Matthäus 9:9-13

Matthäus 9:9-13

Septuagesimä, 04.02.2007

Predigt zu Matthäus 9:9-13, verfasst von Hans Uwe Hüllweg


Liebe Gemeinde,

ein ehrenwerter Beruf – Zöllner und Zöllnerin heute. Der Zoll kontrolliert den Warenverkehr über die Außengrenzen. Der Zoll geht im Innern gegen Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung vor. Der Zoll will Schmuggel verhindern beispielsweise von Drogen, Zigaretten oder geschützten Tieren. Wer wollte bestreiten, dass dieser Beruf notwendig ist?

Doch die Zollbeamten genießen auch heute nicht überall hohes Ansehen – den Ganoven sowieso nicht, die sich in den entsprechenden kriminellen Bereichen tummeln, aber vielfach auch nicht bei normalen, weitgehend unbescholtenen Bürgern. Vielleicht deshalb, weil Schmuggel immer als eine Art Kavaliersdelikt gilt oder weil vielen einfach jedwede amtliche Kontrolle überhaupt zuwider ist.

Damals – im Judentum zur Zeit Jesu – war das genauso, nein, viel schlimmer: Die Zöllner galten in jenen Zeiten als das Letzte auf der gesellschaftlichen Stufenleiter; sie rangierten wahrscheinlich noch hinter den Hirten. Der immer schon geldhungrige Staat hatte ein äußerst effektives Steuer- und Zollsystem aufgebaut, das bis in den letzten Winkel des Römischen Imperiums reichte. Der Staat schloss Verträge mit einheimischen Großunternehmern, die eine bestimmte hohe Summe abzuliefern hatten. Diese verkauften den Zoll wieder an kleinere Pächter. An Brücken,Stadttoren, Straßen-kreuzungen und Märkten saßen sie und kassierten ab. Das funktionierte als ein äußerst effektives System, eine Art Gelddruckmaschine; denn reisen mussten alle mal, und jede Menge Handelswaren rollten über das gute ausgebaute römische Straßensystem.

Den frommen Juden waren die Zöllner verhasst. Zum einen natürlich, weil niemand gern zahlt, noch dazu nach recht willkürlichen Tarifen, oft überhöht; denn die Zöllner mussten und wollten ja selbst auch verdienen. Doch das wäre vielleicht noch zu verschmerzen gewesen.

Was aber vor allem den heiligen Zorn der Gerechten erregte, war etwas anderes. Die Zöllner kollaborierten mit den Römern, den Ungläubigen, den Heiden, also den Feinden Jahwes und Israels. Damit waren sie nach den Gesetzen Gottes unrein, und zwar nicht aus Versehen oder durch die Ungunst der Verhältnisse, sondern mit vollem Willen und aus kalter Berechnung. Damit hatten sie sich alles Verständnis verscherzt.

So einen „sieht“ Jesus. Die Formulierung des Matthäus ist wohl nicht zufällig, sondern offenbar bewusst gewählt: „Jesus sah einen Menschen“. Er sieht ihn nicht nur so zufällig, wie sich bei uns allen, wenn wir durch die Stadt gehen, Menschen und Gegenstände zwangsläufig auf der Netzhaut unseres Auges abbilden, sondern Jesus sieht tiefer.

Er sieht etwas in diesem Menschen. In ihm sieht er nicht den verhassten Geldeintreiber, nicht den Kollaborateur mit den Heiden, nicht den aus dem Gottesvolk Ausgestoßenen, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern den Menschen; einen Menschen, der seine Geschichte mit sich trägt, einen Menschen aus Fleisch und Blut mit seinen Sorgen und Freuden, der einen Namen hat, Matthäus, seine Unverwechselbarkeit, seine Individualität – auch ihn hat Gott bei seinem Namen gerufen. (Jes 43,1)

Hellsichtig schaut Jesus diesem Menschen ins Herz. Der kann sich die Welt, in der er leben muss, auch nicht unbedingt aussuchen. Ist denn den Lebensunterhalt zu verdienen ein Verbrechen? Sicher, er hat sich an dieses in den Augen der Frommen böse und verhasste System verkauft; aber das garantiert ihm wenigstens sein Auskommen, wenn auch um den Preis von Isolation und Ablehnung durch die „Gerechten“, die vor ihm ausspucken.

