Matthäus 7, 12-20

Matthäus 7, 12-20

Gott richtet nicht, Gott richtet auf. | Buß- und Bettag, 17. November 2021 | Predigt zu Matthäus 7, 12-20 | verfasst von Uland Spahlinger |

 Matth. 7

12Also: Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um! Denn darin besteht das Gesetz und die Propheten.

13Tretet ein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt, und viele sind es, die da hineingehen. 14Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der ins Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden!

15Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafspelzen zu euch kommen – darunter aber sind reissende Wölfe!

16An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Lassen sich etwa Trauben ernten von Dornen oder Feigen von Disteln? 17So trägt jeder gute Baum gute Früchte, jeder faule Baum aber trägt schlechte Früchte.

18Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte tragen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte tragen.

19Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird gefällt und ins Feuer geworfen.

20So werdet ihr sie an ihren Früchten erkennen.

(Übertragung: Zürcher Bibel)

Liebe Gemeinde!

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“[1]

Der berühmte Kategorische Imperativ des Königsberger Philosophen Immanuel Kant. Ein Eckpfeiler ethischen Handelns. Kant hat versucht, moralisch richtiges Handeln so zu bestimmen, dass es für alle, zu jeder Zeit und ohne Ausnahme akzeptabel ist. Der Kategorische Imperativ beansprucht – zumindest seiner Form nach – Allgemeingültigkeit; er soll unbedingt gelten, also unabhängig von dem, was du oder ich gerade meinen.

Kant hat sich an der Frage gründlich abgearbeitet. Immer wieder nimmt er den Gedanken auf und fragt: wie soll es sein im Zusammenleben von Menschen? Wie kann verhindert werden, dass einer den anderen ausnutzt oder zum Erfüllungsgehilfen oder gar zum „Instrument“ der eigenen Wünsche und Ambitionen macht? Dann klingt das so: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“[2] Der andere Mensch ist ein Zweck in sich selbst, wir heute würden sagen: Er ist ein Wert in sich selbst. Er – oder natürlich auch sie – ist genau so wertvoll wie du auch. Und du möchtest ja auch nicht von anderen für ihre Ziele instrumentalisiert werden. Ein sorgfältig erarbeitetes Plädoyer für generelle Begegnung auf Augenhöhe – gültig für alle Menschen.

Kant hat das nicht erfunden, er hat es aber bis in den letzten Winkel durchdacht. Wir kennen die, zugegeben etwas banalere, Form des Sprichwortes: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Das ist natürlich eingängiger als das Satzgebilde des Philosophen. Hat aber den Nachteil, dass es den Blick nur auf die Vermeidung von Schlechtem oder Unangenehmem legt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Lass anderen gegenüber bleiben, was du selber nicht erleiden möchtest. Eine Anleitung zur Schadensvermeidung.

Kant geht weiter. Er sagt: Alles Handeln soll davon bestimmt sein, dass du es ebenso gut tun wie erfahren kannst. Was er aufgreift, das haben wir gehört; der Grundgedanke ist nämlich biblisch: „Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um! Denn darin besteht das Gesetz und die Pro­pheten.“ So sagt Jesus das in der Bergpredigt. Und beruft sich dabei auf die gemeinsame Glaubensge­schichte seiner Zeitgenossen. Gesetz und Propheten: Die gute Weisung Gottes und die Zeitansage, so wie sie nötig war. Wir nennen diesen Satz „die Goldene Regel“. Daran sollten sich die Leute, in der Bergpredigt genauer: seine Jünger, orientieren. So sollten sie leben.

Inhaltlich unterscheiden sich der Prediger aus Nazareth und der Philosoph aus Königsberg kaum. Die Begründungen sind grundverschieden. Kant greift auf die allgemeine Fähigkeit des Menschen zur vernünftigen Einsicht zurück, Jesus auf sein Vertrauen auf Gottes Nähe und Menschenfreundlichkeit. Sein Satz steht, wie gesagt, in der Bergpredigt.

Damit hat er einen Rahmen und einen Zusammenhang, auf den wir als Christen immer wieder gern zurückgreifen (wobei wir manchmal zum Auswählen neigen und die anstrengenden oder unangenehmen Teile zur Seite schieben): Wer möchte schon Verfolgung um des Glaubens willen erleiden? Wer würde freiwillig einem, der ihn auf die eine Wange schlägt, auch noch die andere hinhalten? Die Feinde lieben – große Herausforderung! Oder die Sicherheit eines Hauses und einer gewissen Lebensplanung aufgeben? Das ganze Leben Tag für Tag dem offenen Himmel Gottes widmen? Alles ertragen, alles glauben, alles hoffen, alles erdulden – wie Paulus das zusammenfasst (vgl 1. Kor. 13,7)?

