Matthäus 15,21-28

Matthäus 15,21-28

Liebe Gemeinde!

Jesus zog sich zurück. So beginnt diese Geschichte.

Das kennt man ja von ihm. Wenn das Gedränge um ihn herum zu arg
wurde, suchte er einen Ort, wo er allein war. Allein mit sich und allein
mit Gott. Gewiß, die Not der Menschen um ihn herum ging ihm nahe.
Doch auffressen ließ er sich nicht davon. Er brauchte Abstand und
Selbstvergewisserung im Gebet, um sich seiner Aufgabe an anderer Stelle
von neuem widmen zu können.

Hier geht es um einen längeren Rückzug. Nicht nur für
einige Stunden sucht er die Einsamkeit. Nein, er geht außer Landes.
So wie wir das auch gerne tun, wenn wir in Urlaub gehen. Sehr weit braucht
er nicht zu wandern, um die Grenze zu überschreiten, die das Land
seines Volkes vom heidnischen Ausland trennt. Im Unterschied zu seinen
sonstigen Rückzugsgewohnheiten hat er seine Jünger mitgenommen.
Offenbar will er auch ihnen einige Tage der Entspannung gönnen.
Wie gesagt, sehr weit war die Reise nicht. Aber die Grenze, die einen
davor schützte, ständig angesprochen und in Anspruch genommen
zu werden, hatte man hinter sich.

Hier unter den nichtjüdischen Bewohnern Palästinas – den Kanaanäern,
wie man sie damals nannte, oder unter Palästinensern, wie wir heute
sagen – waren sie Fremde. Und Juden wie sie würden hier auch Fremde
bleiben. Denn die Einheimischen mochten sie nicht, die Juden, die in
früheren Zeiten das ganze Land beherrscht und die Einheimischen
immer als Menschen zweiter Klasse behandelt hatten. Weil sie andere Götter
hatten, die die Juden verächtlich als „Götzen“ abtaten.

Nein, mit diesen unduldsamen und arroganten Brüdern wollten die
Kanaanäer nichts zu tun haben. Doch plötzlich war es vorbei
mit der Ruhe. Eine einheimische Frau näherte sich der jüdischen
Männergruppe.
“ Was willst du denn von denen?“ rief man ihr nach. „Bleib
hier. Und mach dich und uns nicht lächerlich!“
Doch die ließ sich nicht beirrren, fing sogar noch an zu schreien
und ihren Anführer anzuflehen: „Ach, Herr, du Sohn Davids!“

War die denn von Sinnen? Wie konnte sie einen Juden als Herrn anreden
und dann auch noch als Sohn Davids! Auf den warteten die ja wie auf einen
Erlöser. Für Kanaanäer aber stand der Großkönig
David für demütigende jüdische Vorherrschaft.

Das alles war der Frau jetzt egal. Wenn dieser Mann den Juden helfen
könnte, dann auch ihr. „Hab Erbarmen mit mir. Denn meine Tochter
wird von einem bösen Geist übel geplagt.“

Was für eine Not, ein Kind zu haben, das von Mächten beherrscht
wird, auf die man als Mutter und Vater keinen Einfluß hat.

Wie alle anderen auch möchte man sein Kind fördern, ihm helfen,
seine Gaben zu entfalten und seinen eigenen Platz im Leben zu finden.
Und dann erleben zu müssen, wie sich das alles ins Gegenteil verkehrt,
wie alle Hilfen abgewehrt werden, die Gaben verkümmern und das Kind
mit den Jahren immer weiter zurückgeworfen wird und die Unselbständigkeit
zunimmt. Warum das uns? Und warum das diesem Kind, das doch nun wirklich
nichts dazu kann!

Wer das erlebt, der pfeift auf Schicklichkeit und Konventionen, geht
jedes Risiko ein, wenn es eine Aussicht auf Hilfe gibt.

Doch Jesus reagierte überhaupt nicht, würdigte die Frau, die
beherzt alles auf eine Karte setzte, auch nicht eines einzigen Wortes.

So viel Unnahbarkeit ging sogar den Jüngern, die ihn sonst ja gerne
abschirmten, gegen den Strich:
“ Laß sie doch gehen. Nun tu doch was, damit wir sie wieder
loswerden. Die schreit ja den ganzen Ort zusammen. Und schließlich
sind wir hier nicht zu Hause.“

Endlich kommt eine Reaktion von Jesus. Doch sie macht ihn noch unnahbarer,
als er ohnehin schon erschien:
“ Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.
Für Heiden bin ich nicht zuständig.“

Das wars dann ja wohl. Wenn Gott sich bei seinem Erwählungshandeln
selbst begrenzt hat, was will und kann sein Gesandter dagegen ausrichten?
Gegenüber der Forderung von Mitmenschlichkeit werden von Jesus theologische
Schranken aktiviert. Ob die Frau das mitgekriegt hat? Aber von einem
jüdischen Erlöser hätte sie ohnehin nicht erwarten können,
daß er die von Gott gesetzte Grenze überschreitet.

