Matthäus 5, 13-16

Matthäus 5, 13-16

„Jesus sprach zu seinen Jüngern:
>
IHR SEID DAS SALZ DER ERDE. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll
man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als daß man es wegschüttet
und läßt es von den Leuten zertreten.
IHR SEID DAS LICHT DER WELT. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt,
nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt
es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen,
die im Hause sind. So laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, damit
sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.<“

Liebe Gemeinde!

Seit etwa 40 Jahren begleiten mich Verse aus dem >Tutzinger Gedichtkreis< von
Marie Luise Kaschnitz. Sie haben mir in dunklen Stunden immer wieder
Mut gemacht, mich neu dem Evangelium von Jesus Christus, seinem Zuspruch
und Anspruch zu stellen, so gut ich es vermag.

Marie Luise Kaschnitz hat den >Tutzinger Gedichtkreis< um 1955
herum geschrieben, noch ganz unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs,
des Erschreckens über die Judenvernichtung, die ersten Atombombenexplosionen
und den >Kalten Krieg< mit seiner Ost-West-Teilung. Wie für
so viele andere waren dieses auch für sie – eine sensible Christin,
die noch im Rahmen einer bildungs-bürgerlichen Welt aufgewachsen
war – erschütternde, verstörende Erfahrungen: Hat Gott sich
ganz und gar zurückgezogen aus dieser Welt, beharrlich schweigend
bis in alle Ewigkeit? Bleibt die Welt nun ganz dem Menschen, seiner Haltlosigkeit
und seiner Zerstörungswut überlassen? Das Gedicht liest sich
wie ein Psalm. Gott wird darin unmittelbar angesprochen. Ich lese einige
Passagen aus den Schlußstrophen:

…….

Du wirst dich uns nicht mehr begreiflich machen,
Nicht auflösen Deine Verwirrung,
Nicht wiederholen die Tage, da wir gestillt
In Deinen Gärten das Haupt verbargen.
…….

Niemand wird mehr mit seiner Hand berühren
Die Wunden Deines alten Opfergangs . . .

Und dennoch wirst du fordern, daß wir Dich
Beweisen unaufhörlich, so wie wir sind
In diesem armen Gewande, mit diesen glanzlosen Augen,
Mit diesen Händen, die nicht mehr zu bilden verstehen,
Mit diesem Herzen ohne Trost und Traum.
…….

Verlangen wirst Du, daß wir, die Lieblosen dieser Erde,
Deine Liebe sind.
Die Häßlichen Deine Schönheit,
Die Rastlosen Deine Ruhe,
Die Wortlosen Deine Rede,
Die Schweren Dein Flug.
…….

Aber jeder wird wissen: dies ist Dein letztes Geheimnis.
Dein Fernsein Deine Nähe,
Dein Zuendesein Dein Anfang,
Deine Kälte Dein Feuer,
Deine Gleichgültigkeit Dein Zorn.

Und einige wirst Du bisweilen beweglich machen,
Schneller als Deine Maschinen und künstlichen Blitze,
Überflügeln werden sie ihre Angst.
Fahrende werden sie sein. Freudige.
…….


Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.“ Was heißt
das in einer Zeit, in der die Welt immer unbegreifbarer wird und auch
Gott sich nicht mehr begreifbar macht? „Niemand wird mehr mit seiner
Hand berühren / Die Wunden Deines alten Opfergangs…“ Wer erinnert
sich noch an den zweifelnden Jünger Thomas, der die Wundmale des
Gekreuzigten berühren durfte, als der ihm als Auferstandener begegnete?

„Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ zu sein
– was heißt das in einer Gesellschaft, in der die Kirchen zwar
alle Freiheit genießen, ein Kursverfall des Christlichen aber unverkennbar
ist? Wie sollen gerade die Kirchen „Salz der Erde“ und „Licht
der Welt“ sein, die von vielen Menschen für unerleuchtet und
fade gehalten werden, die in den Augen vieler ein „Bodenpersonal
Gottes“ beschäftigen, das mehr irdischen Qualm als himmlischen
Glanz verbreitet, und die auch nach dem Ökumenischen Kirchentag
in Berlin außerstande sind, sich gemeinsam um den einen „Tisch
des HERRN“ zu versammeln?

In aller Klarheit sagt Marie Luise Kaschnitz, daß es nach all
der organisierten Inhumanität des 20. Jahrhunderts keine Rückkehr
zu einem wie selbstverständlichen, unangefochtenen Reden von Gott
geben kann und für politisch wache Menschen ein einfacher, unhinterfragter
Glaube unerschwinglich sein wird. Das bleibt, obwohl sich vieles in Europa
zum Besseren gewendet hat, auch im 21. Jahrhundert so.