Jesus geht weiter als Kant das tat. Er führt uns eine Vision vor Augen: Leben aus größtmöglichem Gottvertrauen. Wenn du so lebst, wirst du keine Mühe haben, die Gebote ihrem tiefen Sinn nach zu erfassen und mit ihnen zu leben. Du wirst dich mit deinem Bruder versöhnen, bevor du zum Opfer gehst (wir würden wahrscheinlich sagen: in die Kirche). Du wirst dich bei den Friedfertigen, den geistlich Armen, den Barmherzigen und denen, die reinen Herzens sind, einreihen können. Du wirst am Regelwerk Gottes nicht herumpfuschen müssen, sondern es zu deiner eigenen Sache machen. Und das nicht einmal mit mürrischem Gesicht, als sei das eine lästige Pflichtübung. Es wird dir vielmehr Freude machen und dir eine große Lebenszufriedenheit bescheren – weil ja und insofern es das Gottvertrauen ist, das dich trägt und leitet. Seine Aufforderungen bindet er immer wieder zurück an das, was Gott uns offensichtlich schon gegeben hat. Gott wirkt unter uns, indem er uns erst empfangen lässt und dann zum Tun auffordert. So gewinnen wir Anteil am Reich Gottes –nicht als Besitz, sondern jeden Tag neu als Gabe und Aufgabe.

Jesus kennt allerdings auch die Fallstricke. Er warnt vor falschen Auslegungen der Gebote – die führen in die Irre. Er warnt vor einer trägen Untätigkeit – es gibt ein „zu spät“. Er warnt vor Fehleinschätzungen: „Tretet ein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt, und viele sind es, die da hineingehen“ (V. 13). Und er warnt die Seinen vor Menschen, die ganz anderes im Sinn haben und im Schilde führen: „Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafspelzen zu euch kommen – darunter aber sind reissende Wölfe“ (V. 15)!

Sinnverdreher, Falschmelder, Querdenker – schade, dass dieser an sich so originelle und eigenständige Begriff inzwischen von Impfgegnern und Coronaleugnern vereinnahmt wurde!; noch vor wenigen Monaten war ich durchaus stolz darauf, zu manchen Themen quer zu denken….. – Querdenker also, Fremdenfeinde, Reichsbürger, gewaltbereite Radikale gleich welcher Richtung oder Wachstum-um-jeden-Preis-Anbeter: Wir haben sie auch unter uns, die falschen Propheten, die uns falsch als richtig verkaufen, oder die reißenden Wölfe, die zerstören und verletzen und schlimmstenfalls auch umbringen, was eigentlich leben soll und leben will.

Die Bilder sind krass, die Jesus da verwendet, sie sind plakativ, aber: sie können uns die Augen öffnen. Ganz häufig höre ich dieser Tage: „Ich mag nicht mehr, ich schalte das Radio aus, wenn „Corona“ kommt. Ich lese keine Zeitung mehr, ich mag es nicht mehr hören. Es zerreißt die Gesellschaft und geht mir sooooo auf den Senkel!“ Und tief innen in mir drin spüre ich dann: mir geht es ganz ähnlich – und bei etlichen anderen Themen ebenfalls. Dabei ist „Corona“ inzwischen ja auch zum Symbol einer allgemeineren und vielleicht viel grundsätzlicheren thematischen Ermüdung geworden: Wer will sich schon jeden Tag die Problemthemen der Welt um die Ohren hauen lassen?

Aber ich weiß auch: „Gott hat uns diese Erde gegeben, dass wir auf ihr die Zeit bestehn.“[3] Nicht, dass wir uns wegducken oder uns in unsere Blase zurückziehen.

In einer Vorlage zur gemeinsamen Beichte habe ich einen Zugang gefunden, der mir gefallen hat:

„Wir schauen in die vier Richtungen, die wir kennen:
Wir schauen nach innen. Zu uns selbst: …..
Wir schauen nach außen. Zu den Menschen um uns. …..
Wir schauen nach unten. Zur Erde, die uns trägt. ……
Wir schauen nach oben. Zu Gott: …….“[4]

Und damit bin ich schließlich bei dem Tag angelangt, den wir heute begehen: dem Buß- und Bettag. Als Kinder haben wir noch gelernt: Hier geht es um Gewissenserforschung; es geht darum, dass du dir deiner Sünderexistenz bewusst wirst. Einsicht, Buße, Umkehr: das waren die Stichworte. Vergleichsweise Kleinigkeiten wurden ganz groß gemalt – quasi vor dem Richterauge Gottes. Die gemeinsame Beichte stand ganz oben, aber vor allem als ein Abarbeiten an den eigenen kleineren oder größeren moralischen Verfehlungen. Du ganz allein vor Gott – du warst gehalten, dich klein zu machen. Und wenn man bedenkt, dass der Buß- und Bettag letztlich durch staatliche Gesetzgebung, „am 12. März 1893 in Preußen“ und dann „durch das »Reichsgesetz über die Feiertage« vom 27. Februar 1934“ (also durch die Nationalsozialisten) „gesetzlicher Feiertag im gesamten Deutschland“[5] wurde, dann kann man dem Urteil von Hans-Theo Wrege nur zustimmen, der es messerscharf auf den Punkt bringt: „Dem Volk wird die „Erbsünde“, den regierenden Machthabern jedoch das Gottesgnadentum zugesprochen.“[6] Zerknirschung macht klein, staatlich verordnete Zerknirschung hält dich klein. Sie treibt dich in die moralische Selbstverzwergung. Und kleine Sünder sind für die Mächtigen leichter zu lenken.

