Matthäus 1,1-17 (18-21)

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Matthäus 1,1-17 (18-21)

Ahnenwanderung | Christfest II | 26.12.2022 | Mt 1, 1-17 (18-21) | Jochen Riepe |

 I

Ein  Name, ja, ein Name… ‚Siehe, die Jungfrau wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk von seinen Sünden retten‘.  ‚Name ist Schall und Rauch‘, sagt man. Nein, ein menschlicher Name ist etwas Göttliches (Jes 43,1), er erzählt Geschichten, er umhüllt  Leib und Seele, er trägt durch Schmerz und Glück.

II

Sie kannte  alle … und besonders an Weihnachten, am Fest des Namens Jesus, zeigte sich dies: ‚Was macht die Verena? Grüß bitte Sven von mir!‘ Aber mehr: Adelheid, ledig geblieben, faszinierte  mit ihren Streifzügen in die Familiengeschichte, drei, vier Generationen zurück. ‚Ahnenwanderung‘: Urgroßvater Ludwig holte seine Frau Luise vom Land, Ururopa Hermann hatte eine Zigarrenmanufaktur, Onkel Fritz wanderte aus … Die Älteren schmunzelten, uns Kindern aber leuchtete das Christfest noch mehr: Wären wir doch dabei gewesen!

Nicht wahr, das ist Kitt für die Risse und Spaltungen im Haus einer Großfamilie und ein an Feiertagen besonders wertvolles Bindemittel: Eine unter uns, die Gegenwart und Vergangenheit, die vielen Zweige am Baum des ‚Werdens‘, ‚der alten Väter (und Mütter!) Schar‘ (eg 12,2),  zusammenhält und ehrfürchtig -spannend davon erzählen kann. Schade, daß Tante Ada nicht mehr bei uns ist. Sie gab dem Treffen  einen persönlichen Glanz.

III

Ihr habt es euch schon gedacht: Namen für Namen türmt auch Matthäus zu Beginn seines Evangeliums auf: ‚Buch vom Werden Jesu Christi‘. In einer langen Aufzählung wird uns ein beeindruckender Stammbaum  vorgetragen. Wer kann das alles behalten…  schon das Vorlesen und Zuhören ist ja schwierig und erfordert Geduld. Von Erzvater Abraham und König David über Rehabeam und Hiskia bis zu Josef und Maria. Wichtige Frauengestalten des Alten Testaments tauchen auf, Tamar und Ruth unter ihnen, und die Ausleger haben sich die Köpfe darüber zerbrochen, warum es gerade diese Frauen sind und was sie verbindet.

Ja, der Messias Jesus, ‚der zweigestammte Held‘, ‚empfangen durch den heiligen Geist‘, er hat eine lichtvolle ‚Werdens-Geschichte‘. Dreimal vierzehn Geschlechter, als bräuchte er etwas im Rücken, einen Schutzraum der Namen, die ihn inspirieren, Energie geben und in seinem Werk tragen; Frauen und Männer, Zeugen der Treue Gottes , der sein Volk durch Jahrhunderte und Jahrtausende führt und erhält: Jesus, der ‚Immanuel‘ (1,23) – Gott ist mit uns. ‚Zukunft braucht Herkunft‘ (O. Marquard), sagt der Philosoph.

IV

Mitten in die Namensliste, mitten in die zielbestimmte Generationenfolge trägt Matthäus allerdings ein Ereignis ein, das die Leser oder Hörer seines Buches vermutlich hat aufschrecken, ja, aufschluchzen lassen: Ein Mißton, ein ‚Nebengesang‘, der die erste Stimme aufstört. Das Trauma, die Wunde des jüdischen Volkes, viele Jahrhunderte zurück und doch bleibend gegenwärtig.

Viermal werden sie erinnert: Die Schmerzen, die Gewalt, Tränen und Trauer, die mit der ‚babylonischen Gefangenschaft‘ des Volkes verbunden waren. Sollte auf diese Weise die gerade Linie gleichsam ‚parodiert‘ werden? Glanz und Elend in einem? Eine stolze Genealogie, die ‚Schultern der Giganten‘, können ja mißverstanden werden, als wären sie eine Art Modellrechnung für die Zukunft – bei den Wurzeln sehen wir schon den prächtigen Baum. In der Kontinuität ein – Bruch, ein Riß: das Ende des Königtums, das Ende des Tempels, das Ende der Gewißheit, von Gott vor den Völkern ausgezeichnet zu sein. Ein Ende, das viele zum kritischen Innehalten und zu Umkehr, Umdenken und Neuorientierung anleitete.

