Markus 9,14-27

Markus 9,14-27

 

Göttinger
Predigten im Internet,
hg. von Ulrich
Nembach und Johannes Neukirch


17. Sonntag nach Trinitatis
26. September 1999
Predigttext: Markus 9,14-27
Verfasser: Hans Joachim Schliep

„Und sie kamen zu den Jüngern und sahen eine große Menge
um sie herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. Und sobald die Menge
ihn sah, entsetzten sich alle, liefen herbei und grüßten ihn.
Und Jesus fragte sie: ‚Was streitet ihr mit ihnen?‘
Einer aber aus der Menge antwortete: ‚Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht
zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er
ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird
starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, daß sie ihn
austreiben sollen, und sie konnten’s nicht.‘
Jesus aber antwortete ihnen und sprach: ‚O du ungläubiges Geschlecht, wie
lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her
zu mir!‘
Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riß er
ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund.

Und Jesus fragte seinen Vater: ‚Wie lange ist’s, daß ihm das
widerfährt?‘
Er sprach: ‚Von Kind auf. Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen,
daß er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich
unser und hilf uns!‘
Jesus aber sprach zu ihm: ‚Du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind
möglich dem, der da glaubt.‘
Sogleich schrie der Vater des Kindes: ‚Ich glaube; hilf meinem Unglauben!‘
Als nun Jesus sah, daß das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen
Geist und sprach zu ihm: ‚Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir:
Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein!‘
Da schrie er und riß ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot,
so daß die Menge sagte: ‚Er ist tot.‘
Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand
auf.“

Liebe Gemeinde!

Kann ich dieser Geschichte Glauben schenken? Jesus heilt einen Jungen, der
von einem bösen Geist besessen ist. Wer glaubt schon als Mensch des 20.
Jahrhunderts, als aufgeklärter Mensch, an böse Geister, an
Dämonen oder gar noch an den „Teufel“? Ich bin aufgewachsen mit
einem anderen Leitbild: Die Welt ist entzaubert. Mit Vernunft und gutem Willen
meistern wir die Restrisiken des Lebens. Unheimliches, Unglaubliches,
„böse Geister“ haben da keinen Platz. Und den „Teufel“
sind wir längst los.

Doch meist schon nach wenigen Minuten „Tagesschau“ schießt
es mir durch den Kopf: Es ist ‚mal wieder der Teufel los! Wie Menschen
verachtet, vergewaltigt und vernichtet werden! Unfaßbar! Unglaublich!
Unglaublich auch, wie Glaube an „böse Geister“ neue Blüten
treibt, wie „Teufelskulte“ wieder aus dem Boden schießen. Dann
geht es mir nicht aus dem Kopf: Sollte gerade dort der „Teufel“
besonders heftig los sein, wo ich glaubte, ihn los zu sein?

Verstehen Sie mich bitte recht: Wir dürfen nicht wieder dahin kommen,
uns das Böse als eine bestimmte menschliche Gestalt vorzustellen. Noch
schlimmer ist es, wenn bestimmten Menschen die Fratze des Bösen angeheftet
wird: „Die mit dem bösen Blick.“ Damit muß ein für
allemal Schluß sein. Vor allem darf nicht wieder geschehen, daß
Kindern mit Bildern des Bösen, mit der Gestalt eines „Teufels“
Angst eingejagt wird – Angst, die ihr Grundvertrauen ein Leben lang
erschüttert und zerstört.

Den nüchternen, klaren Blick aber für all‘ die Verkrampfungen und
Verzerrungen, all‘ die Zerrissenheiten und Besessenheiten um uns herum – den
müssen wir uns bewahren. Und das klare Empfinden: „Du bist manchmal
ja selbst von allen guten Geistern verlassen!“ – wir müssen es
behalten, damit wir uns selbst richtig einschätzen.

I.

Jetzt rückt mir der Junge aus der biblischen Erzählung
mächtig nahe. Er ist von allen guten Geistern verlassen. Er ist
besessen, es sitzt gleichsam etwas auf ihm drauf, eine fremde, böse
Macht hält ihn besetzt. Die schüttelt ihn, läßt ihn
schäumen und stürzen.

