Matthäus 1

Matthäus 1

Anmerkungen

Liebe Gemeinde in der heiligen Nacht,

1.
Geburtsgeschichten haben ihre eigene Logik und Bedeutung. Die vierjährige
Anna setzt sich zu ihren Eltern und bittet sie: „Erzählt doch
noch einmal die Geschichte, wie ihr euch gefreut habt, daß ihr ausgerechnet
mich als Kind bekommen habt.“ Die Eltern kennen das Ritual, es ist
schon viele Male abgelaufen. Die Mutter beginnt zu erzählen, der
Vater fällt ein und Anna strahlt. Sie kann diese Geschichte immer
wieder hören. Sie handelt davon, daß Anna wichtig ist, um nicht
zu sagen einzigartig. In der Erzählung der Eltern spiegelt sich wider,
daß sie geliebt und geschätzt wird, auch wenn sie hin und wieder
eine Kratzbürste ist. Sie schöpft daraus Vertrauen und Selbstbewußtsein.
Sie hat ihren Platz in der Familie und damit in Welt gefunden. Wer weiß,
womöglich sind auch heute Abend Geschichten erzählt worden von
Ereignissen, die mit Kindern, Enkeln oder gar Urenkeln zu tun haben, hinreißende
und abenteuerliche.

„Ausgerechnet mich“, hat Anna gesagt. Geburtsgeschichten
werden erzählt, um die Bedeutung einer Person herauszustreichen.
Es wird eine Beziehung hergestellt zwischen der Geburt und späteren
kleinen oder größeren Taten, mitunter auch zu Ereignissen.
Doch nicht historische Einzelheiten sind wichtig, die Person steht im
Mittelpunkt. Auf .sie ist alles zugeschnitten.

Am Heiligabend feiern wir die Geburt Jesu Christi, jenes Ereignis, mit
dem eine neue Zeitrechnung begonnen hat. Es ist das größte
Fest im Jahr, von den meisten Menschen in unseren Breiten erwünscht
und ersehnt. Wir haben die Geburtsgeschichte bereits im Ohr: „Es
begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus
ausging, daß alle Welt geschätzt würde…“ So von
Lukas erzählt. Um diese mitternächtliche Stunde steht freilich
eine andere Version der Geburt Jesu im Vordergrund, die vom Evangelisten
Matthäus berichtete. Ich lese sie in Ausschnitten vor:
(Matth. 1, 1 + 18 – 25)

2.
Diese Geburtsgeschichte ist nicht so eingängig erzählt und nicht
so breit dargeboten wie die lukanische, sie ist sachlicher und nüchterner.
Sie bringt dadurch wichtige Dinge auf den Punkt. Der matthäische
Bericht bietet eine Menge auf, um die Bedeutung dieses Jesus zu unterstreichen.
Ein ganzer Stammbaum wird vorgetragen, von Abraham bis zu Josef; von einem
Traum mit einer Engelserscheinung wird berichtet und die Namensgebung
spielt eine hervor gehobene Rolle.

Josef ist in diesem Bericht die handelnde Person. Er überlegt sich,
ob er Maria heimlich verlassen soll, als er ihre Schwangerschaft bemerkt.
Auf heute übertragen: Es gibt manchen modernen Josef, der aus der
Familie abhaut oder auch weggeschickt wird, und sei es wenige Tage vor
Weihnachten, dann wenn der Erwartungsdruck besonders groß ist. Es
sieht so aus, als sei auch die heilige Familie durchaus keine heile gewesen.
Bleibt eine allein erziehende Maria zurück? Da sei Gott vor!

Er ist in dieser Geschichte längst im Spiel. Das Matthäusevangelium
geht selbstverständlich davon aus, daß Gottes Geist von Anfang
an in diesem Jesus war. Ob die Jungfrauengeburt uns hilft, dies besser
zu verstehen, darf bezweifelt werden. In der Antike war sie eine geläufige
Vorstellung, die durchaus akzeptiert war. Aber heute? „Gott ist im
Fleische: wer kann dies Geheimnis verstehen?“, heißt es bereits
in einem Weihnachtslied von 1731. Daß Gott Mensch wird, ist die
ungeheuerliche und zugleich wunderbare Aussage der Weihnacht. Uns zugute
geschieht dies. Wir werden so sehr wertgeschätzt, daß Gott
einer von uns wird. Ausgerechnet von uns, die wir ständig zwischen
Gutem und Bösen schwanken und der Sünde längst erlegen
sind.

3.
Josef muß dies auch erst begreifen. Durch einen Boten, auch Engel
genannt, der ihm im Traum erscheint. Erst da geht ihm ein Licht auf. Ein
ganzer Kronleuchter. Wenn Gott Mensch wird, sprengt das die üblichen
Maßstäbe.

Er hat nun nicht mehr die Neigung, Maria heimlich zu verlassen. Er bleibt,
wo er ist, an ihrer Seite. Als das Kind geboren ist, schreitet er zur
Tat: Er gibt ihm einen Namen. Er muß nicht lange überlegen,
wie er heißen soll. Wie das bei jungen Eltern heutzutage ist. Namen
sind eben nicht Schall und Rauch, sie sagen viel über das Kind und
womöglich noch mehr über Mutter und Vater aus. Hat er einen
guten Klang? Paßt er zu unserer Familie oder wollen wir darauf keine
Rücksicht nehmen? Mit wem möchte wir uns identifizieren? Es
kann auch sein, daß der ausgesuchte Namen in letzter Minute verworfen
wird. Mein Vater hat, so erzählt die Familienmär, auf dem Weg
zum Standesamt meinen bereits festgelegten Namen von sich aus noch geändert.
Da habe ich nun die Bescherung, eine, die mir durchaus gefällt. Joseph
brauchte sich solche Überlegungen nicht zu machen. Der Name des Erstgeborenen
stand fest: Jesus. Oder aramäisch ausgesprochen: Jeschua. Was bedeutet:
Er ist meine Hilfe und mein Heil. Oder auch was Josef als Begründung
gesagt bekommt: „Er wird sein Volk erretten von ihren Sünden.“
Der Name ist Programm.

