt, da hinken unsere Maßstäbe.
Siehe das Kreuz von Golgatha…

Der zweite Punkt war die relativ ausführliche Beschreibung. Wir
wissen alle: Man kann etwas so oder auch so erzählen, je nach dem.
Die Evangelien erzählen Jesu Wunder zumeist äußerst
knapp und präzis. Das Geschehen wird auf die paar unentbehrlichen
Züge gekürzt; nicht nur die Einzelheiten, sondern auch alles
das, was nicht unbedingt zum Geschehen gehört, mag man sich selber
ausmalen; den Evangelisten liegt regelmäßig nichts an alledem.
Hier aber stoßen wir auf ein Verweilen beim – ich hatte sagen
wollen: beim Nebensächlichen. Aber woher will ich das wissen? Mag
der Heilungsvorgang als solcher bei anderen Wundern auch als so nebensächlich
erscheinen, daß er mit keiner Silbe erwähnt wird: Hier findet
er Aufmerksamkeit. Warum? Man mag mutmaßen, grübeln; wir
wissen es nicht. Es ist halt so: Hier wird der Vorgang als solcher ausgemalt
– warum auch immer.

Ich gestehe: Mich hat das verdrossen. Als ich mich fragte, warum eigentlich,
stieß ich darauf: Hier läßt sich keine verborgene Linie,
keine versteckte Regel, keine erklärende Theorie finden. Sondern
diese Abweichung von der Regel der knappen, eher nur andeutenden Erzählung
der Wunder Jesu ist einfach da. Ein Grund ist nicht erkennbar. – Im
Leben bleibt immer wieder vieles und auch Gewichtiges offen. Aber wenn
in Gottes Tun etwas offen bleibt… Meine Erfahrung ist, daß man
das nicht erträgt, daß das ärgert. Und also wird gebogen
und gefeilt und gesägt und gehobelt, bis es hinkommt, bis deutlich
ist: Das hier, das war nur: ein Ausrutscher, ein Zufall; oder aber:
aus diesem oder jenem genau nachweisbaren Grund wird es gerade jetzt…
und hätte eigentlich noch viel ausführlicher… Und was dergleichen
sonst noch ist. Mir ging darüber etwas auf. Mir ging darüber
auf, wie schnell und selbstverständlich und auch unüberlegt
wir so oft dabei sind, Gott und sein Tun zu sortieren und in Schubfächer
zu packen und notfalls mit Gewalt hineinzustopfen. Denn wenn das nicht
geht, dann – dann wäre mein eigener Standpunkt nicht mehr sicher.
Dann könnte ich nicht stehen bleiben. Dann müßte ich
mich bewegen, notfalls aus meinen gewohnten Auffassungen heraus, wie
dieser Blinde aus dem Ort…

Indem ich versuchte, mich zu bewegen und mich einzulassen, ging mir
etwas auf. Mir ging auf: Hier wird an einer Stelle einfach einmal beschrieben,
was das heißen mag, daß Jesus heilt und Wunder tut. Nämlich
dies, daß er gerade auch in seiner göttlichen Macht – ich
sag’s einmal mit einem saloppen Ausdruck – „sich ‚reinhängt“.
Er „hängt sich“ hier „‚rein“ um eines Menschen
willen, der so unbedeutend und nebensächlich ist, daß nicht
einmal sein Name überliefert wird; „hängt sich“
also „‚rein“ für irgendeinen beliebigen Durchschnittsmenschen,
der offenbar ebenso gut ein anderer hätte sein können. Was
heißt „Durchschnittsmensch“; es handelt sich um einen
Menschen der Art, die zahlen dürfen, wenn Geld gebraucht wird,
die man mit hohen Worten abspeist, wenn es ihnen schlecht geht, die
man als arbeitsscheue Drückeberger verdächtigt, wenn sie aus
der Bahn geworfen wurden, die man als menschliche Verfügungsmasse
und statistische Größe auffaßt und unter hehren Parolen
verschleißt, als ob sie dazu geboren wären, verbraucht zu
werden, also – den Älteren vertraut – „Otto Normalverbraucher“.
Für einen solchen Menschen „hängst sich“ Jesus hier
„‚rein“.