Was hat der Junge für eine Krankheit? Zunächst: Was wir
heute mit ‚Krankheit‘ bezeichnen, ist etwas anderes als das, was zur Zeit
Jesu ‚Krankheit‘ bedeutete. Heute verstehen wir ‚Krankheit‘ in erster Linie
medizinisch: irgendein Körperorgan funktioniert nicht mehr richtig. Damals
– und bis vor etwa 200 Jahren auch noch in unserem Kulturkreis – dachte man bei
‚Krankheit‘ an sehr viel mehr: Zum Beispiel an irgendeine Bedrängnis, in
die man geraten war und aus der man aus eigenen Kräften nicht mehr
herauskam. „Irgendetwas hält mich fest, besetzt und bedrückt
mich.“

Das konnte, modern ausgedrückt, eine ‚Persönlichkeitskrise‘, eine
‚Sinnkrise‘ sein. Das konnte auch eine politische Bedrückung sein.

Tatsächlich standen, als Markus sein Evangelium schrieb, mit den Juden
auch die Christen in Palästina unter stärkstem politischen Druck.
Denn etwa um 70 nach Christus herum unterwarfen sich die Römer das ganze
Land. Sie zerstörten den Jerusalemer Tempel. Alles stand unter
Besatzungsrecht, überall war die Besatzungsmacht. Wer sich religiös
oder politisch äußern wollte, war erst einmal zum Verstummen
gebracht, mundtot, sprachlos gemacht.

Für die Christen, diese kleine Minderheit, kam hinzu: Sie konnten sich
kaum Gehör verschaffen, die Leute liefen ihnen wieder davon, der kleine
Rest schloß die Reihen fest zusammen, war in der Gefahr, sich
abzuriegeln, äußere Einflüsse abzuwiegeln.

Das alles gilt es mitzusehen beim Krankeitsbild des Jungen. Es schillert
zwischen Epilepsie und Autismus. Der stumme und taube Geist, der in Wasser
und Feuer wirft
, ist ein Bild für einen Menschen, der „ganz
zu“ ist, „total stoned“, der sich abschließt,
beschädigt wurde und sich selbst beschädigt, beziehungsarm, ohne
lebendigen Austausch, ohne Kommunikation vor-sich-hin-lebt, der zugleich die
innere und äußere Kontrolle über sich selbst verloren hat.
Beispiele aus unserer Zeit gibt es zuhauf, mehr als aus früheren Zeiten.

Wir können noch einen Schritt weitergehen. Er hat es von Kindheit
an
, schreibt Markus. Und so heißt es in alten Texten, wenn
Lebensängste beschrieben werden, die alle Menschen haben. Ob
der Mensch sich aus dem Tier entwickelt hat oder ob er eine ganz eigene Kreatur
ist – das mag dahingestellt bleiben. Eine Kreatur ist er in jedem Fall. Nur
knapp 2% seiner Anlagen, las ich vor kurzem, sollen den Menschen vom Orang Utan
unterscheiden.

Worum geht es also bei der Krankheit des Jungen auch? Der Neutestamentler
Gerd Theißen schreibt: „Es ist die Angst vor der „Bestie“
im Dschungel um uns herum – und vor der „Bestie“ in uns.“ Eine
Doppelangst also: Einerseits vor unkontrollierbaren Feinden, die uns stumm
machen, vor denen wir erstarren und die Waffen strecken, andererseits vor einem
Kontrollverlust über uns selbst, in dem wir unser Ich verlieren, der uns
beziehungslos macht, taub, ohne Antenne für Lebenszeichen von außen.

Und da steht nun dieser Jesus! Warum hat Markus ihn in ein solches Geschehen
mitten hinein gestellt, mitten hinein in diesen Lebenskampf, zwischen unsere
Lebensängste?

Die frühe Christenheit hat in Jesus eine Gestalt gesehen, der seinen
eigenen Lebenskampf ohne Lebenskrampf besteht. In Jesus sind sie einem Menschen
begegnet, der frei war von widergöttlichen Bindungen – der sie deshalb vom
Bösen entbinden konnte, der allein vom Geist Gottes besetzt war – den
deshalb kein anderer, kein Ungeist besetzen konnte, von dem Kräfte der
Heilung ausströmten – weil er mit dem Heiligen im Bunde war.

So hat die frühe Christenheit Jesus in Anspruch genommen: als ihren
Verbündeten in ihrem Lebenskampf für den Frieden, das Recht und das
Leben selbst. So hat er sich in Anspruch nehmen lassen.

In gewisser Weise hat Markus die Christen in dem Jungen, den Jesus
berührt, an die Hand nimmt und aufrichtet, abgebildet: wie sie sprachlos
sind – und ihre Worte, ihre Gebete und Lieder immer wiederfinden, wie sie sich
verschließen gegen andere, fremde Einflüsse – und sich doch immer
wieder aufschließen lassen für Neues und Fremdes, für Gottes
große, reiche Welt.