Jesus sieht ihn, und nicht nur das, er sieht ihn an und spricht zu ihm. Blickkontakt statt verächtliches Wegdrehen des Kopfes; Kontaktaufnahme statt Zurückweisung; Ansprache statt Ausspucken – Jesus durchbricht die althergebrachte Ordnung, in der der Sünder und der Gerechte ihren unverrückbaren Platz haben. Darin verhält sich bisher jeder so, dass das Ganze stabil bleibt. Der Sünder hat keine Chance, aus seinem Sumpf herauszukommen. Und der Gerechte hat keine Chance, aus seinem betonummauerten Weltbild herauszufinden. Jesus dagegen geht auf den Sünder zu. Er nimmt wahr die Armut der Seele hinter dem Reichtum in den Händen.

Wenn jemand meint, das wäre hier eine Begebenheit nach dem Motto „Seid nett zueinander“, und man könne dann zur Tagesordnung übergehen, der irrt sich. Dieses Ansehen Jesu, dieses Ansehen des Zöllners, dieses neue Ansehen, das der Zöllner bei Gott hat, bleibt nicht ohne Folgen. „Folge mir“, spricht Jesus zu ihm. Nicht „Besser dich!“, nicht „Bekenne erst mal deine Sünden“, nicht „Du bist ein schlechter Mensch“ oder „Kannst du nicht mal eine Therapie machen?“, nein, schlicht und ergreifend „Folge mir“. Ausgerechnet zu so einem!

Und diese drei Worte haben, wie gesagt, Folgen. Du sollst zu mir gehören, sagt Jesus. Gott will dich, so wie du jetzt bist. Das heißt nicht, dass aus dir nicht ein anderer wird. Aber du musst nicht erst eine Aufnahmeprüfung machen, musst nicht erst aus eigener Kraft deine Sünde ablegen, musst keine Vorbedingungen erfüllen. Komm, wie du bist. Merke: Es gibt keine Vorgeschichte eines Menschen, und sei sie auch noch so schuldverstrickt, noch so abgründig, noch so abscheulich, dass sie nicht durch Jesus Christus eine neue, überraschende Wendung zum Besseren nehmen könnte.

Wir kennen die Geschichte, daher überrascht sie uns nicht mehr, wenn es nun vom Zöllner in äußerster Kürze heißt: „Und er stand auf.“ Keine Verzögerung, keine Bedenkzeit, kein Überlegen. „Und er stand auf.“ Sollte es Bedenken gegeben haben, dann lässt der Evangelist Matthäus, ob zufällig gleichen Namens oder nicht, sie einfach weg. Er will vielleicht gerade modellhaft schildern: Wenn du Jesus begegnest, dann nicht lange fackeln!

Es hat nun plötzlich eine Entwicklung begonnen, die sich in drei einfache merkbare Worte fassen lässt:

Aufstehen – Nachfolgen – Feiern.

Matthäus hört den Ruf Jesu und steht auf. Er lässt den Zoll Zoll sein, er lässt sein altes Leben dort an der Schranke zurück. Aufstehen. Und er macht sich mit Jesus auf den Weg. Aufstehen. Nachfolgen.

Wie sieht dieses Nachfolgen aus? Ein Eremitendasein ist es offenbar nicht. Ein mönchisches Leben auch nicht. Ein Zurückziehen aus der bösen Welt? – Nein! Morgen bis abends Bibelsprüche auf den Lippen? Auch das nicht!