Unser Abschnitt aus der Bergpredigt gibt das aber nicht her, nicht für den Buß-und Bettag und auch sonst nicht. Jesus schaut hier anders auf die Menschen und ihre Beziehungen. Ja, er spricht eine ernsthafte Sprache. Er zeigt Alternativen auf: breiten oder schmalen Weg, fruchttragenden oder leeren Baum, das enge Tor. Er bringt Leitsätze für die Lebensführung ins Gespräch und warnt vor falschen Propheten. Aber er macht seine Freunde nicht klein.

Vielmehr gibt er ihnen die Möglichkeit, zu durchdenken, wie es gehen und weitergehen kann. Er weitet ihren Blick – nicht umsonst spricht er auf einem Berg, von dort aus schaust du nun einmal weiter. Er hilft ihnen, zu erkennen, zu unterscheiden und zu entscheiden zwischen Richtig und Falsch, zwischen lebensfördernd und Leben hindernd, zwischen Gut und Böse.

Jesus weiß: Der Weg in die Gottesnähe ist manchmal richtig anstrengend. Die Wege der Bequemlichkeit und des Eigennutzes gehen sich viel, viel leichter. Auf den Weg der Nächstenliebe und der Gottesliebe musst du immer wieder zurückgeführt werden, du musst dorthin immer wieder umkehren. Und deshalb sollst du nicht in gebeugter Büßerhaltung deiner Wege schleichen, sondern aufrecht und aufmerksam unterwegs sein. Einsicht kommt von „sehen“. Und sehen kannst du nur, wenn du den Blick in die Weite und in deine Umwelt schweifen lässt. An anderer Stelle bringt Jesus das sehr plastisch auf den Punkt. Im Gleichnis vom Pharisäer und dem Zöllner kommt er – pro Zöllner – zu dem Schluss: „Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener“ (Lk. 18,14a). Der Gottferne, der seine Distanz erkannt und in Worte gefasst hat, wird nicht gerichtet, sondern aufgerichtet. Er sieht ein und er sieht.

Nur wenn wir aufrecht stehen und aufrecht gehen, können wir wahrnehmen, wo es passt und wo es fehlt. Bei uns selbst, bei den anderen, in der Schöpfung, die uns gemeinsam anvertraut ist. In unserer Gottesbeziehung.

Ich bin überzeugt: das ist die Haltung, die Jesus sich für uns und von uns wünscht: eine fröhliche, aufrechte und ehrliche Beziehung zu Gott und den Menschen. Barmherzig und behutsam. Fehler-ernst und fehler-freundlich. Selbstkritisch und einsichtsbereit. Geleitet von der Goldenen Regel – oder meinethalben gern auch vom Kategorischen Imperativ des alten Kant.

Fehler machen wir immer wieder. Wir werden immer wieder schuldig an uns selbst, an einander, an denen, die mit uns in Gottes Schöpfung unterwegs oder einfach vorhanden sind. Und so auch immer an Gott. Gut, wenn wir das erkennen. Gut, wenn uns das vor Augen gebracht wird. Und gut, wenn wir einander und vor allem Gott versprechen: „Ich will es besser machen.“

„Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um!“ Das ist nicht Eia popeia, sondern ein gutes Stück solider Arbeit. Und nicht nur am Buß- und Bettag, sondern jeden Tag neu. Es gibt viele Anfänge dazu. Fangen wir also an – gleich heute!

Amen.

Dekan Uland Spahlinger, Dinkelsbühl

uland.spahlinger@elkb.de

Seit Mai 2014 bin ich sehr gern Pfarrer und Dekan in Dinkelsbühl. Ich erlebe aber in den letzten Monaten, wie nicht nur freundliches Selbstbewusstsein und Gastfreundschaft die Region prägt, sondern immer wieder auch kleinliche, rückwärtsgewandte Moral und Richtgeist durchschlagen. Dazu kommt verstärkt eine fordernde und auf vermeintlich kategorischen Rechten beharrende Grundhaltung, die es manchmal verunmöglicht, in schwierigen und kaum zu durchdringenden Gemengelagen noch zum ergebnisorientierten Diskurs zu gelangen. Dies zum Hintergrund für diese Predigt.

[1] In https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorischer_Imperativ

[2] Ebd.

[3] Vgl. „Gott gab uns Atem, damit wir leben“, EG 432, 1. Strophe

[4] Vgl. https://www.evangelische-liturgie.de/EL_Wochen/Reihe-III/21-11-17-Buss(III)a.html, Aufruf und Besinnung

[5] Siehe etwa https://www.vivat.de/magazin/jahreskreis/weitere-gedenk-und-feiertage/buss-und-bettag-bedeutung/

[6] Wrege, Wirkungsgeschichte des Evangeliums, Göttingen 1981, S. 269

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