Der Evangelist Matthäus fügt ein Zitat aus dem Propheten Jesaja
hinzu: „Siehe, eine junge Frau wird schwanger sein und einen Sohn
gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben.“ Das heißt
übersetzt. Gott mit uns. In diesem soeben geborenen Kind ist Gott
mit uns.

Eine ungemein tröstliche Aussage, die jetzt gilt und künftig.
„Ich werde da sein.“ Auch wenn du es nicht gleich merkst. Du
wirst meine Nähe erfahren. Dies steht im ersten Kapitel des Matthäus-Evangeliums.
Im letzten wird es wieder aufgegriffen. „Siehe, ich bin bei euch
alle Tage bis an der Welt Ende.“

4.
Der Geburtsgeschichte ist bei Matthäus ein langer Stammbaum vorgeschaltet.
Warum? Heutzutage ist es unüblich geworden, in langen Familientraditionen
zu denken. Bei Anzeigen in der Zeitung sind oft nur Vornamen erwähnt.
Als sei die Sippe nicht von Belang. Es wird etwas veröffentlicht
und zugleich versteckt. Ein merkwürdiger Widerspruch. Sind wir nomadisierende
Individualisten?

Matthäus stellt Jesus in eine lange Reihe von Generationen, gegliedert
in dreimal vierzehn, also 42 Generationen. Wozu dies? Jesus wird in eine
Geschichte voller Verheißungen gestellt. Über 1000 Jahre hinweg
wird der Bogen zu ihm geschlagen. David wird erwähnt, jener König,
der die Messiasvorstellung aus sich heraus gesetzt hat. „Hosianna,
Davids Sohn, sei gesegnet deinem Volk!“ Jesus wird selbstverständlich
in die Geschichte seines Volkes eingeordnet. Abraham wird genannt, er
steht im Stammbaum ganz am Anfang, jener Erzvater, von dem es heißt,
daß in ihm alle Geschlechter auf Erden gesegnet sein sollen. Hier
wird über Israel hinaus der Blick auf alle Völker gerichtet.
In einem Weihnachtslied ist dies aufgegriffen: „Welt ging verloren,
Christ ist geboren“.

Eine weitere Besonderheit: In diesem Stammbaum, in dem fast nur Namen
von Männern stehen, sind neben Maria vier weitere Frauen aufgenommen
worden. Auffällig ist, daß sie alle Ausländerinnen waren.
Das Weltweite und Weltläufige wird hierdurch unterstrichen. Zugleich
wird damit herausgestellt, daß Frauen in der Verheißungsgeschichte
eine tragende Rolle haben. Damit sind wir bei Maria angekommen. Welche
Bedeutung hat sie für uns, für evangelische Christinnen und
Christen?

5.
Lassen Sie mich abschließend eine Episode erzählen, die sich
in diesem Sommer zugetragen hat, und zwar in Grimma, der malerischen sächsischen
Stadt an der Mulde. Während der Flut. Die Familie Seidel war in diese
Stadt gezogen. In der alten Wohnung hatten sie auf der Tiefkühltruhe
ihren kleinen Hausaltar eingerichtet, mit einer Madonna, eine Elle lang,
weiß und gold. „Stellen Sie sich vor“, erzählt die
Frau, „kommt doch plötzlich auf dem Wasser die Tiefkühltruhe
mit der Madonna angeschwommen!“ Die Truhe war Schrott und nicht mehr
zu gebrauchen. Die Madonna haben sie mitnehmen können in eine schlichte,
zu DDR-Zeiten errichtete Neubauwohnung. Da sieht man, was über den
Tag hinaus Bestand hat und was nicht untergehen darf. Die Madonna ist
natürlich Maria, die Mutter Jesu. Wenn wir glauben, daß in
Jesus Gott Mensch geworden ist, können wir sie auch Mutter Gottes
nennen. Wir Protestanten werden sie nicht an die Stelle Jesu setzen und
auch nicht zu ihr beten. Aber sie in Ehren zu halten, steht uns wohl an.
Gerade in der Heiligen Nacht. Und Lieder zu singen, in denen sie genannt
ist:

„Den aller Welt Kreis nie beschloß, der liegt jetzt in Marien
Schoß;
er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein. Kyrieleis.“

Amen

Anmerkungen:

1. Ich entscheide mich dafür, über den ganzen Abschnitt (Matth.
1,1-25) zu predigen, ohne ihn ganz zu verlesen. Die matthäische Fassung
der Geburt Jesu hat in Form und Inhalt einen eigenen Zuschnitt, der es
verdient nachgezeichnet zu werden.

2. Geburtsgeschichten sind eine eigene Gattung, von der Antike bis zur
Gegenwart, auch wenn sie sehr verschieden ausfallen können, wie man
an Matthäus 1 im Vergleich zu Lukas 2 unschwer erkennen kann. Die
Besonderheit der Geburtsgeschichte versuche ich an einem heutigen Beispiel
darzustellen und steige gleich damit ein, um so einen Schlüssel für
die Entfaltung des Predigttextes zu haben.

 

Dr. Hinrich Buß
Landessuperintendent i. R.
37075 Göttingen
Ludwig-Beck-Straße 4

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