Damit wir uns nicht missverstehen: Gegen ein Leben als Mönch oder Nonne, meinetwegen auch als Eremit, sofern freiwillig gewählt, ist nichts einzuwenden. Auch die Bibel zu lesen und zu zitieren, kann sehr heilsam sein und sollte überhaupt zum täglichen Brot eines Christenmenschen gehören.

In dieser Geschichte jedoch wird erst einmal ein anderer Weg eingeschlagen, der Weg in die Gemeinschaft mit Jesus und mit Menschen, die mit Jesus auf dem Wege sind. Aufstehen. Nachfolgen.

Und was das Schönste ist: Dieser Weg ist kein angestrengter Marathon, kein Gewaltmarsch und keine entbehrungsreiche Tour, sondern führt schnurstracks zu einem Fest. Aufstehen. Nachfolgen. Feiern.

Eine schöne Gesellschaft war da beisammen: Zu Jesus und seinen Jüngern strömte eine recht unheilige Sippschaft – lauter Zöllner und Sünder. Es hatte sich wohl herum-gesprochen, dass bei ihm etwas zu bekommen war, was niemand sonst auf der Welt geben konnte: die Liebe Gottes, die Würde des Menschen, die Barmherzigkeit Jesu. Das musste ein Grund zum Feiern sein. Aufstehen. Nachfolgen. Feiern.

In den Augen der Gerechten war das ein zweifelhafter Weg. Was ist das für ein Mensch, der gegen die Sünde predigt, sich jedoch mit den Sündern abgibt? Macht Jesus sich nicht mit den Sündern gemein, lässt er sich nicht von dem Virus ihrer Unreinheit anstecken? Wird er nicht selbst zum verachtenswerten Sünder? Die Welt der Guten und Gerechten gerät völlig in Unordnung.

Wem das ein Dorn im Auge ist, sollte ihn sich ziehen lassen. Und so reagiert Jesus auf die Angriffe der Besserwisser recht gelassen. Er rechtfertigt sich nicht, er gibt keine langen Erklärungen ab, nennt keine religionspädagogischen Gründe für sein Verhalten. Er feiert einfach mit allen, die mit offenem Herzen kommen. Die aufstehen, die nachfolgen – sie dürfen auch feiern.

Seinen Kritikern aber, den Gerechten, den Starken, die ja ohnehin keinen Arzt brauchen, weil sie so gesund sind, schreibt er eine kurze Mahnung ins Stammbuch: „Geht hin und lernt, was Barmherzigkeit ist.“ Mit euren starren Regeln, mit euren gesetzlichen Forderungen, mit euren Opfern kann ich wenig anfangen, heißt das. Barmherzigkeit möchte ich bei euch sehen. Das fehlt euch nämlich in eurem eisernen System von Guten und Schlechten, in dem nur ihr selbst die Guten seid. Ihr seid so selbstgewiss, so selbstgerecht. Euer Kopf kennt alle Regeln und alle Traditionen. Euer Kopf kennt die Paragrafen des Gesetzes Gottes, wo die Zöllner und Sünder einzuordnen sind. Wo aber ist euer Herz?

Wo ist unser Platz in dieser Geschichte? Bei den Guten und Gerechten? Bei den Selbst-Gerechten, die herabschauen auf die andern, auf die Kirchenfernen, auf die weniger Frommen, auf die Menschen, die sich anderweitig bedienen im religiösen Supermarkt? Lassen sie uns nicht vergessen, dass Jesus zu den Guten und Gerechten den gewiss befremdlichen Satz sagt: Für euch bin ich nicht gekommen. Ihr braucht mich nicht.

Die andern aber, die wissen, dass sie „allzumal Sünder“ sind, wie der andere Zöllner da im Tempel oder wie Martin Luther höchstpersönlich, zu denen sagt Jesus: „Folge mir!“ Und dann gibt es nur noch eins:

Aufstehen – Nachfolgen – Feiern.

Amen.


Hans Uwe Hüllweg
huh@citykom.net

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