Mag schon Markus hier ein Idealbild von Jesus zeichnen, mag die
Jesus-Gestalt im Laufe der Geschichte auch zu einer großen
Projektionswand geworden sein für alle Bilder vom Guten, vom Frieden, von
Recht und Gerechtigkeit – ohne diese Gestalt hätten wir doch gar keinen
Blick mehr für’s Gute und für die Güte. Nur mit dieser Gestalt,
die in einzigartiger, unüberholbarer Weise das Heilige darstellt, durch
sein Bild uns erinnert an das, was heilig zu halten und wert zu achten ist,
können wir dem endgültigen Zugriff unserer eigenen unheiligen,
unheilvollen Geschichte entkommen. Wie sollten wir ohne diese Jesus-Gestalt dem
Würgegriff der Bosheiten und Besessenheiten uns entwinden?! Gut handeln
kann ich doch nur, wenn mich das Gute selbst berührt, erfaßt hat.

Darum ist Jesus eine „kulturelle Errungenschaft“ in der
menschlichen Entwicklung, eine Quelle unserer Bilder vom lohnenden Leben,
mindestens das Hintergrund-Bild unserer inneren Leitbilder. Darum ist und
bleibt Jesus eine Gestalt von öffentlicher Bedeutung – über die
Mauern der Kirche hinaus, weit in unsere Gesellschaft, unsere Kultur hinein.

II.

Auf andere Weise noch als in dem Jungen, liebe Gemeinde, hat Markus seine
Christenleute abgebildet in dem Vater. Ein geplagter Vater sucht
für seinen gepeinigten Sohn einen Schonraum, eine Schutzzone, ein
Kraftfeld vor allem, in dem Krämpfe sich lösen, in dem die
Glieder und der Geist neu zu Kräften kommen, anstatt in tödliche
Starre zu verfallen.

Wo sucht er diese Lebenskräfte? Er sucht sie bei den Jüngern, bei
den Frauen und Männern, die die werdende Kirche sind. Die ist – wie Markus
gleich zu Anfang erzählt – noch gefangen im Streit, in Diskussion und
Disputation mit anderen und mit sich selbst. Deshalb bleiben die
Lebenskräfte, die Gott seiner werdenden Kirche gegeben hat, noch
unwirksam, noch verborgen. Es macht Jesus zornig, daß sie nicht erkennen:
Sie sind Teil der Lebenskraft Gottes und haben teil an ihr. Dabei wird klar,
was Kirche ist, wenn sie wirklich Kirche ist: Kirche – dort vollzieht sich
ein schonender und schützender, ein helfender und heilender Umgang mit dem
beschädigten Leben! Kirche – eine heilende Gemeinschaft!

Heute suchen Menschen neu nach Lebensenergie. Sollen sie in esoterische
Zirkel abwandern? Sollen sie unnahbare, kalte kosmische Kräfte anbeten?
Sollen sie mit Geld bezahlen, was in Gold nicht aufzuwiegen ist: jemand
hört mir zu, jemand berührt mich freundlich, jemand betet für
mich, jemand gewährt mir Schutz, jemand segnet mich?

Das wäre ja schon etwas gewesen: Wenn die Jünger den geschundenen
Sohn und den geschlagenen Vater freundlich in ihre Mitte genommen hätten!
Wenn sie gebetet statt gestritten hätten! Das wäre – inmitten allen
Unheils – schon ein Zeichen des Heils gewesen. Größere Wunder werden
gar nicht erwartet. Mit den Beschädigungen leben zu können und keine
neuen hinzuzufügen, damit wäre bereits viel gewonnen. „Es gibt
erfülltes Leben trotz unerfüllter Wünsche.“ Könnte ich
nach diesem Leitgedanken leben – es wäre schon ein großes Wunder.

Um so wichtiger ist es, daß Jesu Jüngerinnen und Jünger,
daß wir als Kirche uns in dem Vater wiedererkennen.

Bringt ihn her – zu mir! Jesus springt dem besorgten Vater
bei. Er springt ihm sogar mit dem Glauben bei: Alle Dinge sind
möglich dem, der da glaubt.

Das ist ein unmöglicher Satz. Nur von Gott läßt sich sagen:
Alles ist ihm möglich. Was nur von Gott gilt – Jesus spricht es den
Menschen zu, in deren Nähe er kommt, läßt sie teilhaben an
Gottes Lebensmacht.

