Matthäus 1,1-17

Matthäus 1,1-17

Die Lieferkettensorgfaltspflicht des Matthäus | Christfest II | 26.12.2022 | Mt 1, 1-17 | Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

im Weihnachtfest feiern wir die geniale Initiative Gottes, seinen Sohn Jesus in unsere Welt zu schicken. Wir feiern Weihnachten aber auch, weil wir seinen Frieden brauchen, der uns so einfach nicht gelingt. Deswegen bringen uns Bilder weiter, die auf beides hinweisen: Auf Gottes Initiative und auf sein Hilfsprogramm für uns. Bilder wie zB. „ein Stern in dunkler Nacht“ oder „eine Rose, die im Winter blüht“. Das bekannte Weihnachtslied besingt eine Rose, die aus einer zarten Wurzel entspringt – „mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.“ Beim Propheten Jesaja ist es ein abgeschlagener Baumstumpf namens Jesse, aus dem ein neuer Sproß hervorgeht. Das Weihnachtslied lobt dann Maria als „reine Magd“. Sie besingt schon in der Schwangerschaft den Lebensmut ihres Kindes Jesus, mit Worten, die Jesaja prophezeit hat: Er wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande. Wir schließen uns Jesaja und Maria an, wenn wir bekennen: Auch für uns ist er „wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod.

„Wahr‘ Mensch und wahrer Gott“ – davon erzählt der Evangelist Matthäus seinen Zuhörern eindrücklich. Von seinem Anfang bis zu seinem Ende hat Jesus diese doppelte Identität. Was sind dazu unsere Gedanken? Bei seinem Ostersieg wird zunehmend deutlich, dass er „wahrer Gott“ ist, bei seiner Geburt weist alles darauf hin, dass er als „wahrer Mensch“ startet. Aber anders herum auch: In seinem Leiden ist er uns der glaubwürdigste Mensch, die Umstände seiner Geburt machen ihn zum Vorbild als geniales Gotteskind. – Zu Zeiten des Matthäus verdichteten sich diese Fragen und Gewissheiten in der Leitfigur des Messias. Seit Jahrhunderten war er seinem Volk Israel als Heilsbringer und Friedenskönig zugesagt worden; dabei wird er kompatibel sein zu Gott als seinem Ewigvater und kompatibel zu uns als menschlichem Prototyp, noch mehr, als die Erzväter und Propheten es waren. Aber kann dann Jesus, der so schändlich gekreuzigt wurde, mit Gott identisch sein? Angesichts seines Scheiterns – waren denn zumindest Jesu Absichten und seine Abstammung lupenrein?

Um plausible Antworten dazu zu finden, schreibt Matthäus seine Jesus-Biographie, beginnend mit der Widmung: “Dies ist das Buch vom Werden des Jesus Christus, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.“ Er benutzt also bewusst den Doppelnamen Christus Jesus und benennt David und Abraham als dessen geistige Väter. Die vielen Generationen zwischen diesen beiden Lichtgestalten versteht er als Phasen des Werdens. Jesus Christus wuchs demnach als Messias heran, aus vielen Verheißungen Gottes und auf einigen Irrwegen seines Volkes. Dazu reiht Matthäus auch die babylonische Gefangenschaft mit ein, was für jüdische Ohren die Sache glaubwürdig macht. Wir ergänzen: Seit Weihnachten und Ostern ist Jesus Christus „wahr‘ Mensch und wahrer Gott, der uns aus allem Leid heraushilft und uns rettet von Sünd und Tod“.

Um das Werden des Christus über zig Generationen nachzuvollziehen, blättert Matthäus – bildlich gesprochen – in Jesu fiktivem Geburtsregister. Das unterteilt er in große Kapitel, die er so abgrenzt: “So sind es nun von Abraham bis David vierzehn Generationen, von David bis zur babylonischen Gefangenschaft vierzehn Generationen und von dort bis auf den Christus hin noch einmal vierzehn Generationen.“ Dieses Blättern in alten Dokumenten erinnert mich an einen Besuch in einer ungarischen Kirchengemeinde, als der Pfarrer alte Protokollbücher und Taufregister aus dem Stahlschrank holte. Die älteste Taufeintragung war über 450 Jahre alt. Da es damals noch keine Standesämter gab, sind diese Urkunden die einzigen für jedwede Ahnenforschung. – Übertrage ich dieses Bild auf den Stammbaum Jesu, dann müssten die bis zu 1000 Jahre alten Dokumente im Tempel zu Jerusalem lagern, unter strenger Aufsicht des Hohen Rats. Denn nur er konnte die koschere Abstammung attestieren, die man benötigte für den Eintritt in ein Kloster, auch für eine Priester-Karriere – und ganz sicher für eine Messias-Würde.