Wenn uns das deutlich ist, dann beginnt die zuerst genannte Auffälligkeit
einzuleuchten: daß Jesus die Öffentlichkeit meidet und hinterher
nicht will, daß der Geheilte in seine normale Umgebung zurückkehrt.
Jesus war kein Politiker – show und Schaumschlägerei, aber auch
Eigenwerbung und Reklame, Propaganda und Selbstlob – womöglich
öffentliches – lagen ihm fern. Nicht daß Jesus die Öffentlichkeit
scheute, daß er ihrem Licht nicht standhielt, gar daß er
etwas zu verbergen hatte. Im Gegenteil: Er tritt an die Öffentlichkeit,
setzt sich ihr aus, stellt sich unbequemen Fragen und Anfeindungen.
Darum – am Rande bemerkt – hat der christliche Glaube von Anfang an
der Vernunft nicht nur standgehalten, sondern sie – historisch eindeutig
– in unvergleichlicher Weise gefördert. Nein, das Licht wird nicht
gescheut – weder das Licht des Tages noch das Licht der Wahrheit noch
das Licht der Vernunft.

Aber neben dem Licht, das hell macht und Klarheit schenkt, gibt es
auch das Licht, das blendet, weil es lediglich anstrahlt und in den
Vordergrund zerrt: die Scheinwerfer des großen Auftritts, die
Strahler der Sensation, die Bühnenlampen der Show und des glamours.
Das ist das Licht, das Jesus meidet – er ist kein Showmaster. Er weiß,
daß entweder die Wahrheit leuchtet – oder eben die Lampen, mit
denen man etwas anstrahlt und ins Licht holt. Ihm geht es um das Leuchten
der Wahrheit. Und ehe das – damals wie heute – überstrahlt wird
durch die Scheinwerfer derer, die auf Sensation oder event aus sind,
zieht Jesus sich aus der Öffentlichkeit zurück und erlegt
das auch denen auf, denen er hilft oder die er heilt: Haltet euch außen
vor! Sucht nicht das große „Ah!“ und „Oh!“
der Gaffer! Meidet den Rummel der Medien! Gebt den Paparazzi des Wortes
und der Kamera keine Chance! Laßt das, was ich an euch getan habe
– also laßt mich und euch selbst nicht gemein machen durch Sensationsgeilheit!
Bewahrt die Wahrheit des Wunders vor den lüsternen Blicken und
dem schmierigen Speichel derer, deren Augen für das Licht der Wahrheit
blind sind! Und darum: Wenn’s darauf ankommt, dann meidet eben eure
normale Umgebung! Haltet euch da fern. Entweder ich – oder der Rummel!

Uns ist nicht überliefert, wie es weiterging. Wir hätten
das gerne gewußt, würden auch gerne Klarheit darüber
haben, ob die Leute, die den Blinden zu Jesus brachten, tatsächlich
eine sensationsgeile Meute waren; im Text deutet ja nichts hierauf hin.
Wir wüßten gerne, ob der Geheilte sich an Jesu Auflagen gehalten
hat und wie er dann sein Leben organisierte. Uns interessiert schon,
ob Jesus danach in den Ort zurückkehrte – und ob umgekehrt nicht
ein paar Neugierige ihm gefolgt waren und ihn aus einem Versteck beobachtet
hatten. Alles Fragen, die ins Leere greifen – und greifen sollen; denn
sie lenken ab.

Sie lenken ab von Tatsache und Ernst dessen, daß Gottes Handeln
und seine Wunder keine Schauobjekte sind: nicht zum Beglotzen und zum
Begaffen und zum Begutachten und zum Bereden und zum Vermarkten. Sondern
daß dort, wo Gott Menschen hilft und heilt, seine Taten uns erkennen
lassen, daß dem Herrn selber auch Namenlose und Durchschnittsexistenzen
wichtig genug sind, „sich“ für sie „‚reinzuhängen“
und ihnen in einer Welt von sehenden Blinden Augenlicht und Einsicht
zu schenken.

Amen.

 

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
E-Mail: kschwarzwaeller@foni.net

 

de_DEDeutsch