Doch, sie
erwartet mehr, geht weiter, wirft sich ihm zu Füßen:
„Herr,
hilf mir! Die Gedanken, die du dir machst, die Überzeugungen,
die du vertrittst, sind jetzt nicht dran. Jetzt ist die Not dran, die
mich zu dir getrieben und mich vor dich auf die Knie gezwungen hat. Und
damit lasse ich jetzt nicht von dir ab.“

Wer hätte hier noch widerstehen können?
Jesus.

Er, dem Not und Leiden sonst an die Nieren gehen, zeigt sich völlig
ungerührt. Mehr noch: Der Erwählungslehre, die ihn gefangenhält
und ihm das Herz verschließt, gibt er gegenüber der Frau am
Boden sogar noch eine verletzende Spitze:
“ Es ist nicht gut, daß man
den Kindern ihr Brot nimmt und wirft es vor die Hunde.“

Es ist erschreckend, wie lieblos, wie aggressiv Theologie machen kann,
die im „Gott-für-uns-Denken“ wurzelt. Auch Jesus war in
diesem Denken zu Hause.

Wer mag sich da einbilden, frei davon zu sein? Unsere Bekenntnisse sprechen
zwar von der grenzenlosen Liebe Gottes und von der Rechtfertigung des
Gottlosen. Und doch fühlen wir uns ständig gezwungen, bei der
Umsetzung zu differenzieren ud zu unterscheiden. Schließlich leben
wir noch nicht im Reich Gottes, sondern in einer Welt, die ihre eigenen
Gesetze hat und die auch für Christen gelten.

Und die Notleidenden, die nicht warten können, uns aber beim Differenzieren
und Herumeiern erleben – was müssen die für ein Bild von Gott
bekommen? Wie glaubwürdig ist eine Kirche, die predigt, daß die
Liebe Gottes nicht an der Leistung von Menschen hängt, die gleichwohl
im Umgang mit den ihr anvertrauten Geldern nach dem Prinzip verfährt:
Je mehr Verantwortung einer bei uns hat, desto besser wird er und sie
auch bezahlt und – im Falle der Ehrenamtlichen – desto großzügiger
fallen die Spesen aus.

Wer in der Not auch noch auf theologisch begründete und ein gutes
Gewissen machende Abwehr und auf Zurücksetzung stößt
– was bleibt ihm, was bleibt ihr?

Der Blick auf eine Frau, die sich das Bitten und Flehen theologisch
nicht verbieten läßt. Im Gegenteil: Theologischer Borniertheit
gegenüber legt sie Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit an den
Tag:
„Wenn du schon meinst, Herr, dich meiner Bitte entziehen
zu können
mit dem Bild von dem Brot, das man den Kindern, aber nicht den Hunden
gibt dann bedenke doch bitte: Wo Kinder satt werden, da fällt auch
für die Hunde im Haus noch ewas ab.“

Und damit ist Jesus geschlagen. was will er der Frau jetzt noch entgegensetzen?
„Frau,
dein Glaube ist groß“, sagt er und gesteht damit
ein, daß er dazu gelernt hat. Nämlich dies:
Glaube an Erlösung und Befreiung läßt sich nicht beschränken
auf die Menschen, denen das zuerst von Gott zugesagt ist. Und dann lassen
Erlösung und Befreiung selbst sich auch nicht länger beschränken
oder aussetzen.. Und damit kommt seine heilende Fähigkeit einer
glaubenden Heidin genauso zugute wie den ihn bittenden Juden.

Und was sagt uns der Blick auf die Frau mit dem großen Glauben?
Mir
sagt er: Eine sich den Leidenden faktisch verschließende Kirche
ist darauf angewiesen, daß die Bittsteller beharrlich bleiben und
sich selbstbewußt und kreativ auseinandersetzen mit unserer Beschränktheit.

Und noch eins:
Auch wenn Beter bisweilen verzweifelt lange darauf warten
müssen,
daß sie Antwort bekommen und Hilfe sich zeigt: Letztlich wird der
Glaube nicht am Boden liegenbleiben, sondern aufstehen und in ein geheiltes
Leben gehen. Amen.

Superintendent Rudolf Rengstorf, Stade
E-Mail: Rudolf.Rengstorf@evlka.de

 

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