Matthäus 9,35-10,5a

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Matthäus 9,35-10,5a

 

Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


 

1. Sonntag nach Trinitatis
mit Diamantener Konfirmation, 17. Juni 2001
Predigt über Matthäus 9,35-10,5a, verfaßt von Wolfgang
Petrak


Liebe Gemeinde, vor allem liebe Diamantene Konfirmandinnen und Konfirmanden,

Da ist nun unser Herr in die Städte und Dörfer gegangen,
um die Menschen in ihrem Leben aufzusuchen und anzusprechen, denn die
Welt Gottes will hineingehen in unsere Zeit. Dazu braucht es Menschen,
die dieses weitertragen. Sollten wir da nicht auch hineingehen in unsere
Zeit, aufsuchen, was gewesen ist, und ansprechen, was sein soll, zumal
an diesem Tag?

Da machen sich die Gedanken auf. Damals, vor 60 Jahren. Weende.Wie
ein Bild wird euch eure Konfirmation vor Augen stehen. Ich stelle mir
es vor: Eher ernst als fröhlich dreinschauende Junges, das Haar
zumeist kurz und knapp gescheitelt, die Mädchen mit einem angedeutetem
Lächeln. Und in der Mitte, würdig mit hohem steifen Kragen
und gut gestärktem Bäffchen, euer Konfirmator, Pastor Krohn.
Der Fotograf Schulte hatte kurz zuvor noch etwas gesagt, und dann…
ja dann ist aus dem Bild nichts geworden, vielleicht, weil das Filmmaterial
in dieser Zeit schon so schlecht war. Oder weil es irgendeinen anderen
Fehler gegeben hatte. Sicher, es wäre so wichtig gewesen, ein Foto
in den Händen gehabt zu haben, das man hätte weitergeben können
und an dem sich die Erinnerung entfaltet: sieh, das ist doch der…Und
da ist sie. Doch du weißt auch so noch um die Namen, auch derer,
die gegangen sind, hast im Gedächtnis auch die, die nicht zurück
gekommen sind aus diesem Krieg. Du weißt genau um jene Zeit, die
für Jugendliche eigentlich fröhlichen , gewissen Aufbruch
bedeutet, ihr aber, eure Eltern: ihr musstet euch den Konfirmationsanzug
per Bezugsschein besorgen, und vielleicht hatte die Nachbarin noch Samtstoff,
um daraus ein Konfirmationskleid zu nähen; es ließe sich
auf keinem Foto der Welt festhalten, wie irgendwie alles ging, und natürlich
wurde gefeiert, und am nächsten Tag seid ihr mit Pastor Krohn hinaufgezogen
nach Nikolausberg, dort gab es dann Brause, und wieder stellen sich
Bilder ein, wie die Jungens unterwegs Knepe machten und nach den Mädchen
schielten und die Mädchen keine Knepe machten, aber ihrerseits
nach den Jungens schielten, und der Pastor ging mit sicherem Schritt
voran. „Ein Pastor geht durch seine Gemeinde zu Fuß“
, hatte Pastor Krohn jenen Männern in den langen Ledermänteln
gesagt, als sie ihn zum Verhör bringen wollten. Und so war er durch
das Dorf gegangen, gefolgt von dem Wagen der Gestapo.

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ hat unser Herr
gesagt. So ist das Gehen der Ausdruck der Wahrheit, so geht der Herr
in die Städte und Dörfer, um zu heilen und zu helfen, um die
Wahrheit zu sagen und die Freiheit des Lebens zu bringen. Du kannst
dir die Bilder ausmalen, wie die Menschen darauf gewartet haben hinter
ihren verschlossenen Türen, im beengten abgedunkelten Raum, mehrere
Generationen zusammen. Wie sich die Bilder, die Zeiten überlagern.
Wie aus tiefstem Herzen heraus „Gott sei Dank“ gesagt wird
.Wie gleich daneben dieses „Warum?“ steht, wie in einem dunklen
und abgeschlossenen Raum, und niemand soll dran rühren.

Und du weißt auch, wie es weiter gegangen ist, mit dir und den
anderen. Wie ihr zurückgehrt seid, siebzehnjährig oder auch
später, eigentlich so jung, und doch so alt, denn die Bilder haben
sich eingegraben, von dem Minensuchboot und dem brennendem Bremen und
dem Himmel über Kassel, den Lazaretten und Stacheldrahtverhauen.
Irgendwann hörtest du auch von den anderen und von denen, die nicht
wiedergekommen waren: Beschuss der Straßenbahn im Ruhrgebiet,
vermisst im Osten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich als Kind
am Volksempfänger, diesem Bakalit-Radio, sonnabends vor Peter Frankenfeld
die Suchmeldungen des DRK hörte und froh darüber war, dass
der Vater zu Haus war und dass er die Schlager, die nach den Meldungen
kommen würden, mitpfeifen würde: „Die süßesten
Früchte essen nur die großen Tiere…Bin nur ein Jonny“.
Angst hatte ich insgeheim vor unserer Nachbarin, die in einem Zimmer
neben unserer Stube wohnte. Die Mutter hatte erklärt: „Sie
ist eine Kriegerwitwe und trägt Schwarz“. Wie zerrissen diese
Zeit gewesen ist!
Wie nah rastloser Aufbruch und jäher Abgrund waren! Menschen, zerstreut
und vertrieben, hungernd und voller Lebenserwartung, den Blick nach
vorn richtend. Ja, es ging um Ziele und um Arbeit und Aufbau. Und abends
wurde am Klostergut, versehen mit einem Heiß- oder Kaltgetränk
zur singenden Säge und Akkordeon getanzt, während Bier und
Band zunächst nur den Tommies vorbehalten waren. Gesungen wurde
auch. Vielleicht in der einen Jugendgruppe: „Jesu geh voran“.
Und in der anderen: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“.
Gedacht wurde dabei wahrscheinlich das Gleiche: hoffentlich geht es
aufwärts.