Aber diese Altakten waren wohl nicht griffbereit, Jesus hatte so schlichte Rufnamen wie „Mariaskind“ und „Josephssohn“. Jubelte die Bevölkerung ihm als „Davidssohn“ zu, wurden die Römer wütend. Wenn er Abraham zitierte, fanden die Frommen seine Verse eher satanisch. Mit seinen Urahnen konnte Jesus also nicht wirklich punkten. Da also Dokumente fehlten, entwickelten Lukas und Matthäus imposante Ahnengalerien. Lukas ging über 71 Generationen zurück bis Adam und Eva, Matthäus verwurzelte Jesus in der Wirkungsmacht des Abraham und des David. Abraham stand dabei als großer Segensschirm über alle Menschengeschlechter und Glaubenshaltungen. David stand dabei – als legendärer Friedenskönig – für alle politischen Heilserwartungen. Denn dem Matthäus ging es – modern gesprochen – um die Überzeugungs-DNA, die Jesus zum Messias werden ließ. In ihm hat Gott zu seinen Verheißungen endlich die Erfüllung geliefert. Die Ahnengalerie galt als Nachweis, dass für den Messias die Lieferkette Gottes keinerlei Unterbrechung hatte.

Für uns heute ist eine beglaubigte Geburtsurkunde unverzichtbar; bei Asylanten bitte mit Nachweis eines koscheren Fluchtgrundes. Wem da ein Stempelabdruck fehlt, der wird bei uns nicht eingebürgert. Matthäus will aber Juden in den christlichen Glauben einbürgern, dazu braucht er zu jeder seiner 42 aufgeführten Ikonen ihr Kopfnicken. Doch bezüglich einiger Namen erntet er Kopfschütteln. Denn zwischen den illustren Helden wie zB Salomo, Rehabeam, Joschafat, Ahas und Hiskia tauchen einige Namen von Frauen auf, die als moralisch anrüchig galten. Also nicht die großen Glaubensmütter wie Rebecca oder Sarah, sondern Tamar und Rahab, Maria und Ruth, indirekt auch Davids Bathseba. Starke Frauen, geschwängert gegen ihren Willen, ohne jede Absicherung, auch  Prostituierte… Heute wären sie Anführerinnen der #metoo-Bewegung. Matthäus gibt ihnen wichtige Plätze in Jesu messianischer DNA, der, wo immer es Anlass gab und gibt, „Recht spricht den Elenden im Lande“. Danach sind sie leidenschaftlich auf der Suche, und Jesus ist für sie da.

Für uns heute sagen Stammbäume, die 1000 Jahre zurückreichen, nicht viel. Haile Selassie behauptete, dem Liebesakt einer äthiopischen Königin mit Salomo abzustammen. Seit 2000 Jahren legitimieren sich alle Päpste mit der „apostolischen Sukzession“ von Petrus, dem Jesus zusagte: „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“ (Mt 16,18) Intern können sich Karol Wojtila, Joseph Ratzinger oder Jorge Bergoglio zwar darauf berufen, aber nach außen hin müssen sie ihre Vertrauensstellung und ihre Konfliktmanagement spontan beweisen – gegen die Mächte der Unterwelt und gegen innere Gegenkräfte. Dies scheint auch in unserem Denken für Jesus zu gelten. Er ist für uns vollmächtig, aber nicht durch seine Abstammung, sondern durch die Stimmigkeit dessen, was er sagte und wie er was tat. Für uns ist ein so schematischer Stammbaum kein zwingender Beweis seiner Messianität und auch kein Werbemittel, um Atheisten ins Christentum einzubürgern. Aber schon bei Matthäus spüren wir eine neue Freiheit im Umgang mit der Datenlage. Er nimmt skandalbehaftete Frauen mit hinein, ebenso die Katastrophe der babylonischen Gefangenschaft, und dazu noch eine Unstimmigkeit. Alles, was auf Jesus als Messias zuläuft, stoppt beim Ziehvater Joseph. 41mal zeugen berühmte Väter einen noch berühmteren Sohn, nur Joseph zeugt seinen Jesusknaben nicht. Matthäus schreibt umständlich: „Großvater Mattan zeugte Vater Jakob. Der zeugte den Josef, den Mann der Maria, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus.“

