Matthäus 9,9-12

Matthäus 9,9-12

Gesegnete Herzerweiterung | Septuagesimä |05.02.2023 | Mt 9,9-12 | Eberhard Busch |

Während des zweiten Weltkriegs gab es in der Schweiz einen eigenen Flüchtlingspfarrer. Paul Vogt hieß er. Er hatte die Aufgabe, sich für die vielen Vertriebenen einzusetzen, die im Nachbarland nicht mehr leben konnten. Das passte auch Einflussreichen in der Schweiz gar nicht. Genauer gesagt, man unterschied hier zwischen willkommenen Asylanten und unerwünschten, denen man die Aufnahme verweigerte. Dem widerstand Paul Vogt. Er stand für eine „gesegnete Herzerweiterung“, wie er das nannte: In ihr bekommen auch “viele liebe, liebe Mitmenschen, auch viele liebe, liebe Mühselige und Beladene, Platz im Herzen,“ sagte er. „Sie stehen nicht mehr nur vor mir oder unter mir, sondern in mir. In der gesegneten Herzerweiterung begegnen wir einander, grüßen einander, teilen miteinander Freude und Leid.“ Paul Vogt hat das von Jesus gelernt.

Denn hier sehen wir den, von dem unser Bibeltext handelt. Es ist der, in dessen Herzen „viele liebe, liebe Mühselige und Beladene“ Platz haben. Er liebt sie. Er ist der bahnbrechende Vorläufer in Sachen einer „gesegneten Herzerweiterung“. Sein Herz ist so weit, dass er sie sieht, gerade sie, die Unerwünschten. Wenn wir sie sehen, so schauen wir lieber weg. Die haben nicht so leicht Platz in unserem Herzen. Er sieht sie. So wie vor Jahrhunderten Christoph Kolumbus eine Entdeckung machte: Jenseits des großen Meeres sind auch noch Andere, die anders aussehen, die andere Sitten haben, die religiös anders beheimatet sind – aber sie sind Menschen grad wie wir. So entdeckt Jesus Leute, die anders sind, solche, die außerhalb der hergebrachten Regeln leben: Outlaws, was wörtlich heißt: Menschen draußen und nicht innerhalb der gewohnten Maßstäbe.

Warum geht Jesus ausgerechnet zu ihnen? Sind sie so attraktiv? Merkwürdig, er geht zu ihnen,  weil sie keineswegs Vorzüge haben. Nichts, womit sie sich bei den Alteingesessenen beliebt machen könnten. Für die gehören sie einfach nicht dazu. Sie sind ausgeschlossen, aus ihren geschlossenen Kreisen. Ist das Gottes Wille? Jesus sagt Nein! Haben die Einheimischen es denn übersehen, dass nach dem Propheten Jesaja (42,6) das Volk Israel berufen ist zum „Bundesmittler unter den Völkern“? Offenbar haben die das vergessen. Und so stehen diese Outlaws bei ihnen vor einer geschlossenen Tür. Mit dem Titel des aufwühlenden Bühnenstücks von Wolfgang Borchert zu reden: „Draußen vor der Tür“. In unserer Nähe, aber draußen. Da befinden sich solche, die anders sind. Sie sind auch krank: Bedürftige, die Heilung, Verständnis, Beistand benötigen. Sie sind auch solche, die Vergebung brauchen, Entzweite, die auf Versöhnung angewiesen sind.

Die sieht er. Und er sieht sie nicht nur. Er geht zu ihnen, denen wir lieber aus dem Weg gehen. Wir sagen: Gleich und gleich gesellt sich gern. Aber wie ist es mit den Ungleichen? Er gesellt sich ihnen zu.  Warum macht er das? Weil er sie ins Herz geschlossen hat. Wir könnten auch sagen: er missioniert sie. Er tut das im wahren Sinn von Mission. Er tut das als ein Gesandter, von Gott gesandt, um sich für diese Anderen einzusetzen, um für sie Zeit zu haben, um bei ihnen einzukehren. Denn was macht er in seiner Mission? Er setzt sich mit ihnen an einen Tisch. Er isst und trinkt mit ihnen.  Er tut es in Verbundenheit, in Solidarität mit ihnen. Er stellt damit klar, unsere Grenzen sind nicht Gottes Grenzen.  Er geht zu den Fremden, und die Fremden rücken in seine Nähe.