Umso überraschter, umso ermutigter bin ich immer wieder, daß für
Marie Luise Kaschnitz Gott nicht tot ist, sondern weiterlebt in der Aufgabe,
zu der es angesichts der Weltverhältnisse gar keine Alternative
gibt: „daß wir, die Lieblosen dieser Erde, / Deine Liebe sind.
/ Die Häßlichen Deine Schönheit, / Die Rastlosen Deine
Ruhe, / Die Wortlosen Deine Rede, / Die Schweren Dein Flug.“ So geht
Gottes Geschichte mit den Menschen weiter, wenn als „sein letztes Geheimnis“.

„Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.“ Mehr
noch als die Worte der Dichterin haben die des Wanderpredigers Jesus
von Nazareth etwas Überraschendes, Bezwingendes und Ermutigendes.
Jesus sagt tatsächlich: „Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.“ Nicht: „ihr werdet“, sondern: „ihr
seid“. In der >Bergpredigt<, wie Matthäus sie überliefert,
gelten diese Worte allen, die auf Jesu Namen getauft sind und die Kirche
bilden. Wir – ja: auch wir hier und heute, in dieser Kirche – sind es.
Ob wir das nun wissen, wollen oder uns zutrauen: Wir sind es.

Wie ist das möglich? Jesus Christus macht uns dazu. Dem Wort vom
Salz und vom Licht gehen die >Seligpreisungen< unmittelbar voraus.
Mit ihnen versetzt Jesus, wer auf seinen Zuspruch hört, in einen
anderen Zustand. In dieses neue Sein sind Menschen gerufen, die weder
zu den Glaubensstärkeren noch zu den Gebildeteren gehören. >Selig
gepriesen< werden Menschen, die sich nur darüber wundern können,
was ihnen da zuteil wird. Es mangelt ihnen an Geist, Glück und
Gerechtigkeit. Wegen ihrer Herzensreinheit werden sie verlacht. Im
Kampf um das Recht, den Frieden und das Leben selbst werden sie verfolgt.
Ihnen allen spricht Jesus Gott zu und damit das Leben, das sie schon
verloren glaubten. Schon jetzt empfangen sie neue Würde und neue
Kraft – und mit ihnen alle, deren Existenz verspielt schien. Sie brauchen
nur zu sein, was sie sind – was sie sind in den Augen dieses Jesus
von Nazareth, der der Christus ist. Deshalb ist das Licht, das sie
nun sind, Abglanz des Lichtes, das Christus ist. Das „Licht der
Welt“ läßt sich immer wieder von diesem anderen Licht
entzünden.

In den >Seligpreisungen< werden Menschen angesprochen, von denen
es in Marie Luise Kaschnitz‘ Worten heißt: „In diesem armen
Gewande, mit diesen glanzlosen Augen, / Mit diesen Händen, die nicht
mehr zu bilden verstehen, / Mit diesen Herzen ohne Trost und Traum.“
Dabei ersetzt die Dichterin nicht einfach Gott durch den Menschen. Im
Auftrag,
in dem Gott sein letztes Geheimnis offenbart, zeigt sich vielmehr
der Abglanz göttlichen Lichts. Unbegreifbar und verborgen ist Gott
doch Gegenwart: „Dein Fernsein Deine Nähe, / Dein Zuendesein
Dein Anfang, / Deine Kälte Dein Feuer, / Deine Gleichgültigkeit
Dein Zorn.“ Ähnlich
ist es bei Jesus, der im Salz-Wort die jüdische Tradition aufnimmt
und weiterführt. Das Salz ist die Thora, die „Weisung“.
Jene Thora aber wirkt nur durch Menschen, denen sie „ins Herz geschrieben“ ist.
In diesem Sinn ist die ganze >Bergpredigt< „Menschwerdung
des Gesetzes“ (Hans Weder) – beglaubigt durch Jesu eigenes Leben.
Nur Menschen können die Welt verändern. Vorschriften und Forderungen
verbessern nichts. Denn es geht um das, was Jesus den Menschen als neue
Lebensmöglichkeit zuspricht und zuweist: „daß wir, die
Lieblosen dieser Erde, / Seine Liebe sind.“

Es geht um die Kreativität der Liebe, die dem Leben dient. Das
wird am Salz deutlich: Salz kann würzen – das vor allem. Es kann
Speisen vor Verfall, vor Fäulnis bewahren; zur Zeit Jesu war es
das wichtigste Konservierungsmittel überhaupt. Manche Salze können
Eiskrusten zum Schmelzen bringen. Alles Vorgänge, die lebenswichtig
sind, die etwas mit Kreativität, Veränderung, Verlebendigung
zu tun haben. Auch Salz als Konservierungsmittel dient dem Leben: durch
unverdorbene Speisen kommen wir zu neuen Kräften.