Unsere Geschichte läßt mich neu entdecken: Für Jesus ist
Glaube das, was viel selbstverständlicher ist, was dem Menschen viel
näher liegt als der Unglaube. Der erste Schrei – ein Neugeborenes schnappt
nach Atem, weiß von nichts, aber kann schon darauf bauen: Meine Lungen
werden mit Luft, meine Glieder werden mit Leben gefüllt. Die Vögel
werfen ihre Jungen aus dem Nest – denn sie werden fliegen. Zutrauen in
die Lebenskräfte, Vertrauen, Offenheit, Ehrlichkeit, Mitgefühl sind
nicht nur die besten, sie sind erste menschliche Regungen.

Glauben also macht lebensgewiß – und deshalb lebensfähig. In
diesem Glauben, sagt Jesus, ist Gott selbst am Werk. Es ist dein Glaube.
Glaube bedeutet, an Gottes Willen zum Leben teilhaben und durch ihn Leben
ermöglichen. Glaube ist das, was das Leben fördert, das
Lebensförderliche schlechthin – also auch Widerspruch und Widerstand gegen
alles, was das Leben beschädigt und bedroht. ‚Bei diesem Kampf‘, sagt
Jesus dem Vater, ‚hast du Gott zum Verbündeten.‘ Denn die Bestie ist auch
angelegt in uns.

Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Es
heißt nicht: „Gott wird’s schon machen.“ Es heißt auch
nicht: „Du mußt alles selber machen.“ Es heißt:
„Laß dich heute, jetzt auf Gottes Kraft mitten unter uns ein!
Laß Gottes gute Kräfte zu bei dir selbst!“

Nun habe ich gehört: Glaube ist das, was mutig, geduldig und stark
macht, was mein Leben fördert und womit ich Leben fördern kann und
soll. Und doch…….und gerade deshalb möchte ich einstimmen in den
Schrei des Vaters: Ich glaube – hilf meinem Unglauben!

Das ist wie der Schrei des Neugeborenen, das nach der Luft schnappt,
von der es umgeben ist. Dieser Schrei trennt den Vater von dem bösen
Geist, der sich in seinem Sohn eingenistet, eingefressen hat. Mit diesem Schrei
vertritt der Vater den Sohn in seiner stummen Verzweiflung – und mit diesem
Schrei läßt sich der Vater in seiner Ausweglosigkeit von Jesus
vertreten. Dieser Schrei ist Lebenskraft: weder leugnet sie das
Lebensgefährdende noch unterwirft sie sich ihm.

Was lockt diesen Schrei hervor? Ist es die Not, in der der Vater keinen
Ausweg mehr sieht? Not kann ungeahnte Kräfte freisetzen! Aber das ist es
hier nicht. Es ist die Nähe Jesu, es ist die Kraft, die von ihm ausgeht:
sie zieht ihn an wie ein Magnet, macht im Vater den Glauben so stark, daß
er in voller Klarheit seinen Unglauben Jesus vor die Füße werfen
kann. Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Mit
diesen Worten hat Jesus dem Vater soviel Glauben zugesprochen, ja, zugemutet,
daß der Vater seinerseits nun seinen ganzen Unglauben ihm zumuten, ihm
anheimstellen kann.

So wird dieser Schrei zum Glauben. Indem er den Unglauben eingesteht,
widersteht er ihm. Indem er die eigenen Grenzen erkennt, überschreitet er
sie – auf einen Größeren hin, dem er sich anvertraut. Der Glaube
an Gott wird Glaube in Gott! Und erst als es auch aus dem Jungen
herausschreit, ist er den bösen Geist los. Im Schrei nach Gottes Hilfe
wird der Glaube geboren. Der eine Schrei entspringt im anderen: Ich
glaube – hilf meinem Unglauben!

Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Das heißt deshalb
nicht: Dem Glaubenden ist alles möglich, was er sich wünscht und
vornimmt. Das wäre ein titanischer Überglaube, der immer der
schlimmste Aberglaube ist. Es heißt: Dem Glaubenden wird möglich,
was Gott sich vornimmt und dem Menschen schenkt.

Der Vater tut, was Eltern für Kinder in Not tun müssen: für
sie eintreten, sie vertreten. Mütter können das oft noch besser als
Väter. Und so vertreten sie Gott. Sie wären aber völlig
überfordert, ließen sie sich nicht selbst vertreten. Alles tun kann
ich erst, wenn ich weiß, daß mein Tun nicht alles ist.

