Matthäus 19, 16

Matthäus 19, 16

Liebe Gemeinde!

„Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ So fragte
ein Schriftgelehrter vor 2000 Jahren. – Ja ist denn das eine Frage?! Gibt
es denn überhaupt die Möglichkeit, nach dem Sterben nicht zur Ruhe, in
ein ewiges Leben oder Frieden zu gelangen? Ist es denn nicht eine ganz
natürliche Angelegenheit wie die Geburt aus einem unbekannten friedvollen
Woher auch mit dem Sterben in ein ewig friedvolles Wohin überzugehen?

Der Schriftgelehrte rechnet mit einer Möglichkeit, mit der heute kaum
noch jemand rechnet. Er rechnet damit, dass der heilige und allmächtige
Gott neben dem Himmel für uns auch eine Hölle bereithalten könnte. Er rechnet
mit der Möglichkeit, dass sein Leben nicht an das Ziel gelangt, das Gott
für ihn gedacht hatte. Er bedenkt wenigstens theoretisch die Gefahr,
er könne Sinn und Ziel seines Lebens verfehlen und so eben nicht in ewigem
Frieden mit und bei Gott ankommen; er könne vielmehr in der Hölle landen,
in der Ferne von Gott, in einer verfluchten Un-zu- friedenheit und in
ewig fortdauernder Suche nach Erfüllung, nach Heil mitten in endlosem
Unheil, in dem es keine Zukunft, kein Hoffen mehr gibt.

Freilich, so
ganz ernst
rechnete schon damals auch der Schriftgelehrte nicht mit dieser Möglichkeit.
Eigentlich will er Jesus nur auf’s theologische Glatteis führen, um nach
langer, hochgeistiger Diskussion selbstgerecht sagen zu können: „Ich
hab’s
ja gleich gewusst: mit dem Glauben ist es eine sehr unsichere Sache;
beweisen kann man hier nichts; also lässt man als aufgeklärter Denker
gleich die Finger davon und lebt nach eigenen Ideen und Vorstellungen,
bis dann eben
der Tod kommt. Irgendwie wird es dann schon gut weiter gehen.“

Der
Schriftgelehrte fragt Jesus, um einen Grund zu haben, nicht glauben zu
müssen, sich nicht
an Jesus Christus binden zu müssen, eben unentschieden einem sogenannten
individuellen Glauben, ohne Gemeindebindung, ohne Kirche und herrisch
bestimmenden Gott leben zu können. Er möchte sich Gott vom Leibe halten.
Er will keinen ihn bindenden Glauben, gar eine Glaubenslehre haben. Er
will sich nicht
in eine Gemeinschaft von Glaubenden einbinden lassen, gar täglich Gottes
Wort hören und beachten, oder zu Ihm beten, gar noch vor jedem Essen
und mit Gästen. Er will mit dem Gespräch mit Jesus sein selbstherrliches
Gewissen beruhigen. Denn im Innersten ist er ziemlich unsicher, ob es
nicht doch
ein verfehltes Leben geben könnte, ob nicht doch Jesus der Weg, die Wahrheit
und das Leben ist, ob es nicht auch für ihn ein „Zu-spät“, ein „Aus-und-vorbei“ bei
Gott geben könnte.

Liebe Gemeinde, millionenfach läuft dieser Schriftgelehrte in unseren Landen herum, auch unter uns und sogar in uns selbst. Der „Suchende“, der „religiöse Mensch“ wird er heute genannt. Aufgeschlossen ist er für alle Glaubensrichtungen, für alle Lebensformen, offen für alle Ideen, die seinem Leben Sinn versprechen. Und so befragt er auch Christen am Arbeitsplatz oder bei zufälligen Begegnungen, bei Festen oder im Wartezimmer: „Was muss ich denn nun Deiner Meinung nach tun, um das Ewige Leben zu ererben?“ – Bei aller Frage aber will auch er eines nicht: Er will sich nicht wirklich festlegen! Er will mit der Vielzahl von Antworten die Bestätigung dafür, dass es doch keine letztgültig wahre Antwort, keine letzte Sicherheit in dieser Frage gibt. Und so muss er sich vernünftigerweise auch nicht auf eine Glaubensrichtung, auf „die Wahrheit“ festlegen.