Matthäus lebt Jahrhunderte später und sieht in seiner Zeit die Folgen des ‚Jüdischen Krieges‘, der Zerstörung Jerusalems und der endgültigen Herrschaft der Römer über das ‚Land Israel‘(2, 20). Ist es heute nicht wie damals? ‚Die Welt in Stücke gefallen‘ (H. Arendt). Wird Gottes Geist uns durch dieses ‚Gräberfeld‘ (Ez 37,1) ebenso leiten? ‚In Sünden verstrickt‘, in Trauer und Sehnsucht gefesselt, mußte der Messias Jesus doch jetzt etwas zu sagen haben. Er mußte ‚erfüllen‘(5,17), was mit den Müttern und Vätern begann, und den ‚Gefangenen Befreiung bringen‘.

V

Ja, sein Name soll ‚Jesus‘ sein, ‚denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden‘.

Tante Ada und der Weihnachtsfamilien- Kitt… Ein Name blieb in ihren Erzählungen unerwähnt, und erst später erfuhr ich von ihm: Heinz-Georg, den in Rußland gefallenen Verlobten. Dieser Name zeigte den Schmerz der Frau und die ‚Gefangenschaft‘ ihrer Seele an, sie, die doch immer so freundlich und zugewandt war und mit den Namen jonglieren konnte. Man lenkte ab, wenn das Gespräch drohte, ihm nahezukommen.

Die Alten unter uns erinnern sich: Auch in den fünfziger und sechziger Jahren spielte ‚der Krieg‘, der Zweite Weltkrieg, und seine Folgen in den Seelen und in den Gesprächen eine große Rolle. Noch eine zerbrochene Welt. Wir Kinder schnappten es auf: Vorwürfe, Streit, Skepsis, Alkohol, Ausgelassenheit, Gaunereien, ‚Augenblicksgier‘ (I. Bachmann) …  August, Reinhard und Werner kamen zurück aus Kriegsgefangenschaft und  waren chronischen Nervenkrisen ausgesetzt, aber sie lebten und durften mit aufbauen. Heinz-Georg aber war nicht zurückgekehrt. Irgendwann stand es amtlich fest, der Verlorene wurde für tot erklärt. ‘Sie waren ja nur verlobt‘, entlastete man sich.

Adelheid ertrug das Schweigen, aber wie mag es in ihrem Herzen ausgesehen haben – gerade an den Weihnachtstagen, als die Zukunft in Gestalt von uns Jungen, den Nachkriegsgeborenen, eingezogen, sie aber allein geblieben war.

VI

Was in der Familie umgangen wurde, Matthäus stellt es mit an den Anfang seines Evangeliums: Zur Geschichte der Sehnsucht gehört auch die Trauer, und von welchem Trauma, von Rahels Weinen, die sich nicht trösten lassen will, wird er bald selbst sprechen müssen. Aber wie kann ‚sein‘ Messias, der Gottes- und Menschensohn, der Sohn Tamars, Ruths und Marias,  die Wunden des Volkes heilen? Manche hofften, er würde ein gottgesandter König sein, der in politisch-militärischen  Aktionen, im Partisanenkampf, die Fremden vertreibt und die Teile des Landes wieder sammelt und in neuer Herrschaft wiedervereinigt. So hatte es ja Gott dem Propheten verheißen (Ez 37, 15-22).

Er heißt ‚Jesus‘ und ‚wird sein Volk retten von ihren Sünden‘. Ich sagte es: Der Evangelist schreibt in einer Nachkriegszeit, nach dem Verlust einer gemeinsamen Welt und eines tragenden Glaubens: ‚Wir schwinden aus der Welt wie Heuschrecken, unser Leben ist ein Rauch‘(4.Esra 4,23f). Er schreibt für Menschen im Elend, in innerer Verbannung, gefangen in Rachegedanken und Illusionen, ‚in Sünden verstrickt‘(L. Schottroff): ‚Wer ist der Größte im Reich der Himmelreich‘(18,1)? Herzenshärte der Gedemütigten und Unterdrückten. Wer führt den ‚Gegenschlag‘(26,51) gegen die Unterdrücker?