Hier prallen zwei Überzeugungen aufeinander, die messianische Ableitung Jesu bis kurz vor Joseph und seine biologische Zeugung in der reinen Magd Maria an Joseph vorbei. Über diesen Konflikt „Davidsabstammung oder Jungfrauengeburt“ urteilen wir nicht als Familiengericht, aber wir können den Freimut der Evangelisten weiterführen. Wie zB. den des Matthäus, der dann munter 26 Kapitel anschließt, voller Episoden der Jesus-Biographie, die in uns die Überzeugung heranreifen lassen: Ja, auch ich erkenne in Christus Jesus den wahren Menschen und den wahren Gott, der mir hilft aus allem Leide und uns allesamt rettet von Sünd und Tod. Dabei bekommen besondere Texte eine neue Tragkraft. ZB. die Seligpreisungen, auch die Krankenheilungen, Jesu aufrechter Gang durch seine Passion, sein Gebetskampf, das Vater-unser, die Einsetzung des Abendmahls und viele Einzelverse, die früher in den Bibeln fettgedruckt waren. Jeder von uns wird anders fündig. So entsteht Glaube, der einem Baum gleicht, verwurzelt in tiefen Wasserschichten; der seine Frucht bringt zu seiner Zeit.

Mit dem Stammbaum Jesu spürte Matthäus die Wurzeln des Messias auf. Wir betrachten das Sinnbild eines großen Baumes, aber dann dreht sich die Sichtweise auf uns selbst. Wir können den Stamm der Vorfahren ersetzen durch Jesu innere Festigkeit, durch seine punktgenaue Retterliebe, durch seine Reich-Gottes-Entwürfe. In diesem Glaubensbaum wachsen wir mit und spüren, wie sich der Segen des Messias und seine konkreten Berufungen verästeln im Priestertum aller Gläubigen. Darin machen wir uns fest, wenn wir Gottes Barmherzigkeit weitergeben oder wenn wir den Elenden um uns herum Schatten spenden. Amen.

Fürbitten (nach einer Idee aus: www.treklang.de)

Jesus, du bist uns seit deiner Geburt so nahe, wie ein Mensch dem anderen nur nahe sein kann.

Mit innerer Festigkeit machst Du uns große Geschenke außerhalb der Gabentische: Mut schenkst du uns, wenn wir ganz unten sind; Freiheit, wenn wir toxische Bindungen lösen, und Hoffnung, wenn wir nicht weiterwissen. Jesus, du bist uns: „Wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilf und rette und befreie!“

Jesus, Du wirkst in unserer Welt. Mit deiner inneren Festigkeit machst Du die Dunkelheit hell – in uns und um uns herum. Dein Licht führt uns vom Irrweg zurück und verkürzt die Umwege des Lebens. Jesus, du bist uns: „Wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilf und rette und befreie!“

Jesus, Du wurdest erwachsen und wir lernten dich in deiner Vollmacht kennen. Dabei berührt uns deine Sorge um uns im Wahnsinn der Kriege und Bürgerkriege, in Gefahren und Unfällen, in Epidemien und Schicksalsschlägen. Jesus, du bist uns: „Wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilf und rette und befreie!“

Jesus, wir erkennen in Dir die Erfüllung der Verheißungen. Du gibst sie an uns weiter, Du hast uns ausgesandt, unsere Stimme zu erheben für die Stummen, gutes Recht zu erwirken für die Unterdrückten, Heiterkeit zu bringen zu den Elenden. Wir trauen uns das nur zu durch deine Hilfe. Jesus, du bist uns: „Wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilf und rette und befreie!“

Jesus, wir teilen mit Dir deine Vorgeschichte. Auch für uns steht Abraham für den Segen, Mose für die Befreiung, David für ein faires Regieren. Schenke jedem Einzelnen von uns neue Visionen, ohne keine junge Generation aufwachsen kann. Jesus, du bist uns: „Wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilf und rette und befreie!“

Jesus, wir teilen mit Dir die Gewissheit, dass Gott seine neue Welt für uns bereithält. Dass sein Licht siegen wird und er alle Tränen abwischen wird. Unser tiefer Wunsch ist, dass wir uns an diesen Verheißungen festhalten und dass sie uns eine Beständigkeit verleihen. Jesus, du bist uns: „Wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilf und rette und befreie!“

Amen

Liedvorschläge:

EG 012 Gott sei Dank durch alle Welt

EG 030 Es ist ein Ros entsprungen

EG 038 Wunderbarer Gnadenthron

Aus dem Himmel ohne Grenzen (Huub Oosterhuis)

Ein Lied hat die Freude sich ausgedacht

Jubelnd singt der Engel Chor, sing Halleluja, Amen.

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb. 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn (1988- 2011) und Ruanda (2001-2019). Musiker und Arrangeur.

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