Jesus aber lässt sich da auf gar keine Diskussion ein. Jesus weiß ja,
wie schwer es uns Menschen fällt, uns an Gott zu binden, Gott zu gehorchen,
festgelegt zu sein auf einen Herrn, der mir unverfügbar ist. Jesus weiß,
dass wir am liebsten unabhängig und frei leben. Und Er weiß auch, dass
uns das am Ende doch nicht zufrieden macht, dass uns die letzte Bindung
in solchem Leben fehlt. Er weiß, dass uns die Klarheit und Wahrheit abhanden
gekommen ist. Und Jesus weiß, dass wir dies im Innersten ja auch wissen,
es aber nicht wissen wollen, weil wir es sonst ändern müssten, ändern eben
mit der persönlichen Bindung an Gott, mit der ganzen, ehrlichen Liebe zu
Gott und Seinem Wort und Willen.

So holt Jesus dieses tiefe Wissen in uns
allen mit der einfachen Rückfrage ins Bewußtsein des Schriftgelehrten zurück: „Schau,
Du weißt doch, was in der Schrift steht, was Gott will. Er will doch nur
das Eine von Dir: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem
Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen
Nächsten wie dich selbst.“ Und der Schriftgelehrte, der religiöse Mensch,
sagt es brav auf. Er weiß es ja doch! Er kennt den Weg zum Himmel genau:
Gottesliebe und Nächstenliebe! So einfach ist das. „Du hast recht geantwortet;
tu das, so wirst du leben,“ sagt ihm Jesus.

Und mit einemmal ist dem religiös
interessierten Menschen in uns diese Schriftweisheit nicht mehr ein toter
Lernvers aus dem Konfirmandenunterricht. Sondern wir sprechen diese Worte
vor Jesu Augen, die uns da so liebevoll und tief ansehen, dass wir spüren:
Jesus weiß alles über mich! Er weiß genau, wie halbherzig ich zum Gottesdienst
gehe, wie egal mir eigentlich Seine Gemeinde ist, wie mir das Bibellesen
nur mehr eine religiöse Selbstrechtfertigung, eine selbstgerechte Übung
geworden ist. Er weiß, dass in all dem gar keine Liebe mehr ist, weder
zu Gott, noch zu dem Nächsten. Jedes Wort, das ich da richtig aufgesagt
habe, blickt mich jetzt an mit Jesu Augen; und ich sehe darin, dass mein
vermeintliches Engagement für die alten oder jungen Menschen gar nicht
ihnen dient, sondern meiner Selbstbestätigung. Ich organisiere mir auch
mit dieser Beschäftigung mein Leben. Aber Liebe, Demut, Geduld, Hilfe für
den Nächsten, auch für den Mitarbeiter, gar Liebe zu Gott ist da nicht
drin. Und ich sehe meine Ehefrau, meine Kinder, meine Eltern; und in jedem
Wort wird mir die Frage brennend: Hast du sie wirklich lieb, oder hast
du dir mit ihnen dein Leben recht schön eingerichtet, und du kannst bequem
deinen Interessen nachgehen, ja sogar deinem frommen Einsatz in Sachen
Nächstenliebe nachgehen; sie werden es schon mittragen müssen, denn es
ist ja alles ein gutes Werk!? – Und Jesu Augen fragen mich: ist es Gottesliebe,
die Dich da bewegt oder ist es Eigenliebe, fromme Eitelkeit und Selbstverliebtheit
in die eigenen Pläne und Leistungen, in das selbst-herrliche Leben?!

Das schöne geistige Theologengespräch ist jäh beendet. Die Wahrheit springt
mich in meinem Leben an. Aus den Höhen der Studierstube und Bibelstunde
stehe ich auf einmal im Hinterhof meines Lebens. Dieser Jesus durchleuchtet
nicht nur mein Denken, sondern auch mein Tun. Schnell weg von hier, mag
er denken, schnell weg aus Gottes Haus. Mit dem Jesus kann man ja nicht
gescheit reden. – Oder sollte man doch noch einen Versuch machen? – Die
Dinge problematisieren ist immer gut. Alles in Frage stellen, das hilft,
selbst nicht so dumm da zu stehen.