Jesus will uns dies jedoch nicht als ein Solist vorführen. Er will uns dabei haben, nicht als Zuschauer. Er möchte, dass wir uns beteiligen. Ihm liegt daran, dass wir ihm darin folgen. so, wie der Flüchtlingspfarrer Paul Vogt das von ihm lernen wollte. Aber da sind nun Menschen, die Vorbehalte haben. Die haben Bedenken, dass Jesus sich jetzt nicht an die vorgeschriebene Ordnung hält. Unser Text nennt diese Bedenkenträger mit dem alten Wort:Pharisäer. Gemeint sind damit Menschen, die dafür Sorge tragen, dass alles hübsch ordentlich vonstatten geht, so wie gewohnt. Es geht ihnen darum, dass bei den jeweils unternommenen Maßnahmen Gepflogenheiten eingehalten werden. Sie tuscheln hinter dem Rücken dessen, den das angeht: Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder das anstellt, was ihn gut und richtig dünkt! Gibt es nicht unantastbare Regeln? und die markieren Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen? Diese Aufpasser legen Wert darauf, dass sie es doch nur recht meinen, wenn sie jetzt vor Gefahren schützen..

Kommt uns das nicht bekannt vor? Da werden in jüngster Zeit Zäune errichtet. Und man kennt Tricks und Schliche, wie man das Asylrecht umgehen kann, was doch nach der Charta der Vereinten Nationen ein elementares Grundrecht ist. Man kann zwar Ausnahmen machen bei denen, die uns gelegen kommen. Doch „Ausnahmen bestätigen die Regel“. Und die Regel sind solche Abwehr-Maßnahmen wie die zwischen den USA und Mexiko, wie die zwischen Europa und Afrika. Wir können wohl derartige Zäune überwinden. Ist es nicht seltsam, dass das heutzutage zusammengeht: das Pochen auf sichere Grenzen und das grenzenlose Reisen mit dem Luxusdampfer in die weite Welt. Wir gehen in die Ferne, aber die Ferne soll nicht zu uns kommen. Ist es etwa so?

Jesus hält sich nicht linientreu daran. Er gerät dadurch in Spannung mit den Leuten. Eben die Pharisäer. Er ist nicht gegen sie. Er will auch sie nicht verdrießen. Er will auch ihnen Gutes tun. Er will sie heilen von einer kranken Einstellung. Denn diese so genannten Gesunden sind auch krank. Es geht ihm um ihre Herzerweiterung. Der Genfer Reformator Calvin schrieb über unsere Beziehung zu den Fremden: Nein, „wir können es nicht schaffen, dass sie uns etwa nicht Nächste sind“, bemerkte er. Das klappt nicht. Aber können wir uns nicht wenigstens so verhalten, als ob die Fremden nicht unsere Nächsten wären? Mit solcher Überlegung folgen diese Mitmenschen nicht Jesus, und entziehen sie sich ihm, sie, mit denen er es zu tun hat. Aber sie denken: Lieber von ihm absehen als von unsren ehernen Grundsätzen, die festgemauert in der Erde stehen. Man kann ja sein Kreuz wegstellen, man kann auch religiös sein, ohne auf ihn zu hören, murmeln sie vor sich hin.