Entgegen den politischen Messias-Anwärtern dieser Zeit spricht der Evangelist aber von einem, der die Menschen in der Vollmacht des Geistes mit Gott soz. ins Reine bringt, der ‚Väter und Kinder‘ (Lk 1,17) zusammenführt,  der sie lehrt, ‚barmherzig‘ und ‚sanftmütig‘ (5, 5.7), eben gewaltfrei, mit sich und miteinander umzugehen; ein Messias, der eine Gemeinde bauen wird, die vergeben und neu anfangen darf: Ja du, ‚du, laß dich nicht verhärten‘. ‚Sei dir selbst wieder gut‘.

VII

Aber braucht ein solcher Messias eine Herkunft und Legitimation? Er spricht doch in ‚Vollmacht‘ (9,6). Er hat doch Charisma, einen ‚eigenen Kopf‘ – er ist ‚unmittelbar zu Gott‘.  Braucht der eine Name Jesus die vielen Namen? ‚Wenn der Messias kommt, so weiß niemand, woher er stammt‘, sagten manche damals (Joh 7,27).

Matthäus lehnt  solchen ‚woken‘ Aktionismus ab. Ich brauche soz. etwas im Rücken,  die ‚Wolke der Zeugen‘ (Hebr. 12,1), die Erzählungen der Väter und Mütter, Verheißung und Gebot, Sehnen und Seufzen, Menschen wie einst Tamar, ‚die Entschlossene‘(Th. Mann), die mich lehrt, meinen Ort in der Gottesgeschichte zu finden, auch wenn andere ihn bestreiten. Die Gewißheit eines eigenen Lebens kann der empfangen und zusprechen, der sich von der ‚verwundeten‘ Verheißungs- und Gottesgeschichte geschützt, bestärkt und – und auch gebremst und korrigiert weiß: Abraham und David, Ruth, Bathseba und Rahab… ja, wären wir doch dabei gewesen…

Eben daraus erwächst die Kraft, das Schwert ‚an seinen Ort‘ zu stecken (26, 52) und auf Gewalt gegen sich selbst und andere zu verzichten. Viermal wird die Wunde genannt, das ist viermalige Mahnung, die Trauer um das Verlorene und Unwiederbringliche zuzulassen, zu lesen in den Büchern der Alten, zu lernen und die ‚zwölf Legionen Engel‘  des Endkampfs und der Rache im Himmel zu lassen.

VIII

Wenn Adelheid generationentief  in Namen schwelgen konnte, dann empfand sie in ihnen Zugehörigkeit und Bindung. Sie gaben ihrem Herzen ein Dach oder ein Haus, und die Trauernde konnte  den Schmerz um Heinz- Georg darin gehalten wissen. Und wir anderen wohl auch. Am zweiten Weihnachtstag, da die Großfamilie zusammenkam  und ein Lied gesungen wurde – ihre Tränen nannten den Ungenannten und ließen ihn teilhaben am Glanz des Namens, ‚der über alle Namen ist‘ (Phil 2,9):

‚Was der alten Väter – und Mütter!- Schar höchster Wunsch und Sehnen war, / und was sie geprophezeit, / ist erfüllt in Herrlichkeit‘.

(Gebet nach der Predigt:) Ewiger Gott, in Jesus, deinem lieben Sohn, haben auch wir Anteil an dem Weg, den du mit den Müttern und Vätern Israels gegangen bist. Wir bitten dich: Laß uns in Herkunft und Zukunft die Gegenwart deines Geistes erfahren, daß wir mit ihm, dem Christus Israels, friedevolle, gewaltfreie Wege suchen, einander vergeben und neues Leben zusprechen.

Lieder: eg 12 (Gott sei Dank durch alle Welt) https://www.youtube.com/watch?v=tnWe8NETPu4 (Orgelimprovisation) / eg 11, 4-6 (Wie soll ich dich empfangen) /eg 36, 6-8 (Fröhlich soll mein Herze springen)   / eg 71,3.4 (O König aller Ehren) / Ermutigung ‚Du laß dich nicht verhärten‘ (W. Biermann 1977 / P. Huchel gewidmet)

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Lit. : L. Schottroff, Der Anfang des Evangeliums Matthäus 1-4 neu entdeckt, hgg. v.  F. Crüsemann et al., 2019 / P. Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, 2. Aufl. 2010, S. 157ff / K. Wengst, Wie das Christentum entstand, 2. Aufl. 2021, S.189ff / I. Bachmann, Das dreißigste Jahr (1961), 2016   / Th. Mann, Joseph und seine Brüder 2 ( 1936/1943), 1960, S.1554ff

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