Also fragt der Schriftgelehrte: „Wer
ist denn mein Nächster?“ So klar ist das doch gar nicht immer! Sind es
denn die Opfer von Krieg und Vertreibung, von Hungerkatastrophen, oder
sind es nicht endlich einmal auch die eigenen Landsleute, denen man etwas
Gutes tun kann? Ist es der junge Mann, der morgens die Zeitung bringt oder
der Kollege, der mir täglich neu auf die Nerven geht? Es könnte ja auch
mein Ehemann sein, den ich schon lange verachte, weil er keine Arbeit hat;
oder sind es nicht doch die kranken und hungernden Kinder, denen ich mich
widmen sollte mit aller Kraft? – Bevor nicht genau klar ist, wer mein Nächster
ist – und Jesus soll mir das bitte erst einmal klarmachen – vorher bin
ich zur Tat der Liebe auch nicht verpflichtet. Ich könnte ja dem Falschen
helfen, und wieder wäre ich der Dumme. So mag es dem Schriftgelehrten oder
auch uns durch den Kopf geschossen sein.

Jesus aber lässt sich wiederum nicht auf theologische Problemdiskussionen
ein. Er erzählt vielmehr eine Geschichte. Wir kennen sie alle und haben
sie gerade wieder gehört: Zwei Männer, die im Dienste Gottes stehen, gehen
an dem Geschundenen und womöglich hilflos und unschuldig Sterbenden vorüber.
Ein Mann einer verachteten Volksgruppe sieht den Überfallenen, geht zu
ihm und hilft.

Zwei Menschen, die in all ihrem Handeln darauf bedacht sind,
das Gute zu tun und nur ja nichts zu versäumen, was ihnen vor Gott Pluspunkte
einbringt, die sind blind für das Notwendige. – Der eine, dem man nachsagt,
dass er es mit Gott und dem Glauben gar nicht so genau nimmt, der tut das
Naheliegende. Er stellt sich der Situation, in die er, wie der Verletzte,
scheinbar zufällig geraten ist. Er erkennt die Not des anderen. Er erkennt
seine Pflicht zu helfen. Er sieht, was zu tun ist und hilft mit der Tat,
mit seiner Zeit, mit seinem Geld, mit dem persönlichen Risiko, das immer
auch bei der Hilfeleistung ist. –

Liebe Gemeinde, soll unser Glaube und alles, was wir darin tun, vor allem uns und unserem Heil bei Gott dienen, dann lieben wir gar nicht Gott, und dann lieben wir auch gar nicht wirklich den Nächsten. – Es könnte ja sein, dass uns unsere vielen, tiefen Fragen über Gott und die Welt, über ein rechtschaffenes Leben, dass uns dieses tiefe Nachsinnen das vor Gott und Mensch Rechte nicht mehr tun und schaffen lässt, weil wir sogar die Gottesliebe und mit ihr die Nächstenliebe zum Selbstzweck, zum Heilsweg für uns gemacht haben.

Da, wo wir Gott wirklich von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allen Kräften lieb haben, da geben wir alles Sorgen und Taktieren um unser Heil und Leben auf. Denn es ist doch Jesus, der uns da mit den Augen Seiner unendlichen Liebe ansieht. Jesus hat uns ja doch Sein Heil und Leben schon geschenkt. Bei Ihm ist die Frage längst beantwortet, die Frage, wie ich das ewige Leben ererbe! Lassen wir es uns doch von Ihm schenken. Und dann tue ich einfach das Not-wendende an Arbeit und Hilfe; mit solcher Gottesliebe im Herzen erkenne ich wieder, wem ich mit den mir geschenkten Gaben der Nächste bin. Und ich tue das, was Gott von mir will: die Barmherzigkeit!

Ihr Lieben, aller Gottesdienst, der mich beglücken soll, der mich meines Heils bei Gott sicher machen soll und der mir ein Wohlfühlen verschaffen soll, der führt mich ganz sicher nicht zu Gott und schon gar nicht zum Nächsten. – Aber aller Gottesdienst, der allein darum gefeiert wird, damit Gott zu Ehren kommt, um Ihn zu lieben, weil Er mich in Jesus Christus bis zum Tode am Kreuz geliebt hat, solcher Gottesdienst macht mich zum Nächsten, sogar dem, der mit mir in Gottes Haus auf derselben Bank sitzt. Und solche Liebe zu Gott erfüllt mich mit Heil und Leben, von denen ich weitergeben kann, auch der Ehefrau, auch den Kindern, auch den Notleidenden, die mir gar nicht so am Herzen liegen. Das Nächstliegende erkenne ich nur da, wo ich Gott ganz nahe bin, wo ich mich in Seinem Herzen ewig geborgen weiß. So macht Gott Dich und mich zum Nächsten in Seiner Welt. Darauf können wir uns von Herzen und getrost einlassen, uns an Ihn binden. Amen

Pfarrer
Hans-H.Dittrich
hhd.49@sdirekt-net.de

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