Es geht um die Kreativität der Liebe, die Leben schafft. Das wird
deutlich am Licht: Licht – das erste Werk der Schöpfung, der Zeit
und dem Raum voraus, Energie, Dynamik, Kreativität. Kehrt nach langer
Nacht das Licht wieder, bricht ein neuer Schöpfungstag an, in dem
sich schon die Morgenröte einer ganz neuen Welt ankündigt: „Morgenglanz
der Ewigkeit, / Licht vom unerschaffnen Lichte…“ (EG 450). Und
denen, die endlich eine dunkle Vergangenheit, die babylonische Gefangenschaft,
verlassen dürfen, ist gesagt: „Mache dich auf, werde licht;
denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über
dir.“ (Jes 60,1)

Die Kreativität der Liebe also will Jesus wecken – in uns, unter
uns, durch uns. An unserer Kreativität soll Gottes Kreativität,
mit der sich Gott von Beginn an gleichsam in die Welt hineingibt, erkannt
werden: „damit die Leute eure guten Werke sehen und euren Vater
im Himmel preisen.“ Mit Jesus folgen Christen nicht dem Trugbild
einer heilen Welt. Aber mit ihm halten sie die Welt, so vergebungsbedürftig
wir Menschen bleiben, für verbesserungsfähig. Die >Bergpredigt<,
angefangen bei den >Seligpreisungen<, zeigt die Richtung an, sich
im Sinne einer Humanität aus Glauben, Hoffnung und Liebe in die
Welt einzumischen. Dabei kümmert Jesus die – protestantische – Sorge
vor den >guten Werken< wenig. Die Erde hat eben Salz, die Welt
hat eben Licht nötig! Also braucht es Menschen, die das einfach
sind. Er jedenfalls weiß sich dazu von Gott bevollmächtigt,
auch wenn die Liebe ihn sein Leben kostet, und bevollmächtigt andere
dazu.

Manchmal sehen wir in einem Spiegel oder auf einem Gemälde den
Abglanz einer verborgenen, unbekannten Lichtquelle. Von einer unbekannt
gewordenen Lichtquelle her sieht Marie Luise Kaschnitz uns gleichsam
als „Licht der Welt“. Diese Lichtquelle, von der die Bibel
zeugt, ist weit in den Hintergrund gerückt, wie hinter einen Vorhang,
aber sie ist so stark, daß sie durch den Vorhang hindurchscheint.
Schon deshalb bedeutet „Licht der Welt“ zu sein: das Licht
Christi weitergeben. Wir lassen uns von ihm Gott zusprechen. Wir hoffen
auf sein Reich und deshalb für diese Erde. Das macht uns zum „Licht
der Welt“. Durch Jesus Christus sehe ich die Welt, wie sie ist
– in aller Erdenschwere. Zugleich sehe ich sie durch Jesus Christus
anders: wie er uns neue Lebensmöglichkeiten eröffnet – trotz
unserer Erdenschwere.

„Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.“ Wir
werden noch manche Suppe versalzen. Wir werden aber auch mithelfen, neue
Lebensmöglichkeiten zu eröffnen: einen Menschen trösten;
Worte sagen und Dinge tun, aus denen Frieden wachsen kann; uns für
gerechtere Verhältnisse einsetzen, über unsere eigenen Interessen
hinaus; in einigen ruhigen Augenblicken alles von Gott erwarten. Wir
werden ein Licht anzünden, statt über die Dunkelheit zu klagen.
Auch eine neue Sprache werden wir finden, mit der wir Gott hineinsprechen
in die Welt. Wir gehören zu ihnen: „Und einige wirst Du
bisweilen beweglich machen, / Schneller als Deine Maschinen und künstlichen
Blitze, / Überflügeln werden sie ihre Angst. / Fahrende werden
sie sein. Freudige.“

Amen.

Nachbemerkung:
Der >Tutzinger Gedichtkreis< findet sich in Marie Luise Kaschnitz: Überallnie.
Gedichte, sr dtv 73, München 1969, S. 129-136. Predigtgedanken und
-formulierungen habe ich aufgenommen von Hans Weder: Die >Rede der
Reden<. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich 1985, bes.
S. 85-90; Volker Drehsen: Rechtfertigungsgeschichten. Protestantisch
predigen, Gütersloh 2002, S. 110-116; Gerd Theißen: Lichtspuren.
Predigten und Bibelarbeiten, Gütersloh 1994, S. 86-92.

Lieder: EG 172; 318 (Wochenlied); 379; 390; 441; 565

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
eMail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

 

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