Und der Herr ging umher in alle Dörfer und Städte, und da
er das Volk sah, jammerte ihn desselben, denn sie waren verschmachtet
und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben: ja, das Reich
Gottes kommt mit Orientierung und Aufbau. Erinnerst du dich, an die
Zeiten und an den Konfirmandenunterricht? Jesus nennt Namen, Wenn man
ganz oben anfängt, kennt man die auch nocht: Petrus und Andreas,
Johannes und auch Jakobus, aber wer ist Thaddäus und die anderen?
Wie man ja auch heute noch von Adenauer und Kurt Schumacher spricht,
von Heuß und Dehler, vielleicht auch von Hermann Ehlers oder Otto
Dibelius einerseits und Martin Niemöller andererseits, aber sicher
auch von Gustav Heinmann, der sein christliches Gewissen über die
politische Karriere gestellt hatte. Wenn man heute die Namen von damals
nennt, dann um zugleich leicht skeptisch anzudeuten, wie sehr heute
die großen Namen fehlen,- aber es ist doch so gewesen, dass ihr
alle damals, so zerrissen und so niedergeschlagen ihr auch gewesen seid,
doch vom Willen zum Neuanfang getragen worden seid, zwar kämpferisch
unterschiedlich in den Ansichten, doch vereint in dem Wissen, dass wir
Ziele für unser Leben und unsere Arbeit brauchen. Und das es von
außen gesehen Unbekannte sind, die dieses weitergegeben haben.
Was wären wir ohne unsere Eltern. Was würden wir denken, ohne
die, die uns unterrichtet und mit denen wir uns auseinandergesetzt haben.
Wo würden wir heute ohne den Rat und die Hilfe der Freunde und
Nachbarn stehen? Nach den Zeiten gefragt und was sie darin getragen
hätte, sagte mir eine von euch hatte mir ihren Konfirmationsspruch.
Den wollte ich eigentlich gar nicht wissen, weil man heute als Pastor
danach nicht fragt. Doch sie musste es einfach sagen. Denn das Wort
ist wichtig. als Grund und Ziel: „Fürchte dich nicht, glaube
nur“. Daran kann man das Leben ausrichten. Es ist ja nicht so,
sagte sie, dass alles Gold ist was glänzt; und dass das Leben auch
seine Tiefen hat, die Werte der Fünfziger und Sechziger: Geld,
Gesundheit und Schönheit: alles viel zu flach. Allein der Glaube.
Man muss ja kein Kirchgänger sein…

Ach ja? Aber der Herr geht in die Städte und Dörfer und sieht
was los ist und was den Menschen fehlt. Und er sendet Bekannte und Unbekannte
in die Welt. Weil es die Jünger sind, haben sie bei ihm gelernt,
was zu tun und zu hoffen ist. Jesus, Joshua, Gott sieht , wie niedergeschlagen,
wie zerrissen und orientierungslos die Menschen sind. Und es jammert
ihn, ja es rührt ihn zutiefst. Die Menschen, die von ihm gesandt
sind zu heilen und zu helfen: wir werden damit anfangen müssen,
die Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit an uns herankommen lassen
müssen. So wie der Tag gestern (in Göttingen vielleicht) gewesen
ist, liegen uns Kritik und Abgrenzung, der Ruf nach verbindlichen Werten
und ihrer Durchsetzung nahe. Die Sendung der Christen in die Welt fängt
jedoch mit dem Erbarmen an. Ob wir es schaffen können, uns von
den Jüngeren zutiefst anrühren zu lassen, auf sie zuzugehen,
obwohl sie nicht viel wissen von den Zeiten und Namen, der Arbeit und
dem Glauben, die euch geprägt haben? Wie es mit unserer Zeit weitergeht,
ist offen. Es bleibt die Bitte, dass Menschen, bekannte, unbekannte,
in diese Welt gesendet werden, die eines `rüberbringen in diese
Zeit: die Liebe Gottes, die höher ist als alle Vernunft, bewahrt
allein Herz und Sinn.

 

 

 

P. Wolfgang Petrak
St.Petri Göttingen-Weende
Schlagenweg 8a
37077 Göttingen, den 14.Juni 01
Tel: 31838
e-mail: W.Petrak@gmx.de

 

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