Jesus vertritt Gott und den Vater. Er bringt den Vater dazu, beides
anzuerkennen: Ich bin das Ebenbild Gottes. Ich bin ausgestattet mit starken
Kräften und einer wichtigen Aufgabe. Es ist eine Freude, jeden Tag zu
erwachen und Mensch zu sein. Ich bin gleichzeitig eine Kreatur, die Hilfe und
Kraft braucht und jemanden, der für mich einsteht.

III.

Jesus vertritt meinen Glauben mit seinem Glauben – und in dem hat mein
Unglaube Platz.

Laß dich also berühren vom Heiligen.

Laß Jesus deine Hand ergreifen und dich aufrichten!

Stehe so auf deinen eigenen Füßen!

Wachse hinein in die Vollmacht des Glaubens, die Menschen – Kindern, Frauen
und Männern – die Sprache wiedergibt, sich gegenseitig stützen und
aufrichten läßt – und allem widerstehen, was das Leben bedroht.

Wenn aber die bösen Geister wiederkehren, die Verkrampfungen und
Verzerrungen, wenn ich am Ende doch so wenig machen kann?

Dann bedenke: Vielleicht hat Gott dich an diesen Platz gestellt, weil du IHN
diesem einen Menschen gegenüber vertreten darfst – nicht als
erträumter, sondern als wirklicher, nicht als vollkommener, sondern als
angefochtener Mensch, der selber Hilfe braucht. Nur so kannst du ja der
Anderen, dem Anderen nahe sein. Wenn du weißt, wie
ergänzungsbedürftig du selbst bist, bekommst du den Blick für
das, was andere zum Leben brauchen.

So kommst du an Ratlosigkeiten nicht vorbei – aber hindurch.

Du bist gewürdigt, Gottes Liebe zu vertreten, die einzige Macht, die
nicht nach Nutzen und Kosten fragt, die jeden Menschen bejaht um seiner selbst
willen.

Dazu hat Gott sich mit Menschen wie dich verbündet und dich im Glauben
zum Leben ermächtigt.

Du bist Teil der Lebenskraft Gottes – und du hast teil an ihr.

Und mach‘ es so, wie der Arzt, von dem ich neulich hörte, eine
Kapazität auf seinem Gebiet. Sein junger Assistent fragt ihn: „Wenn
für einen schwierigen Eingriff alles bestens vorbereitet, wenn alles
Menschenmögliche getan ist, warum gehen Sie dann ans Fenster?“ –
„Ich blicke dann zum Himmel und bete.“

Beten – das allein hilft, sagt Jesus in ihrem Gespräch nach diesem
Ereignis seinen Jüngern. Aber Beten kann doch keine Tat ersetzen!?
Richtig. Beten ersetzt keine einzige Tat. Aber keine Tat kann Beten ersetzen.
Nicht einmal die Summe aller Taten kommt gegen das Beten auf. Beten
schwächt aber doch die Ich-Kräfte!? Betende können Ich sagen,
ohne alles nur von sich erwarten zu müssen. Betende handeln und lassen
geschehen, was handelnd nicht erreicht werden kann: Vertrauen, Gewißheit
zum Beispiel. Was dem Beten folgt, so Gerhard Ebeling sinngemäß,
kann ohnehin nicht dafür einstehen, ob das Gebet gehört und
erhört ist, sondern nur, da es gehört ist, wie es erhört ist.

Und Beten ist etwas für Menschen, die keine großen Worte machen
mögen. Solltest du zu diesen Menschen gehören, solltest du besonders
nüchtern bleiben wollen, dann denke – und deshalb bete:

Ich soll ja nicht möglich machen, was unmöglich ist. Allerdings:
Nicht unmöglich zu machen, was möglich ist, dazu bin ich berufen.

Kann ich dieser Geschichte Glauben schenken?

Diese Geschichte schenkt mir Glauben!

Amen.


Literatur:

Klaus Berger: Darf man an Wunder glauben?, Stuttgart 1996

Jürgen Ebach: Wie einer auf die eigenen Füße kam.
Bibelarbeit über Markus 9,14-29, in: Hiobs Post, Neukirchen 1995, S.
164-182

Michael M. Schönberg: von oben herab. 32 Texterhebungen, Stuttgart
1995, S. 91-95

Gerd Theißen: Die offene Tür. Biblische Variationen zu
Predigttexten, München 1990, S. 61-65

Gerd Theißen: Lichtspuren. Predigten und Bibelarbeiten, Gütersloh
1994, S. 117-131

Hans Joachim Schliep
Pastor auf dem Kronsberg (EXPO-Wohngebiet)
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Tel./Fax: 0511-52 75 99
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