Vorderhand gehen sie nicht mit ihm. Doch er gerät dadurch nicht in Verlegenheit. Folgen nicht sie ihm, so findet er Andere, die ihm folgen. Gott kann sich notfalls auch aus Steinen Kinder erwecken, hat er ein andres Mal gesagt (Lukas 3,8). Denn er will auf keinen Fall allein seinen Weg gehen. Die zuerst Angesprochenen sind enttäuschend. Er bleibt dabei, er möchte Menschen mit dabei haben bei der „gesegneten Herzerweiterung“, von der der Schweizer Flüchtlingspfarrer geredet hat. Das geht so zu: Jesus sieht einen Zollbeamten. Selbst wenn der seine Arbeit ordentlich verrichtet, man kann mit ihm keinen Staat machen. Er ist unbeliebt, ein Draußenstehender, ein Verrufener, ein Kollaborateur. Einer von denen, die der verhassten Fremdherrschaft zuarbeiten, einer, der sich dadurch eine goldene Nase verdient, ohne angemessen Steuern zu zahlen. Wer beschmutzt sich schon gern seine Hände mit so einem!

Jesus geht zu ihm. Er spricht ihn an. Geh mit mir. Er sorgt sich nicht, dass er sich mit so einem selbst verschmutzen könnte. Und er fackelt nicht lange, fragt nicht: willst du dir das einmal näher überlegen, ob du eventeull ein bisschen Zeit hast? Er fragt ihn nicht einmal, ob der sein Fehlverhalten bereut. Sondern einfach: Komm mit! Ich brauche dich. Komm! Da geht es zu wie in der Schöpfungs-Geschichte: Und Gott sprach: „Es werde Licht, und es wurde hell.“ Und Jesus sprach zu Matthäus: „Folge mir!, und er stand auf und folgte ihm.“ Und indem er das tut, lässt er das Alte hinter sich und fängt ein neues Leben an. Er ist geheilt von seiner Verkehrtheit. Und so ist Platz geschaffen für einen Auszug aus seinen bisherigen Machenschaften – Platz für seinen Gang oder sein Hinterherstolpern in den Spuren Jesu. Bekehrung heißt Berufung.

Und wohin führt sein Weg, hinter dem Heiland her? Der Weg führt zuerst dahin, wo jener Zöllner namens Matthäus herkommt. Da sind ja noch weitere Gestalten von der Art des Matthäus, „Zöllner und Sünder“, werden sie genannt. Auf sie lässt sich Jesus ein. Mit ihnen verkehrt er.  So, dass er mit ihnen zusammenrückt. In Solidarität, das heißt  in Geschwisterlichkerit. Von der aus Nicaragua stammenden Dichterin Gioconda Belli stammt der Satz, der klingt wie aus dem Mund einer verborgenen Jüngerin Jesu: „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.“ Es gibt solche Jüngerinnen Jesu. Sie lehren uns, dass die von Jesus geleitete Bewegung weiter und weiter geht, wie die Wellen auf dem Wasser. Sie erreichte Paul Vogt mit seinem Wort von der gesegneten Herzenserweiterung. Hat sie nicht auch die Demonstrantinnen erreicht, die im Iran gegen Gewalt und Unrecht aufstanden: „Frau – Leben – Freiheit“? Und sie erreicht heute auch uns. —

Zuletzt die Frage: Was wird jetzt aus jenen Pharisäern? Indem Jesus bei denen ist, die sie von sich fernhalten, kehren sich da die Verhältnisse nicht auf einmal um? Indem er drinnen bei den Draußen-Stehenden ist, stehen damit jene Bedenkenträger nicht draußen, „draußen vor der Tür“?  Vollzieht sich damit  nicht das, was Jesus auch sagt: „Letzte werden Erste sein und Erste Letzte“ ? (Matth. 20, 16) Aber was nun, fragen wir weiter: was nun, wenn die Ersten Letzte geworden sind? Haben diese neuen Letzten noch eine Hoffnung? Halten wir uns daran: Was Er den einen gibt, damit zerstört er nicht  die Zukunft der anderen! Und was die Pharisäer den Zöllnern und Sündern vorenthalten, davon leben im Grunde auch sie, leben beide, leben von dem, worin er uns vorausgeht, mit dem einen Gotteswort zu reden, das Jesus aus dem Propheten Hosea anführt (6,6): “Ich will Barmherzigkeit.“

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